Müller: Rückzug ist „großes Warnzeichen“

Vor der Bluttat mit sechs Toten in Böheimkirchen hat es in der Familie keine Anzeichen für Probleme gegeben. „Ein großes Warnzeichen ist, wenn sich Menschen zurückziehen“, sagt Kriminalpsychologe Thomas Müller.

Müller hat in seiner Karriere bereits viele Mordfälle untersucht. In den aktuellen Fall in Böheimkirchen (Bezirk St. Pölten), in dem die Staatsanwaltschaft wegen Mordes und Selbstmordes ermittelt, ist er allerdings nicht als Sachverständiger eingebunden. „Wenn man allgemein von häuslicher Gewalt spricht, dann fällt sie in der Regel immer in eine gleichlautende Kaskade: Am Beginn steht eine schlechte, unglückliche oder gänzlich zusammengebrochene Form der Kommunikation“, sagt Müller im Interview mit noe.ORF.at.

noe.ORF.at: Was geht in einer Frau vor, die ihre Verwandten und sogar ihre Kinder erschießt?

Müller: Zunächst muss man sagen, dass jede Ferndiagnose natürlich die Tragfähigkeit von feuchtem Seidenpapier hat. Wenn man aber ganz allgemein von häuslicher Gewalt spricht, egal welche Dimension sie erreicht, dann fällt sie in der Regel immer in eine gleichlautende Kaskade. Am Beginn steht eine schlechte, unglückliche oder im unglücklichsten Fall gänzlich zusammengebrochene Form der Kommunikation: Wenn die Menschen nicht mehr kommunizieren, nicht mehr interagieren, wenn sie sich nicht mehr austauschen, keine Informationen bekommen, dann tritt ein Zustand ein, den Friedrich Schiller schon in den Räubern als einen der bohrendsten Würmer bezeichnet hat, nämlich die Ungewissheit.

Und wenn Menschen nicht wissen, wie es weitergeht, wenn sie keine Aussicht mehr haben, dann sind sie nicht mehr in der Lage ihre Stärke abzuschöpfen. Dann folgt die Angst und wenn die Angst zu lange dauert, folgt in der Regel die dritte Stufe, nämlich die Eskalation und die Aggression, die die Menschen entweder gegen sich selbst richten oder gegen andere Menschen - im schlimmsten Fall dann eben gegen beide.

Kriminalpsychologe Thomas Müller

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Kriminalpsychologe Thomas Müller

noe.ORF.at: Wie erklären Sie sich eine solche Tat, bei der eine Mutter ihre gesamte Familie auslöscht?

Müller: Die Dimension der Tat ist grundsätzlich sehr ungewöhnlich. Wenn man sich die Statistik ansieht, dann war es früher so, dass Menschen, die Schwierigkeiten im Alltag und im Beruf hatten, sich zunächst zurückgezogen und isoliert haben und daraufhin im schlimmsten Fall Suizid begangen haben. Heute richten Menschen ihre Aggression tendenziell eher nach außen, gegen ihre Mitmenschen. Oft tritt dies zu großen Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern ein. Aus Einsamkeit und Mangel an Kommunikation kann es zu solchen Situationen wie im konkreten Fall kommen.

noe.ORF.at: Bei Fällen, wo eine gesamte Familie in den Tod gerissen wird, sprechen Experten von „erweitertem Suizid“. Worauf achten Kriminalpsychologen und Ermittler dabei besonders?

Müller: Man muss sich als Kriminalpsychologe anschauen, ob die Frau im Vorfeld Anzeichen einer Krankheit hatte, oder ob sie sich in psychologischer oder psychiatrischer Betreuung befunden hat. Das hängt damit zusammen, inwieweit die mutmaßliche Täterin in die Situation hineingekommen ist, dass sie für sich sagte: "Ich kann nicht mehr, ich sehe keinen Ausweg und jetzt nehme ich die ganze Familie mit.“

noe.ORF.at: Nachbarn im Ort sprechen von einer Familie, die sehr zurückgezogen gelebt hat und unauffällig war. Kann man als Nachbar oder Angehöriger Anzeichen sehen, dass etwas nicht stimmt?

Müller: Die Anzeichen sind in der Regel dann, wenn die Menschen beginnen, sich massiv zurückzuziehen und anfangen, isoliert zu leben. Das hören wir auch oft im Nachfeld dieser Fälle. Sich zurückzuziehen und zu isolieren ist nicht unscheinbar, ganz im Gegenteil. Das ist psychologisch gesehen ein großes Warnzeichen. Ich kann nur jedem empfehlen, gerade jetzt zur Weihnachtszeit, einmal das Handy zur Seite zu legen und sich direkt mit nahestehenden Menschen zu unterhalten und mit ihnen Zeit zu verbringen. Einfache Fragen wie „Hallo, wie geht´s dir? Brauchst du irgendetwas?“ können manchmal viel verhindern.

Das Gespräch mit Thomas Müller führte Birgit Brunner, noe.ORF.at

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