Michael Haneke: „Die Wirklichkeit gibt es nicht“

Michael Haneke, Preisträger des GLOBART-Awards 2016, drückte seine Freude über die Auszeichnung unter Verweis auf „eine beeindruckende Liste an Preisträgern“ aus. Mit noe.ORF.at sprach der Regisseur über Wahrheit und Wirklichkeit.

Den GLOBART-Award erhielten für ihr künstlerisches und gesellschaftliches Engagement bisher u.a. Yehudi Menuhin, Riccardo Muti, Vaclav Havel, Hans Küng, Freda Meissner-Blau, Ernesto Cardenal sowie im Vorjahr Tino Sehgal.

Die GLOBART Academy 2016 findet noch bis Sonntag im Kloster Und in Krems statt und widmet sich dem Thema „Wirklichkeit(en)“. Unter den Referenten sind u.a. der Trendforscher Harry Gatterer und der Historiker und Autor Philipp Blom. Über Wirklichkeiten ging es auch im Gespräch mit Michael Haneke.

Michael Haneke

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Michael Haneke: „Wir wissen nicht, was die Wirklichkeit ist“

noe.ORF.at: Herr Haneke, Sie haben einen Oscar, zwei Goldene Palmen aus Cannes, zwei Golden Globes und unzählige weitere internationale und nationale Preise für Ihre Filme bekommen. Was bedeutet der GLOBAL-Award für Sie?

Michael Haneke: Man freut sich über jeden Preis. Wir arbeiten, weil wir hoffen, dass wir Anerkennung finden. Man kann aber den einen Preis nicht mit einem anderen Preis vergleichen. Der GLOBART-Award ist kein Filmpreis, sondern mehr ein Kulturpreis. Ich kann das nicht abwägen, es gibt natürlich Preise, die für die Karriere mehr oder weniger wichtig sind, man freut sich aber über jeden Preis.

noe.ORF.at: Wo stehen denn Ihre Preise, wo wird der GLOBART-Award seinen Platz finden?

Haneke: Das weiß ich noch nicht. Die meisten Preise stehen bei der wega-Film, ein paar sind in Wien und am Land – es verteilt sich.

noe.ORF.at: In der Jury-Begründung für die Preisverleihung an Sie heißt es unter anderem: „Michael Haneke hat den atemberaubenden Blick auf das Wesentliche mit einem Hauch von Poesie. Nicht das Assoziative, sondern das Geschehen, das Reale und das Unglaubliche sind in seinen filmischen Kunstwerken sichtbar und spürbar. Intensiv, wahrhaftig und authentisch – unverrückbar: das sind die Filme von Michael Haneke.“ In der diesjährigen GLOBART Academy in Krems-Stein geht es um „Wirklichkeit(en)“. Weiß der Mensch in Zeiten der großen Medienflut eigentlich noch, was real ist, was Realität ist?

Haneke: Was real ist, spürt er, wenn er Zahnschmerzen hat. Unter Wirklichkeit kann man unterschiedliche Sachen verstehen, Ihre Wirklichkeit ist eine andere als meine. Insofern ist jeder Versuch, Wirklichkeit abzubilden, immer eine sehr zwiespältige Angelegenheit. Die Medien tun ja gerne so, als würden sie die Wirklichkeit abbilden, was natürlich nicht der Fall ist. Wenn ich mir nämlich die Wirklichkeit der Medien und meine Wirklichkeit anschaue, dann finde ich wenig Gemeinsames.

noe.ORF.at: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, „die Wirklichkeit“ abbilden zu können?

Haneke: Ich glaube, die Wirklichkeit gibt es nicht. Jeder Mensch hat seine Wirklichkeit, das ist seine Projektion auf die Welt – und das hält er dann eben für die Wirklichkeit. Das ist aber nicht die Wirklichkeit. Wir wissen nicht, was die Wirklichkeit ist.

noe.ORF.at: Wenn man sich Europa und manche Regionen in der Welt im Jahr 2016 ansieht – wie viel Wirklichkeit verträgt der Mensch? Oder blendet er irgendwann einmal aus, was er nicht sehen oder wissen möchte?

Michael Haneke erhält den GLOBART Award 2016

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Michael Haneke und sein GLOBART Award 2016

Haneke: Das ist auch die Gefahr, vor allem die Gefahr der Medien, dass wir dauernd Bilder von scheinbaren Wirklichkeiten geliefert bekommen, die uns die Illusion vermitteln, wir wüssten etwas über die Wirklichkeit, und wir halten das auch für die Wirklichkeit. Wir werden abgestumpft, gerade wenn es um Gewalt geht. Wir sind ununterbrochen mit Bildern von Gewalt konfrontiert, und die Gefahr ist natürlich, dass man nach einer gewissen Zeit sagt, es reicht oder dass man sich einfach daran gewöhnt.

noe.ORF.at: Gibt es dafür Beispiele?

Haneke: Ich erinnere mich, als damals der Jugoslawien-Krieg war. Als die ersten Bilder kamen, waren wir völlig erschüttert und fassungslos. Man ist vor dem Fernsehgerät gesessen und hat gesagt, dass das unglaublich ist. Nachdem das aber über Jahre ging, jeden Tag die gleiche „Wirklichkeit“, hat man gesagt, bitte, lasst uns in Ruh‘ damit. Das ist die Gefahr dabei, dass man einfach abstumpft und sagt, es ist halt so, kann man nichts machen… Ich halte das für ganz fatal.

Sendungshinweis

„Niederösterreich heute“, 23.9.2016

noe.ORF.at: Können Sie oder können Filme und die Kunst etwas gegen dieses Abstumpfen machen?

Haneke: Man kann versuchen, dass man die Vorläufigkeit der Wirklichkeitsabbildung durchschaubar macht. Das Illusionskino tut ja so und lässt sich auch dafür bezahlen, als würde es eine Wirklichkeit schildern. Ich glaube, wenn Film eine Kunstform ist, dann müsste sie auch sozusagen die Bedingungen ihrer Abbildung in der Arbeit mitreflektieren. Das heißt also, dem Zuschauer die Möglichkeit geben, das auch als Artefakt wahrzunehmen und nicht als eine Wirklichkeit.

noe.ORF.at: Sie erzählen mit ihren Filmen Geschichten – nachdem Sie selbst sagen, dass Sie nicht wissen, was die Wirklichkeit ist.

Haneke: Richtig, ich weiß gar nicht, was die Wirklichkeit ist. Ich kann nur Geschichten erzählen und versuchen, eine Problematik auf den Punkt zu bringen, also, eine Konstruktion erfinden, die nachzuvollziehen ist oder nachvollziehbar sein kann. Aber ich bilde mir nicht ein, Wirklichkeit abzubilden.

Das Gespräch mit Michael Haneke führte Reinhard Linke, noe.ORF.at

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