Frank Castorf 2021
APA/Herbert Pfarrhofer
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Kultur

Castorf zeigt Kastrinidis‘ „Schwarzes Meer“

In „Schwarzes Meer“, dem Debütstück der Schweizer Schauspielerin und Autorin Irina Kastrinidis, wird ein dunkles Kapitel europäischer Geschichte aufgeschlagen. Die Uraufführung am Landestheater Niederösterreich inszeniert Regiestar Frank Castorf.

Die leuchtende Farbkraft des Meeres, der Wind, die Sonne, der ewig blaue Himmel und die Gerüche des Südens erfüllen die Atmosphäre, die dem Erzählfluss von „Schwarzes Meer“ innewohnt. Irina Kastrinidis, die in Zürich lebende Autorin und Schauspielerin mit griechischen Wurzeln, „spielt“ in ihrem vielstimmigen Monolog mit dem Versmaß eines antiken Epos, verwebt Zeit und Erzählebenen mit antiken Mythen und findet dabei einen ganz eigenen, zeitgemäßen Ausdruck.

Eine Frau, die auf den Spuren ihrer Herkunft ist

Irina Kastrinidis erzählt von menschlichen Schicksalen, von einem dunklen Kapitel der europäischen Geschichte. Sie schickt in ihrem Theatertext die junge Frau Elefteria – im Landestheater Niederösterreich gespielt von Julia Kreusch – auf die Spuren ihrer Herkunft, zurück in die 1920er-Jahre in die Küstenregion des Schwarzen Meeres, des Pontos. Im Griechisch-Türkischen Krieg wurden bis 1923 die Pontosgriechen ermordet oder zwangsdeportiert. Heute leben Elefterias Verwandte im Exil in ganz Europa verstreut: „Adressen ungewiss“.

In dieser weiblichen Odyssee quer durch Europa steht vor dem Hintergrund der politisch aufgeladenen Vergangenheit eine Liebesgeschichte im Zentrum: „Mit Achilleas erlebt Elefteria eine tiefe Liebe und einen großen Sommer der Leidenschaft, bis sie mit einem anderen Paar zu viert am Strand sitzen, ein Machtkampf sich entzündet und eine Tragödie ihren Anfang nimmt“, heißt es auf der Website des Landestheaters Niederösterreich.

Irina Kastrinidis: „Wonach wird in der Liebe gesucht?“

Irina Kastrinidis ist Schweizerin mit griechischen Wurzeln. Sie studierte Schauspiel in Bern, war Ensemblemitglied u.a. am Staatstheater Braunschweig und an der Volksbühne Berlin unter der Intendanz von Frank Castorf, sie war mehrfach Gast am Schauspielhaus Zürich und Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste.

Irina Kastrinidis
www.irinacastrinidis.com
Irina Kastrinidis: „Welche Werte vermitteln wir einer nächsten Generation im Spannungsfeld verschiedener Traditionen und Wurzeln?“

In „Schwarzes Meer“ geht es auch um die Familiengeschichte Kastrinidis’. „Ein Teil meiner Familie väterlicherseits stammt von der Schwarzmeerküste, dem Pontos. Viele Griechen wurden 1923 zwangsumgesiedelt, verloren alles und mussten sich völlig neu orientieren. Ich bin aus der dritten Generation und mich interessiert sehr wohl, was damals geschehen ist. Es hat eine Entwurzlung stattgefunden, und die Suche zurück nach diesen Wurzeln hat mich beschäftigt. Und ich wollte diesem Schicksal eine Stimme geben. Eine ähnliche Thematik erleben wir doch heute ganz ähnlich wieder. Wohl noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute.“

Im Monatsspielplan des Landestheaters Niederösterreich ist ein Interview mit der Autorin abgedruckt. Auf die Frage nach ihrem Ausgangspunkt für das Schreiben von „Schwarzes Meer“, ein Stück über Liebe und die Geschichte Griechenlands, antwortete Kastrinidis: „Ausgangspunkt waren fragende Gedanken zum Phänomen Liebe und allfällige Zusammenhänge mit der Geschichte. Wonach wird in der Liebe gesucht? Welche Rolle spielen dabei der historische Hintergrund und unsere Ahnen? Versuchen wir in der Liebe, durch das Gegenüber etwas Geschichtliches in einem übergeordneten Sinne zu bewältigen und zu überwinden? Welche Werte vermitteln wir einer nächsten Generation im Spannungsfeld verschiedener Traditionen und Wurzeln? Natürlich schrieb ich vor dem Hintergrund der Minderheit der Pontosgriechen, welche ihre Kultur zu erhalten versuchen angesichts der Bedrohung des Aussterbens.“

Stilistisch ist „Schwarzes Meer“ oft „großes Kino“: berauschend schön, glamourös und magisch. Ging es der Autorin dabei um die Identitätssuche der Hauptfigur? Irina Kastrinidis: „Die Geschichte Elefterias ist keine Identitätssuche, sondern vielmehr der Versuch, abgebrochene Brücken zu beschreiten, um vielleicht am Ende das unausgesprochene Wort und den Einfluss geschichtlicher Prägung auf unser Verhalten besser zu verstehen. Elefteria – griechisch „Freiheit“ – steht für unverwurzelt sein und dennoch mythologisch oder geschichtlich in Räumen und Zeiten zu existieren.“

Castorf: „Lesung? Nein, das machen wir richtig!“

Die Uraufführung von „Schwarzes Meer“ inszeniert der deutsche Regisseur Frank Castorf. Als langjähriger Intendant der Berliner Volksbühne wurde er mit seinen Regiearbeiten zu einem der einflussreichsten und stilprägendsten Theaterregisseure der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie den Nestroypreis für sein Lebenswerk. Im vergangenen Jahr arbeitete er u.a. für das Wiener Burgtheater und die Staatsopern Wien und München.

Frank Castorf 2021
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Frank Castorf: „Direkten Kontakt mit St. Pölten hatte ich bis jetzt nicht"

Wie es ihn in die niederösterreichische Landeshauptstadt verschlagen hat? „Direkten Kontakt mit St. Pölten hatte ich bis jetzt nicht“, räumt Frank Castorf im Gespräch mit APA-Kulturredakteur Ewald Baringer ein. Die Schauspielerin Julia Kreusch – die auch die Hauptrolle im Stück übernimmt – habe sich „in den Text verliebt“ und ihn der St. Pöltner Intendantin Marie Rötzer gezeigt. „Und dann fragten sie mich, und mir war das sympathisch. Zunächst dachten wir an einen Monolog als eine Art szenische Lesung, aber dann meinte ich, nein, das machen wir richtig!“

Dass sein zwölfjähriger Sohn Mikis, der ebenfalls im Stück mitwirkt und dabei eine Ziege namens Suleika zu bändigen hat, bei seiner Mutter Irina Kastrinidis in Zürich lebt und nicht etwa in Berlin, freut Castorf. Berlin sei eine Stadt, die „gerne sein möchte, was andere Städte sind, wie London, Paris oder New York“. Früher, kurz nach dem Mauerfall, habe es eine „wunderbare Aufbruchszeit“ gegeben. „Der Regierungssitz hätte für mich in Bonn bleiben können.“ Von denen, „die jetzt alle in Berlin arbeiten müssen“, käme eine „ein bisschen spießige Grundhaltung“. Diese Entwicklung „verstimme ihn“, so der 70-Jährige.

Castorf über „Schwarzes Meer“: „Das ist richtig gut!“

Doch zurück zum Stück „Schwarzes Meer“. Eigentlich wollte er kein neues Stück lesen, „erst beim Essen hat sich der Appetit entwickelt, da dachte ich: Das ist richtig gut!“ Besonders der „hohe Ton“ der griechischen Antike mit seinem Versmaß hat es Castorf angetan. Schon Goethe habe im „Faust“ den Vers gelegentlich nicht korrekt angewendet, aus Absicht, „um die Menschen zu verstören“. Erinnerungssplitter, eigene Erfahrungen, persönliche Assoziationen (Castorf erwähnt eine „schwierige private Beziehung“ mit Kastrinidis) und die Geschichte der griechischen Vorfahren seien in den Text eingeflossen. „Ohne Häme, ohne Besserwisserei“, wie Castorf anerkennend anmerkt.

Julia Kreusch in Schwarzes Meer am Landestheater Niederösterreich
Landestheater Niederösterreich
Die Autorin schickt in ihrem Theatertext die junge Frau Elefteria – im Landestheater Niederösterreich gespielt von Julia Kreusch – auf die Spuren ihrer Herkunft, zurück in die 1920er-Jahre in die Küstenregion des Schwarzen Meeres

Ob er in den Text stark eingegriffen habe? „Den chronologischen Zeitablauf des Originals“ habe er belassen und sich „relativ zurückgehalten“: „Ich hab ein paar Sachen zum Schluss verändert durch grauenvolle historische Dokumente, was in der ganzen Welt passiert, in Ruanda, in Afghanistan, die Hinmetzelung von Frauen, Kindern, Alten. Die Geschichte der Vertreibungen trifft immer Menschen, die nichts dafür können“, meint Castorf. Letztlich hätten die Westmächte immer „weggeguckt“, weil sie andere macht- und geopolitische Strategien verfolgt hätten.

„Schwarzes Meer“

Die Uraufführung ist am 29. Jänner am Landestheater Niederösterreich, weitere Aufführungen sind am 25. Februar sowie am 10. und 16. März.

Gibt es wieder Video-Einspielungen in dieser Inszenierung? Castorf: „Wenn ein Mensch sich in einen Exzess gespielt hat, ist eine Kamera wie ein Instrument der Vivisektion, eine Operation am bloßen Nerv ohne Narkose. Das ist ein operatives Werkzeug, kein illustratives. Dann kann man einen Menschen sehen, der außer sich ist in einer Extremsituation, bevor er wieder kindlich wird, liebevoll, bevor er wieder sagt: Das Leben ist nicht immer schön, aber das einzige, das wir wahrscheinlich haben werden. Man muss nicht sehr alt werden, um ein bisschen weise zu sein.“

Kastrinidis habe den Stoff inzwischen zu einer Trilogie erweitert, verrät Castorf. „Sie sitzt da in Zürich und holt die Welt zu sich, hat jetzt auch eine kleine Wohnung in Athen und lernt Griechisch. Mich freut, wenn sie eine Freude hat, zu schreiben.“ Ob er auch die Fortsetzungen inszenieren würde? „In den nächsten Jahren ist es ein bisschen schwer.“