1914-1918: Kollektive Erinnerungslücke Ostfront

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wird von der Westfront dominiert. "Die Ostfront ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden“, stellte der Historiker Wolfram Dornik bei einer Konferenz über den „Großen Krieg“ in Krems fest.

Schwere Artillerie, tödlicher Stillstand in französischen Grabenkämpfen und Heldentaten bei den Isonzo-Schlachten: Wer über den Ersten Weltkrieg spricht, denkt vor allem an die Westfront. Und das, obwohl ein Großteil der österreichisch-ungarischen Truppen an der Ostfront gegen Russland stationiert war.

Frontszene aus der Bukowina

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"Die Ostfront ist aus der öffentlichen Wahrnehmung und dem öffentlichen Diskurs verschwunden“, sagte Wolfram Dornik vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung bei der von Donnerstag bis Sonntag im Kloster Und in Krems vom Institut veranstalteten Konferenz zum Gedenken an den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs.

Dornik: „Die Ostfront war eine Front ohne Krieg“

Das liegt seiner Meinung nach vor allem an der fehlenden „Signatur“ der Front und dem fehlenden gemeinsamen Narrativ. Vor allem sei die Ostfront eine "Front ohne Krieg“ gewesen. Intensive Kampfphasen wechselten sich mit sehr langen vergleichsweise ruhigen Phasen ab. Die österreichisch-ungarischen Soldaten waren zudem nicht nur für den Kampf hier, vielfach nahmen sie in den okkupierten Gebieten die Rolle der Aufpasser und Verwalter ein. "Das war eine völlig andere Aufgabe für die Soldaten, sie mussten nicht nur verwalten und die Infrastruktur ausbauen, sondern auch die Ausbeutung der besetzen Gebiete möglichst rasch und effizient vorantreiben.“

Frontszene aus der Bukowina

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Dabei hätten sich die Soldaten, egal ob sie sich nun in eigenem oder fremdem Territorium im Osten befanden, oft als "Kulturträger“ wahrgenommen - Voraussetzung für "einen kolonialen Blick auf die eigenen Völker“, der meist von gegenseitiger Abneigung geprägt war. In Erinnerungen an die Ostfront wurde diese aufgrund der Erhalter-Tätigkeiten oftmals als die "friedliche Front“ wahrgenommen – vor allem von jenen Soldaten, die aus dem Westen kamen.

Kriegsgefangenschaft hieß Überlebenskampf

Über eine Million österreichisch-ungarischer Soldaten habe einen Großteil des Krieges zudem ebenfalls nicht im Kampf, sondern in Kriegsgefangenschaft verbracht. "Das Leben dort bestand aus Warten, Krankheit und Hunger und war gerade in den ersten Jahren oftmals ein Überlebenskampf, da sich keine der Krieg führenden Mächte auf die Versorgung von Gefangenen vorbereitet hatte“, schilderte der Historiker. Vertreibungen, Deportationen oder Verpflichtung zur Zwangsarbeit waren ebenso Teil der Okkupationsstrategien wie der bewusste Einsatz von Angehörigen der gleichen Sprach- und Volksgruppen gegeneinander.

Kompanie, Erster Weltkrieg, unbekannte Herkunft

Archiv des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung

Dornik beschrieb die Ostfront zudem als "Front ohne Signatur“; im Gegensatz zur Westfront fehlte der klare militärische Verlauf. "Teilweise verschob sich die Front um mehrere hundert Kilometer“, berichtete der Historiker. Vor allem in den ersten beiden Kriegsjahren gab es hier genug Spielraum für strategische Experimente der Generäle.

Die Ostfront, eine Front ohne Ende

Der riesige Etappenraum spielte aufgrund seiner Größe und Rohstoffe auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine besondere Rolle und wurde daher bevorzugt besetzt und ausgebeutet. Vielfach setzten sich die Okkupationsszenarien nach 1918 fort; viele Soldaten und Kriegsgefangene kehrten in nicht weniger konfliktreiche Situationen heim, wo sie etwa neue Grenzen und Nationen verteidigten. "Die Ostfront ist deshalb auch eine Front ohne Ende“, so Dornik.

Literaturhinweis: Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik (Hrsg.): Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, StudienVerlag Innsbruck, 472 Seiten, 39,90 Euro.

Vor allem fehle es aber auch an einem gemeinsamen Erzähler bzw. einem gemeinsamen Kanon. "Die Erzähler sind verschwunden“, erklärte der Historiker. An die Ostfront wollte oder durfte man sich nicht erinnern. Diese Abwesenheit wurde auch noch durch die räumlich nähere und damit präsentere Italienfront verfestigt. Ein diffuses Helden- und Heimatschutzgedenken – wie etwa an den unbekannten Soldaten – ersetzte das Gedenken an konkrete Kriegsschauplätze. "Schließlich wurde die Erinnerung gänzlich vom Zweiten Weltkrieg ergänzt oder überlagert.“

Stefan Karner: „Es ist ein vergessener Krieg“

Lange Jahre sei der Erste Weltkrieg sowohl im Bewusstsein der Gesellschaft, aber auch vielfach in der Forschung ein "vergessener Krieg“ gewesen. "Er wurde vom Zweiten Weltkrieg praktisch zugedeckt“ erklärte Stefan Karner, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, anlässlich der Konferenz "Leben mit dem ’Großen Krieg‘. Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive“ im Kremser Kloster Und. Drei Tage lang wollte man beim "wissenschaftlichen Auftakt“ zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs versuchen, die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts neu zu beleuchten“ und dabei vor allem "von der reinen Diplomatiegeschichte abkommen“, so der Grazer Historiker.

Kampfszene aus Isonzoschlacht

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"Die globale Funktion des Ersten Weltkriegs wurde oft heruntergespielt“, erklärte Daniel Marc Segesser, Historiker an der Universität Bern, im Eröffnungsvortrag. In der jüngsten Geschichtsforschung habe sich dieses Bild zwar geändert, "der Erste Weltkrieg war jedoch schon lange vor dem Eintritt der USA ein globaler Krieg“, so Segesser. Denn mit Japan oder der Türkei, denen später auch China und Siam folgten, habe es schon 1914 wichtige globale Teilnehmer gegeben.

„Der Erste Weltkrieg war der erste Weltkrieg“

Zum ersten Mal beteiligten sich europäische und außereuropäische Mächte maßgeblich eigenständig in einem Großkonflikt. "Insofern ist der Erste Weltkrieg tatsächlich auch als erster Weltkrieg zu verstehen“, führte der Historiker aus. Erst durch die Logistik- und Kommunikationsmöglichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts sei dieses eigenständige Eingreifen möglich geworden.

Frontszene aus der Bukowina

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So kämpften etwa auf britischer Seite auch Soldaten aus den damaligen Kolonien des Empires, also unter anderem kanadische, südafrikanische oder indische Truppen. "In Indien beispielsweise war die Zustimmung zum Krieg sogar bei den Briten kritisch gesinnten Bevölkerungsteilen groß.“ Mit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 griff zudem erstmals eine außereuropäische Macht entscheidend in einen europäischen Konflikt ein.

Totale Kriegsziele, totale Methoden, totale Kontrolle

Zudem weise der Erste Weltkrieg auch Merkmale eines "totalen“ Krieges auf – auch wenn dieser Begriff im deutschsprachigen Raum seit dem Zweiten Weltkrieg kaum verwendet werde. "Aber gerade im Verlauf der Kriegsjahre ist es zu einer immer radikaleren Mobilisierung und auch Kriegsführung gekommen“, meinte Segesser. Die kriegführenden Mächte versuchten sich in "totalen Kriegszielen, totalen Methoden, totaler Mobilisierung und totaler Kontrolle.“

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