Bevölkerung: Abwanderung als Chance

Die Bevölkerungsentwicklung in Niederösterreich stellt Politik und Wissenschaft immer wieder vor Herausforderungen. Manche Regionen boomen, andere kämpfen gegen die Abwanderung, die aber auch eine Chance sein kann.

noe.ORF.at hat zwei Wissenschafter zur Bevölkerungsentwicklung in Niederösterreich befragt. Peter Görgl unterrichtet am Institut für Geographie der Universität Wien Raum- und Regionalforschung und bereits für mehrere Gemeinden wie etwa St. Valentin (Bezirk Amstetten) Stadtkonzepte entwickelt.

Gottfried Haber ist als Universitätsprofessor an der Universität für Weiterbildung Krems für die Bereiche „Management im Gesundheitswesen“ sowie „Wirtschafts-, Budget- und Finanzpolitik“ verantwortlich. Er ist außerdem stellvertretender Vorsitzender des österreichischen Fiskalrates.

Görgl: „Paradigmenwechsel notwendig“

„Es ist ein großer Paradigmenwechsel notwendig“, sagt Görgl im Gespräch mit noe.ORF.at, „Wachstum ist nicht überall als Leitmotiv sinnvoll.“ Laut Haber bietet der ländliche Raum „viele Potentiale, die es in Ballungsräumen so nicht gibt“. Er verweist etwa auf das touristische Potential und sieht für dezentrale Räume „große Möglichkeiten im Gesundheits- und Wellnesstourismus“.

Peter Görgl und Gottfried Haber

ORF

Peter Görgl und Gottfried Haber (v.l.)

noe.ORF.at: Welche großen Trends lassen sich in der Bevölkerungsentwicklung in Niederösterreich erkennen?

Görgl: Im Prinzip lassen sich zwei große Trends erkennen. Auf der einen Seite haben wir um Wien oder entlang der Westachse und der Südachse Gebiete mit sehr starkem Wachstum. Auf der anderen Seite gibt es Gebiete, die kontinuierlich schrumpfen, etwa das Waldviertel oder das Alpenvorland und die Region im Süden Niederösterreichs.

Haber: Generell gibt es einen Trend in Richtung Ballungsräume. Das liegt daran, dass kritische Infrastrukturen eine bestimmte kritische Größe brauchen. Das geht von Betreuungseinrichtungen über Bildungseinrichtungen bis hin zu Unterschieden am Arbeitsmarkt. Sehr oft ist die Hoffnung größer, in Ballungsräumen einen Job zu finden als in dezentralen Räumen.

noe.ORF.at: Was zieht Menschen am meisten in eine Region?

Haber: In Summe ist es eine Mischung. Als erstes das Arbeiten und die Frage der Erreichbarkeit. Die meisten Menschen suchen einen Kompromiss - aus dem, was man sich als Wohnort im Grünen wünscht und dem, was ich mir noch leisten kann und was nicht allzuweit weg von meiner Arbeit ist. Und wenn ich weiter weg wohne, dann suche ich mir eine Möglichkeit, entlang von einer Autobahn oder Bahnstrecke, damit ich schnell zum Arbeitsplatz komme.

noe.ORF.at: Welche Erkenntnisse ergeben sich aus dieser Analyse?

Görgl: Das heißt, dass wir uns davon verabschieden müssen, dass Wachstum das Leitmotiv der Politik und der Raumordnung ist. Wachstum werden wir nicht überall schaffen. Es gibt eine Differenzierung in Räume, die stark wachsen und solche, die sich längerfristig entleeren oder schon entleert haben und wo man wahrscheinlich so schnell keine Bevölkerung mehr hinbringt. Das heißt, da ist ein ganz großer Paradigmenwechsel notwendig, dass Wachstum überall im ganzen Bundesland als Leitmotiv nicht mehr sinnvoll ist.

Bevölkerungsentwiklcung 2030

Land Niederösterreich, Abt.Raumordnung

In den rot eingefärbten Gemeinden ist der Zuzug besonders groß, bei den blau eingefärbten Gemeinden handelt es sich um Abwanderungsgemeinden. Je dunkler die Farbe, desto stärker ist der Zuzug bzw. die Abwanderung.

„Kritische Masse“ muss bleiben

Die Wissenschaft nennt den Begriff der „kritischen Masse“ in Abwanderungsregionen als bedeutend. Das ist jene Zahl von im Ort lebenden Einwohnern, die notwendig ist, um eine funktionierende Infrastruktur zu erhalten. Denn wo zu wenige Menschen leben, dort will sich auch kein Supermarkt oder Allgemeinmediziner niederlassen. Die Katze beißt sich somit gleichsam in den Schwanz, erklärt Gottfried Haber. Wissenschaft und Politik sind aus seiner Sicht gefordert, diese „kritische Masse“ zu erhalten.

noe.ORF.at: Wie kann diese „kritische Masse“ erhalten werden?

Haber: Dezentrale oder ländliche Räume haben sehr viel Potential, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch ökonomisch für die Wirtschaft. Es gibt hier Ressourcen, die für den Tourismus wichtig sind, es gibt natürliche Ressourcen für die Land- und Forstwirtschaft. Daher macht es auch Sinn, dafür zu sorgen, dass es eine sinnvolle Entwicklung der ländlichen Räume gibt. Weil man aber einen dezentralen Raum nicht mit allem versorgen kann, müssen kritische Massen geschaffen werden. Etwa durch Zusammenlegungen oder durch eine Art abgestuftem Versorgungsmodell mit großen Kooperationen zwischen den Gemeinden, damit hier eine sinnvolle Verteilung von Aktivität, Chancen, von Wirtschaft und von sozialem Leben entstehen kann.

Görgl: Niederösterreich hat im Bereich des Managements von Bauland schon relativ gute Programme entwickelt und über die Flächenmanagementdatenbank ein Tool aus Bayern importiert, dass den Gemeinden hilft, Baulandhortung zu analysieren und zu schauen, was ich dagegen tun kann. Im Prinzip haben wir nämlich sogar in Gemeinden, die direkt rund um Wien liegen, noch sehr viel Bauland, das die Leute aber nicht hergeben, weil die Preise enorm steigen. Siedlungstechnisch ist das aber ein Problem, weil das Bauland dringend notwendig wäre, um Wohnraum in guter Lage zu schaffen.

Das Problem ist, wenn ich dieses Bauland nicht bekomme, muss ich immer mehr Bauland weiter außerhalb ausweisen, was letztlich zur Zersiedelung sogar in strukturschwachen Regionen führt. Analysen und Bewusstseinsbildung müssen jetzt ansetzen und auch die Politik ist gefordert, in Form von Fördermodellen oder restriktiveren Gesetzen dafür zu sorgen, dass gegen die Baulandhortung etwas getan wird.

noe.ORF.at: Muss man die Abwanderungsregionen aufgeben oder gibt es für sie auch Chancen?

Haber: Der ländliche Raum bietet viele Potentiale, die es in Ballungsräumen so nicht gibt. Zum Beispiel im Bereich der Freiwilligkeit, der Gemeinnützigkeit oder im Bereich privater Initiativen. Vor allem gibt es hier auch viel touristisches Potential. Ich sehe große Möglichkeiten auch im Zusammenhang mit Gesundheits- und Wellnesstourismus.

Görgl: Wichtig ist, sich auf die sogenannte kritische Masse zu konzentrieren. Auch Abwanderungsgemeinden sollten überlegen, dass sie Neubaugebiete dort ausweisen, wo es Sinn macht. Nämlich im Hauptort und nicht in irgendeiner entlegenen Katastralgemeinde. Nur so kann ich den Ort am Laufen halten und Geschäfte, Ärzte und Grundversorgung sichern. Als Chancen für Abwanderungsregionen sehe ich einerseits die niedrigeren Grundstückspreise, andererseits aber auch die Tatsache, dass die Belastung im großstädtischen Bereich im Sommer zunehmen wird. Die große Chance liegt in längerer Zukunft darin, dass es tatsächlich eine Art Klimazuzug geben wird. Das ist bisher allerdings eher eine wissenschaftliche These.

Das Gespräch mit Peter Görgl und Gottfried Haber führte Ursula Köhler, noe.ORF.at