Pevny: „Der Pariser Mai hat mich politisiert“

Für den in Retz (Bezirk Hollabrunn) lebenden Autor Wilhelm Pevny (73) war Paris im Mai 1968 ein in jeder Hinsicht prägendes Erlebnis. Auf den Tag genau vor 50 Jahren erreichte die Protestbewegung in Frankreich ihren Höhepunkt.

Wilhelm Pevny machte nach dem Studium von Theaterwissenschaft und Germanistik und seiner Arbeit als Sprachlehrer in Paris Ende der 1960er Jahre mit Stücken wie „Flipper“ oder „Sprintorgasmics“ erstmals als Autor auf sich aufmerksam. Die gemeinsam mit Peter Turrini geschriebene sechsteilige „Alpensaga“ (1976 bis 1980) wurde ein großer Fernseherfolg.

Später entstanden u.a. der Kinofilm „Safari - Die Reise“, die Stücke „Schönes Wochenende“ und „Take it easy“ und der fünfteilige Roman „Die Erschaffung der Gefühle“. 1988 veröffentlichte er die Streitschrift „Die vergessenen Ziele - Wollen sich die 68er davonstehlen?“ Im Wieser Verlag erscheint derzeit eine auf zwölf Bände angelegte Gesamtausgabe der Werke des in Wien und Retz lebenden Autors.

Wilhelm Pevny

APA/Georg Hochmuth

Wilhelm Pevny: Aus einem „linksliberal-humanistischen“ Zuschauer des Geschehens wurde ein engagierter Linker

Wolfgang Huber-Lang: Herr Pevny, Sie waren 1968 in Paris mitten im Geschehen?

Wilhelm Pevny: So war es: Mitten im Geschehen! Ich habe als Sprachlehrer an der Berlitz-School im Quartier Latin gearbeitet, vis-a-vis der Sorbonne. Wenn ich also in der Pause auf den Balkon getreten bin und eine Zigarette geraucht habe, habe ich sowohl auf die Sorbonne als auch auf die Kreuzung Boulevard Saint Michel/Boulevard Saint Germain gesehen. Dort hat das Ganze begonnen. Es haben ja schon im April immer wieder Demonstrationen stattgefunden, gegen den Schah von Persien und wegen irgendwelcher universitärer Angelegenheiten. Ich als arbeitender Mensch habe gedacht, die sollen was arbeiten und nicht dauernd demonstrieren.

Huber-Lang: Das heißt, Sie waren zunächst Zuschauer?

Pevny: Heute würde ich sagen, ich war linksliberal-humanistisch. Humanistisch, aber fern jedweder Gruppierung oder jedweden -ismusses. Das war mir alles zuwider. Im Zuge der Ereignisse habe ich mich aber politisiert. Auslösendes Moment war eine Szene, die ich in einer meiner Rauchpausen beobachtet habe: Es gab eine friedliche Demonstration, und ein alter Mann ist am Rande dieser Demonstration zu einem Polizisten hingegangen und hat ihn was gefragt. Und der Polizist hat ganz gemächlich seinen Knüppel in die Höhe geschwungen und hat dem eine über den Kopf gezogen, sodass der alte Mann sofort auf dem Boden lag. Ab dem Moment war ich politisiert. Da habe ich gewusst, es geht nicht mehr nur mit Sympathie, sondern es geht nur mit Engagement.

Huber-Lang: Haben Sie zu diesem Zeitpunkt über die konkreten Forderungen der Bewegung Bescheid gewusst?

Pevny: Was die universitären Geschichten angeht, die von Nanterre ausgegangen sind, wusste ich weniger Bescheid. Aber Vietnam war natürlich klar. Das ist jedem jungen Menschen damals an die Nieren gegangen. Die Guten der Nachkriegszeit waren ja die Amis, und die Russen waren die Bösen. Plötzlich hat sich herausgestellt, dass die Guten gar nicht so gut sind. Das war ein Bruch in der Jugend, der durch die ganze Generation gegangen ist.

Mai 1968 Paris Plakate

Wikimedia Commons/Robert Schediwy/Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Die Pariser Sorbonne, Zentrum der Proteste im Mai 1968

Huber-Lang: Auch die Polizei wurde rasch zum Feindbild.

Pevny: Zunächst waren da ja nur die normalen Polizisten, die Flics, denen sie die Kapperl weggenommen und durch die Gegend geschossen haben, was einen gewissen Mitleidseffekt bei mir bewirkt hat. Dann ist aber die Bereitschaftspolizei CRS gekommen, die Sondereinheit. Die waren zum Grausen brutal.

TV-Hinweis

ORF2 zeigt „Im Zentrum: Sex, Drugs und Revolution - Was blieb von 1968?“ am Sonntag um 22.00 Uhr

Huber-Lang: Wie haben Sie sich dann eingebracht?

Pevny: In Paris selber bin ich bei den großen Demonstrationen mitgegangen, nicht bei den Studenten, sondern bei den allgemeinen, wo schon Arbeiter und Studenten gemeinsam demonstriert haben, zum Teil auch gegen die Gewalt, die von der CRS ausgegangen ist. Und in Wien habe ich dann bei Vietnam-Demonstrationen und auch bei Demonstrationen für Alexander Dubcek und die Freiheit der Tschechoslowakei mitgemacht.

Huber-Lang: Wie haben Sie die Verhältnisse erlebt, die zu so einem Widerstand und Veränderungswillen bei den jungen Leuten geführt haben? War der Staat damals tatsächlich so autoritär?

Pevny: In Frankreich sicher noch mehr als in Österreich. Es waren ganz verkrustete, alte Strukturen, in Österreich und Deutschland kam noch der Umgang mit dem Nationalsozialismus dazu, wo die gleichen Leute wieder nach oben gespült wurden, sowohl in der Schule, als auch im universitären Bereich oder im ORF, wo ich lange gearbeitet habe. Wir haben als junge Menschen das Gefühl gehabt, wie kommen nicht vorbei an denen. Die versuchen, uns zu unterdrücken und klein zu halten. Es war klar, dass das irgendwann einmal in die Luft fliegen muss.

Paris Mai 1968 Plakate

Wikimedia Commons/Robert Schediwy/Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Eine Plakatwand in Paris, aufgenommen im Juli 1968: „Il est interdit d’interdire“ („Es ist verboten zu verbieten“)

Huber-Lang: Wie brisant war die Situation in Paris?

Pevny: Es ist wirklich eine Gefahr für die Regierung ausgegangen. Die Gefahr war aber in dem Moment für die Herrschenden gebannt, als das Chaos ausgebrochen ist und Hunderte Autos verbrannt wurden. Die Gewerkschaft ist erst im Herbst eingestiegen, als die studentischen Demonstrationen schon abgeflacht waren. Wäre die Gewerkschaft schon im Mai oder Juni eingestiegen, hätte es in Frankreich ziemlich sicher einen Umsturz gegeben - oder Bürgerkrieg.

Veranstaltungshinweis

„Zeitzeugen-Forum: Mai 1968: Als alles anders wurde“ mit Peter Turrini, Rotraud Perner und Hannes Etzlstorfer, Haus der Geschichte St. Pölten, 15. Mai, 18.00 Uhr

Die Pariser Bevölkerung war ja am Anfang für die Demos, die haben ja sehr geholfen und Leute versteckt, die sich vor der Polizei in die Häuser geflüchtet haben. Ich habe einen bretonischen Mitbewohner in meinem Studentenwohnheim gehabt, der war völlig unpolitisch, ein christlicher, braver, junger, strebsamer Student und der hat sich dieser Tage voll politisiert und der hat mir immer in der Früh erzählt, was er in der Nacht erlebt hat. Das war wirklich Kleinkrieg. In der Früh war immer alles voller Tränengas und die Pflasterer haben die Pflastersteine wieder hineingeklopft. Am nächsten Tag waren sie wieder heraußen. Das ist eine der markanten Erinnerungen, die ich daran habe.

Huber-Lang: Wie war es dann, als klar wurde, dass diese Bewegung scheitert?

Pevny: Das ganze Quartier Latin, das im Mai und Juni 1968 wirklich besetztes, exterritoriales Gebiet war, wurde dann noch jahrelang abgeriegelt. Die Studenten wurden abgesiedelt. Das Quartier Latin ist heute nur noch touristisch. Ein anderes Zentrum was das Theatre de l’Odeon. Wenn man da reingekommen ist, ist dort gestanden: „Il est interdit d’interdire“ - „Es ist verboten zu verbieten“. Das hat mich sehr beeindruckt und mir dann gleich zu denken gegeben. Es ist ein Widerspruch. In ihm liegt bereits der Kern, warum die Bewegung gescheitert ist. Bis heute sehe ich das so.

Wilhelm Pevny

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Pevny: „Wir waren eine zänkische Jugendbewegung, die sich untereinander wie die Hühner gehackt hat“

Außerdem haben uns die Väter gefehlt. Die väterlichen Figuren waren ausgerottet worden, die jüdischen, oder sind im Krieg gefallen. Wir waren eine vaterlose, führungslose Jugendbewegung. Darum waren Leute wie Robert Jungk oder Erich Fried so wichtig. Von denen hat es aber zu wenige gegeben.

Und wir waren eine zänkische Jugendbewegung, die sich untereinander wie die Hühner gehackt hat. Es war keine Liebe da, keine wirkliche Sympathie, wir haben immer die Rivalität des anderen Arguments empfunden. Man wurde immer abgeurteilt - als Rechtsabweichler, Linksabweichler, Trotzkist, Stalinist oder was auch immer. Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir die Fähigkeit hatten, offenen Herzens über etwas zu diskutieren, nur mit dem Interesse, der Wahrheit näher zu kommen. Daran ist die Bewegung innerlich gescheitert. Und bis heute weiß ich keine Antwort darauf.

Huber-Lang: Wie sehr haben Sie die Ereignisse in Paris als Schriftsteller geprägt?

Pevny: Komplett. Ich würde schon sagen, ich bin ein eher extrem links engagierter Autor. Am nächsten waren mir die Trotzkisten, das waren auch die sympathischsten.

Huber-Lang: Was würde an der heutigen Gesellschaft ohne 68 ganz anders aussehen?

Pevny: Die Beziehung zwischen Mann und Frau fällt mir als Erstes ein. Und dass es überhaupt ein soziales Bewusstsein gibt. Dass man sagt, der Gap zwischen Arm und Reich ist so groß, das war ja vorher kein Thema. Dass die Gerechtigkeit immer wieder noch eine Rolle spielt. Ich glaube, in ganz vielen Bereichen hat 68 seine Spuren hinterlassen.

Das Gespräch mit Wilhelm Pevny führte Wolfgang Huber-Lang, Austria Presse Agentur

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