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Gefangene im Lager Wöllersdorf. – 19340101_PD3685 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
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„100 Jahre NÖ“

„Man war dort willkürlich eingesperrt“

Das Dollfuß-Regime errichtet bereits 1933 in Wöllersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) ein Anhaltelager für politische Gegner. Am Höhepunkt waren etwa 5.000 Gefangene „willkürlich interniert“, gleichzeitig scheiterte der Austrofaschismus dort.

Als „pseudolegales System“ bezeichnet die Historikerin Pia Schölnberger das Anhaltelager Wöllersdorf. Offiziell begründete das austrofaschistische Regime die Anhaltung, um die Störung der Ruheordnung und Sicherheit zu verhindern. Doch in Wahrheit wollte man „politische Unruhepole aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten, um diese Umtriebe zu unterbinden“, erklärt die Expertin.

Für das Regime bestand bis dahin aber das Problem: „Für bestimmte Delikte – wie das Hissen einer roten Flagge – bekam man nicht mehr als ein paar Wochen Haft.“ Deshalb wurde – neben Gefängnis- und Verwaltungsstrafen – als dritte Option die sogenannte Anhaltung eingeführt. Im September 1933 wurde dafür eine eigene Anhalteverordnung erlassen. Damit wurde „alles gesetzlich auf gewisse Art und Weise legitimiert“. In der Praxis sei es aber eine Verlängerung einer verhängten Freiheitsstrafe gewesen.

Ein Lager für Nazis, Kommunisten und Sozis

Ab Oktober 1933 kamen die ersten Häftlinge ins Anhaltelager – neun Nationalsozialisten und ein Kommunist. Nazis und Kommunisten bildeten zunächst auch den Großteil der Gefangenen, weil beide Parteien – die Kommunistische Partei im März, die NSDAP im Juni – damals bereits verboten waren und deren Anhänger illegal operierten. Vor allem vonseiten der Nationalsozialisten wurden immer wieder Terroranschläge verübt.

100 Jahre NÖ Anhaltelager Wöllersdorf 1935
Stadtarchiv Wr. Neustadt
Ein Bild aus dem Alltag der Häftlinge im Anhaltelager Wöllersdorf

Laut Schölnberger waren solche Lager, das erste dieser Art wurde im März 1933 in Dachau (Deutschland) errichtet und von den Austrofaschisten genau beobachtet worden sei, keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Auch während des Ersten Weltkrieges gab es unterschiedliche Lager für Flüchtlinge, Zivilisten oder Kriegsgefangene. „Lager ist etwas, das man damals gekannt hat, aus eigener Erfahrung oder seiner eigenen Nähe.“

„Ein perfekter Ort“

Die Entwicklung der Lager in Deutschland sei deshalb auch vom Dollfuß-Regime genau beobachtet worden. Wöllersdorf sei für das Lager jedenfalls „ein perfekter Ort“ gewesen, um „hermetisch abgeriegelte Dinge zu tun“. Denn das Areal einer ehemaligen Munitionsfabrik war immer schon totaler Geheimhaltungsmaßnahmen unterworfen, Flugzeuge durften es etwa nicht überfliegen.

1935: Das Anhaltelager Wöllersdorf

Das Lager selbst entwickelte sich rasch weiter. Denn ab Herbst 1933 wurden sukzessive politische Häftlinge nach Wöllersdorf überstellt. In der Regel erhielten sie noch während ihrer Gefängnishaft den Bescheid, dass sie im Anschluss an die Strafe „für unbestimmte Zeit an einen bestimmten Ort kommen“, schildert Schölnberger, und das war Wöllersdorf.

Februaraufstand füllt Lager

Ab dem Frühjahr 1934 füllt sich das Lager innerhalb kurzer Zeit. Zunächst wurden nach der Niederschlagung des Februaraufstands hunderte Schutzbündler und sozialdemokratische Funktionäre nach Wöllersdorf gebracht. Nach dem Putschversuch von Nationalsozialisten im Juli 1934 vervielfacht sich deren Anteil unter den Inhaftierten. Von den etwa 5.000 Gefangenen im Oktober 1934 sind etwa 85 Prozent Nationalsozialisten und 15 Prozent Sozialdemokraten und Kommunisten. Daraufhin sollte das Lager massiv ausgebaut werden.

100 Jahre NÖ Anhaltelager Wöllersdorf 1935
Industrieviertelmuseum
Ein Lageplan des Anhaltelagers

Im Februar 1935 umfasst das Lager bereits eine Gesamtfläche von etwa 450.000 Quadratmetern und über 40 Objekte. Gleichzeitig gab es für die Häftlinge Verschärfungen. Während Wöllersdorf bisher lediglich ein Anhaltelager war, in dem sich die Gefangenen frei bewegen durften, wurde es nun auch für Strafhaft verwendet. Die Gefangenen mussten den ganzen Tag in ihren Baracken bleiben und durften täglich nur eine Stunde in einem Hof spazieren gehen, genauso wie sonst in Gefäng­nissen, und durften dabei kein Wort miteinander sprechen.

„Massiver bürokratischer Aufwand“

Doch auf eine Welle der Verhaftungen folgte bald eine Welle der Begnadigungen, wie Schölnberger erzählt: „Das Regime wollte sich mit der Bevölkerung auch arrangieren.“ Infolge mehrerer Amnestien verringerte sich die Zahl der Inhaftierten 1936 auf etwa 500. Dieses Vorgehen zeigt laut der Historikerin aber auch, dass das System von der Regierung nicht wirklich durchdacht war. Sie spricht von „massivem bürokratischen Aufwand, mit vergleichsweise ganz kleinem Output aus Sicht des Regimes.“

Josef Meisl erzählt über das Leben in Wöllersdorf

Selbst der Staatspolizei sei es nicht gelungen, der Umtriebe der politischen Gefangenen Herr zu werden. Zum einen seien diese selbst im Lager nicht ausreichend unterdrück worden. Nazis seien „selbstbewusst am Zaun gestanden und haben am Geburtstag von Hitler im Kollektiv den Hitlergruß gemacht und gefeiert“. Wachmannschaften hätten das zwar gemeldet, dann wurde die Anhaltung nur verlängert.

Idealer Nährboden für Jugendliche

Zugleich waren die Inhaftierten wochen- und sogar monatelang mit Gesinnungsgenossen in einem großen Schlafsaal untergebracht. „Dort gab es illegale Bibliotheken, Fortbildungskurse. Vor allem für Junge, die keine Familien hatten, war das ein idealer Nährboden“, stellt Schölnberger klar. Manche seien dadurch sogar besser geschult und in ihrer politischen Ausrichtung gestärkt worden. „Die Jungen konnten sich mit den Superstars ihrer Bewegung austauschen.“

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Gefangene im Lager Wöllersdorf. – 19340101_PD3685 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
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Die Häftlinge hatten vor allem im Jahr 1934 viel Freizeit, der Alltag war von Untätigkeit geprägt

Denn der Alltag im Lager sei hauptsächlich von Untätigkeit geprägt gewesen, besonders 1934, als Wöllersdorf besonders überfüllt war. „So viele Arbeiten, wie Bastelarbeiten oder Stuben sauber halten, konnten sie gar nicht finden“, damit alle beschäftigt gewesen wären.

Kosten belasten System

Ein weiteres Indiz, dass das System nicht durchdacht war, betrifft laut Schölnberger die Kosten. Für die Ernährung bzw. den Betrieb musste das Regime viel Geld ausgeben. Deshalb wurde den Häftlingen schließlich sechs Schilling pro Tag verrechnet. „Aber bei Leuten, die keinen Job, kein Einkommen und oft gar keinen Besitz haben.“ Die Vorschreibung der Kosten bekamen sie teilweise sogar noch während ihrer Zeit in Wöllersdorf.

Manche mussten sogar für Terrorschäden, etwa die Reparatur von beschossenen Gemeindebauten durch den Februaraufstand, zahlen. Beamte fuhren dafür auch in die Wohnungen zu den Familien und merkten dort, „da ist nichts, da gibt es kein Kapital, aber diese Diskussionen zogen sich über Jahre“. Die Vorschreibungen wurden daraufhin zunächst gestundet, später als „uneinbringbar“ fallen gelassen. Schölnberger spricht von einer „massiven Ineffizienz bei maximal bürokratischem Aufwand“.

Heinrich Dürmayer schildert seine Situation im Anhaltelager

Unterschied zu Konzentrationslager

International wurde das Anhaltelager in Wöllersdorf aber von der Presse beobachtet – auch aufgrund der Entwicklungen in Deutschland. Im Gegensatz zu deren Konzentrationslagern, „wo sofort Ermordungen, massive Folter und Gewalt stattfinden“, gab es laut Schölnberger in Wöllersdorf zwar keine systematische Gewalt gegen Leib und Leben. Dennoch wurde der Schutz der Freiheit aufgehoben, „ein massiver Eingriff in die persönliche Freiheit des Menschen“.

100 Jahre NÖ Anhaltelager Wöllersdorf 1935
Anno/Der Morgen Wiener Montagblatt

Je nach Lebenserfahrung schilderten Zeitzeugen die Situation in Wöllersdorf sehr konträr. Julius Braunthal, Historiker und Funktionär der Arbeiterbewegung, schrieb etwa: „Im Angesicht der Millionen Toten im Nationalsozialismus bleiben wir zurück in Scham, angesichts dessen, was uns in Wöllersdorf passiert ist, dort wurde uns nur unsere Freiheit genommen, aber nicht unser Leben.“

Schölnberger bezeichnet das Wort „nur“ als „skandalös“. Denn mit der gezielten Ermordung in den Konzentrationslagern könne man natürlich nichts vergleichen, trotzdem „gibt es keinen Grund, jemanden nach abgebüßter Strafe für unbestimmte Zeit wegzusperren, das war ein willkürliches System“.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 18.2.2022

Nazis werden zu Märtyrern

Von Anhängern der Nationalsozialisten wurde die Lage in Wöllersdorf hingegen viel dramatischer dargestellt. Sie hatten laut der Expertin ab 1938 eine Heldengeschichte zu erzählen, die einer Art Märtyrer-Dasein entsprach, wofür sie sogar mit dem Blutorden – dem höchsten Orden der NSDAP – ausgezeichnet wurden, „weil sie Wöllersdorf überlebt haben“. Dass sie dort gemeinsam mit Sozialisten und Kommunisten interniert waren, wurde verschwiegen.

Propagandafilm der Nazis über das Ende des Lagers

Gauleiter Josef Bürckel und SS-Reichsführer Heinrich Himmler wollten in Wöllersdorf sogar ein Mahnmal errichten lassen, „um damit den Freiheitskampf zelebrieren zu können“, wie die Historikerin herausfand. Dafür gab es sogar eine künstlerische Ausschreibung, die aber schließlich in den Akten versickert ist.

Gegenseitige Hilfe

Die sehr spezielle Häftlingsgesellschaft, die auf engem Raum miteinander lebten, führte – trotz ihrer unterschiedlichen Ideologie – auch zu Bekanntschaften, die während des Zweiten Weltkrieges von Vorteil sein konnten. Laut Schölnberger gibt es Überlieferungen, dass man sich aus Wöllersdorf kannte, sich später in der Gestapo-Haft wiederfand, „und der eine den anderen begnadigte“. Diese Erzählungen lassen sich zwar nicht restlos klären, „sind aber im Bereich des Möglichen“.

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Das Anhaltelager in Wöllersdorf wird niedergebrannt. Österreich. Photographie. 2. 4. 1938. – 19380101_PD9720 – Rechteinfo: Rights Managed (RM)
Austrian Archives
Ein Propagandabild der Nationalsozialisten, nachdem sie ein Objekt im Lager in Brand gesetzt hatten

Im Rahmen einer Propagandaaktion brennen Nationalsozialisten nach dem „Anschluss“ einen Gebäudetrakt (Objekt 84) nieder. Mithilfe von Filmaufnahmen wurde dieser Akt instrumentalisiert, erzählt Schölnberger: „Dass man das jetzt den Flammen übergibt und daraus etwas Neues entstehen kann.“ Doch der Großteil des Lagers wurde nach der NS-Machtübernahme weiterverwendet.

Das Ende des Anhaltelagers

Zunächst gab es Überlegungen, Wöllersdorf als Konzentrationslager weiterzuführen, das Areal wurde kurzfristig auch als Schutzhaftlager für Kommunisten, Juden und Heimwehrangehörige genutzt. Die verbliebenen Häftlinge wurden nach dem Anschluss in das KZ Dachau gebracht. Als KZ-Standort wählten die Nazis schließlich Mauthausen, Wöllersdorf wurde wieder zu einem Rüstungsunternehmen bzw. als Luftpark umgebaut, der am 23. April 1945 von den Alliierten bei Bombenangriffen komplett zerstört wurde.

Fotostrecke mit 4 Bildern

100 Jahre NÖ Anhaltelager Wöllersdorf 1935
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100 Jahre NÖ Anhaltelager Wöllersdorf 1935
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100 Jahre NÖ Anhaltelager Wöllersdorf 1935
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Heute erinnert nur noch ein Mahnmal, das an der Stelle des ehemaligen Anhaltelagers 1974 – anlässlich der 40-jährigen Erinnerung an die Februarkämpfe – enthüllt wurde. Die Inschrift soll an die etwa 14.000 Inhaftierten erinnern und zugleich ein Appell sein: „Sie büßten hier für ihre aufrechte Gesinnung und ihre unverbrüchliche Treue zur Demokratie. Ihre Haltung verpflichtet, darauf zu achten, dass in unserer Heimat nie wieder vom Weg der Demokratie abgewichen wird.“