100 Jahre NÖ Juden Anschluss 1938 Leben Situation
Sammlung Adler-Kastner
Sammlung Adler-Kastner
„100 Jahre NÖ“

„Jüdisches Leben gibt es heute nicht mehr“

Mit dem „Anschluss“ Österreichs 1938 mussten Juden plötzlich um ihr Leben fürchten. Vor allem auf dem Land schlug ihnen „eine Brutalität“ entgegen. Viele von ihnen, etwa Familie Hacker aus Bad Erlach, hatten jahrelang zur Entwicklung eines Ortes beigetragen.

Kleider, Seifen, Kessel, Haushaltsgeräte – es ist ein Gemischtwarenhandel, den Max und Therese Hacker in den 1930er-Jahren bereits seit Jahrzehnten in Bad Erlach (Bezirk Wr. Neustadt) betreiben. „Die Familie Hacker war durchaus anerkannt, assimiliert“, erzählt Historiker Werner Sulzgruber, „sie waren zwar religiös, aber man darf nicht glauben, dass hier nur jüdische Kunden gewesen wären, es waren rein christliche Kunden, von denen sie gelebt haben.“

Vor allem erkannte die Unternehmerfamilie schnell die Bedürfnisse der Einheimischen und reagierte darauf. So gab es im Geschäft etwa schon bald eine Schrotmühle. „Weil man gesehen hat, die Leute brauchen – wenn sie nicht gerade Bauern sind – irgendetwas zum Durchmalen, konnten hier also etwa Mehl mahlen“, schildert der Wissenschaftler. Damit konnten sie zusätzlich zu den Krediten, die sie vergaben, ihre Kundschaft gewinnen und halten.

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Sammlung Florian Jeitler
Haus der Familie Max und Therese Hacker mit dem Gemischtwarenhandel

Juden siedeln sich an

Nach Niederösterreich kam Familie Hacker – so wie viele andere Jüdinnen und Juden – bereits im 19. Jahrhundert. Bis 1860 war zwar eine Ansiedelung offiziell verboten, allerdings durften sie als Händler im Wechselland Geschäfte machen. Teilweise hatten sie in den Orten Lager für die Ware und erkannten, woran es der Bevölkerung mangelte, welche Bedürfnisse bestehen.

Nach dem Ende des Ansiedelungsverbot 1860 kamen zunächst Juden aus dem verarmten Westungarn, erklärt Sulzgruber, „weil man wirtschaftliche Chancen sieht, Wr. Neustadt oder Neunkirchen sind große Handelsstädte. Man weiß genau, wo man hin will.“ Gebäude wurden angemietet und Geschäfte eröffnet. In der Bevölkerung waren sie als „Dorfjud“ bekannt, „das war aber nicht sofort antisemitisch zu verstehen, das war damals die Bezeichnung“, betont Sulzgruber.

Jüdisches Leben in der Buckligen Welt

„Oberer und unterer Dorfjud“

In Hochwolkersdorf (Bezirk Wr. Neustadt) wurden die zwei jüdischen Unternehmer etwa als „Oberer Dorfjud“ und „Unterer Dorfjud“ auseinandergehalten. Die Juden wollten für die örtlichen Unternehmer aber keine direkte Konkurrenz sein. „Wenn ein Jude in einen Ort gekommen ist, wo es etwa schon eine Gemischtwarenhandlung gegeben hat, dann hat es ein stilles Arrangement gegeben, dass nur das verkauft worden ist, was der christliche Händler nicht hatte.“

Genauso gingen Max und Therese Hacker vor, als sie 1897 in der Gemeinde Erlach, die damals noch so genannt wurde, ankamen. Damals gab es bereits einen jüdischen Fleischhacker und einen Weinhändler. Daraufhin eröffneten sie einen Gemischtwarenhandel. Durch ihr familiäres Netz nach Ungarn konnten sie aber schnell andere Produkte beschaffen. „Es besteht hier ein Netz, dass sich bis in den nordsteirischen Raum erstreckt.“

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Sammlung Adler-Kastner
Innenaufnahme der Synagoge Erlach

Das System wurde auch durch die Religion gestützt. Denn durch den gemeinsamen Glauben entstanden Bethäuser, die mit Privatgeld errichtet wurden. „Man wollte gemeinsam Gottesdienste feiern, dafür sind Juden aus der gesamten Region gekommen, und das hat auch weitere Juden angezogen“, erzählt Sulzgruber etwa mit Blick auf Bad Erlach. Die Anzahl blieb aber überschaubar, pro Ort gab es damals zwischen einer und vier bis fünf jüdischen Familien.

Lederhose und Feuerwehrhelm

Nach außen hin seien Juden allerdings nicht erkennbar gewesen, so hätten sie weder Schläfenlocken, noch eine Kippa getragen. Stattdessen gibt es sogar Fotos mit „Lederhosen, Steirerjanker oder mit dem Feuerwehrhelm“, verweist Sulzgruber. Um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, gründeten vermögendere Juden auch Stiftungen für die Kirche, was ihnen in der Gemeinde Akzeptanz und Anerkennung brachte, oder beteiligten sich an Spendenaktionen für die arme Bevölkerung.

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FF Kirberg
Mannschaftsfoto der Freiwilligen Feuerwehr Kirchberg am Wechsel 1893: jüdische Mitglieder Michael Daniel (2. Reihe, 4.v.l.) und Samuel Daniel (2. Reihe, 3.v.r.)

Offener Antisemitismus war damals in ländlichen Regionen auch nicht spürbar, sagt der Historiker, außer in einigen Gemeinden der Sommerfrische, „wo man zwar von jüdischen Gästen profitiert hat, aber froh war, wenn sie wieder weg waren“. In den kleinen Gemeinden hätte man sich gegenseitig akzeptiert und toleriert. „Eine Integration war es wohl nicht“, gibt Sulzgruber zu, „aber es hat Freundschaften und positive Beziehungen gegeben.“

Prozess der Beraubung beginnt

Doch das sollte sich schnell ändern. Ab 1938 „bricht etwas blitzschnell aus und der Antisemitismus wird ganz deutlich“. Im Gegensatz zu anderen Regionen und Städten äußerte sich dieser laut Sulzgruber am Land durch eine „besonders hohe Brutalität, oft gegen den direkten Nachbarn.“ An jüdische Geschäfte wurden Judensterne geklatscht, jüdische Bewohner aus ihren Häusern vertrieben.

In Städten, wie in Wr. Neustadt, wo 1938 etwa 960 Jüdinnen und Juden lebten, dauerte der Prozess etwa nach dem Anschluss im März 1938 noch an. Dort mussten sogar Judenlisten angelegt werden, „um zu erkennen, wer aller Jude ist. Am Land war das schon längst klar.“ Die ersten Übergriffe fanden am Land sehr schnell, schon während der Anschlusstage, statt, Gebäude wurden besetzt und Auslagen leergeräumt.

Reichspogromnacht in St. Pölten

Damit begann auch sichtbar ein Prozess der Beraubung. „Jüdinnen und Juden werden entrechtet und die nachbarschaftliche Gier wird deutlich.“ Bauern, die zuvor von Juden Land gepachtete hatten, wollten dafür nicht mehr zahlen, sondern wollten es selbst besitzen. „Es kam deshalb zu Zusammenschlüssen mit dem Ziel der Arisierung. Auch Bürgermeister und Gemeinden haben massiv nach jüdischem Gut gestrebt.“ Gleichzeitig versuchten ehemalige Konkurrenten, wie ein Weinhändler, das eigene Geschäft zu erweitern.

Arische Hand greift rücksichtslos zu

Innerhalb weniger Tage wurde die „arische Hand“ auf jüdischen Besitz gelegt. Die erste Reaktion war Hilflosigkeit, „weil man oft gar keine Möglichkeit hatte, die Region zu verlassen. Wo soll es hingehen?“ Manche versuchten einen Teil der Schulden, den die lokale Bevölkerung noch bei ihnen hatte, einzusammeln, „um zumindest ein wenig Geld zu bekommen, um ihre Flucht ins Ausland finanzieren zu können, aber die meisten haben nichts bekommen.“ Juden galten fortan als entrechtete Bürger zweiter Klasse.

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Orli Gryngauz
Ausweis des Schülers Kurt „Isreal“ Winkler während seines Aufenthalts in Wien, 1939

Das bekam auch Fritz Hacker, der Sohn von Max und Therese, zu spüren. Nachdem sein Vater 1937 gestorben war, versuchte er für seine 60-jährige Mutter in mehreren Bitt- und Fleh-Briefen an den Bürgermeister etwas Geld zu bekommen. „Sie hatte nichts mehr, das Geschäft mit allem, was drinnen war, die Wohnung, hat man ihr zuvor genommen und es ging darum, den täglichen Bedarf sicherzustellen.“ Doch auf die Briefe wurde nicht einmal geantwortet.

Machtkampf unter NSDAP-Mitgliedern

Dieser Bereicherungsprozess findet aber nicht nur im Kleinen, sondern auch bei Industriebetrieben statt. In Erlach gab es damals etwa eine Wollwarenfabrik der Familie Wolf. Dementsprechend groß war das Interesse der Ariseure, die glaubten von der Übernahme profitieren zu können und den Besitz entsprechend schlecht eingeschätzt hatten. Unter NSDAP-Mitgliedern sei ein wahrer Machtkampf um das industrielle Gut entstanden, sagt Sulzgruber.

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Sammlung Elie Rosen
Erlacher Wollwarenfabrik, Spinnerei

Teilweise hätten Gestapo-Mitglieder mit manchen Bewohnern Erlachs wie Heinrich Heimowitz sogar offen Deals abgeschlossen. Der Eigentümer veräußerte sein Land und bekam dafür Geld für Schiffskarten, um flüchten zu können. „Doch erst aus Briefen, die er aus dem sicheren Ausland geschrieben hat, wird sichtbar, dass ihm das Geld richtig abgepresst worden ist“, erzählt der Historiker. Denn Familienmitglieder waren zur gleichen Zeit inhaftiert und kamen nur frei, wenn bezahlt wurde, „sodass das Überschreiben bzw. die Kaufverträge den Namen gar nicht verdienen.“

Freunderlwirtschaft und Kuhhandel

In diesem Machtsystem entwickelten manche eine wahre Taktik, erklärt Sulzgruber. Zunächst übernahm man die Funktion des Verwalters und verschaffte sich einen Überblick, ob eine Firma oder Fabrik das hergibt, was man sich verspricht. Dann gab man die Funktion ab – „als Verwalter durfte man nicht arisieren“ – und trat am nächsten Tag als Ariseur auf. Durch dieses Netzwerk bzw. Freunderlwirtschaft erhielt man den Zuschlag. „Oft war es auch ein Kuhhandel: Wenn ich nicht das bekomme, dann dafür das.“

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Gemeinde Wiesmath
„… Genehmigung freiwilliger Übertragung“

Doch diesem bürokratischen Prozess wurde Zeit eingeräumt, erklärt Sulzgruber. Diese Abwicklungen finden „in aller Ordentlichkeit statt.“ Jüdische Häuser wurden künftig zu Heimen der Hitler-Jugend, in Erlach bezog der damalige Bürgermeister eine neue Residenz, eine kleine Villa mit Park, die in der Nähe der Wollwarenfabrik lag. Die Vertreibungen fanden erst statt, „als man ihnen alles abgenommen hatte.“

Zweite Phase massiver Gewalt

Die zweite Phase massiver Gewalt gegenüber Juden folgte laut Zeitzeugen im November 1938. In Erlach seien die verbliebenen Juden etwa in Lkw gesetzt und wegtransportiert worden. Der Besitz, den man den Betroffenen abnahm, wurde genau dokumentiert, so auch bei Familie Hacker. „Es gab Listen, wo bis zum kleinsten Häferl alles aufgelistet wurde, aber die Dinge sind dann einfach verschwunden.“

Juden in Wr. Neustadt

Danach wurden die letzten Jüdinnen und Juden, die noch in der Region waren, vertrieben. Manche hatten bereits familiäre Netzwerke aktiviert, damit sie irgendwo unterkommen oder zumindest ihre Kinder in Sicherheit bringen. In Wr. Neustadt wurde zunächst ein Sammellager rund um die ehemalige Synagoge errichtet, von dort ging es dann per Bus oder Bahn nach Wien. „Es hat niemanden interessiert, wohin sie gebracht werden, wichtig war das Eigentum, das hier blieb.“

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 25.2.2022

Bei den Jüdinnen und Juden führte das zu großer Enttäuschung, „dass sich die eigenen Nachbarn anstellen, um etwas zu bekommen oder sogar zu stehlen.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg sei vieles abgestritten worden bzw. verloren gewesen. „Im Bereich des Aufarbeitens ist vieles unter dem Teppich geblieben“, beklagt Sulzgruber, auch die Rückgaben ab 1947 seien nur teilweise erfolgt.

Das Schicksal ist grausam

Bis zum Anschluss 1938 lebten im Wechselland bzw. in der Buckligen Welt etwa 130 Jüdinnen und Juden. Knapp die Hälfte kam in der Shoa um, die andere Hälfte überlebte. „Aber von denen hat niemand mehr den Weg hierher gefunden.“ Ganz ähnlich ist das Schicksal von Familie Hacker. Von der einst fünfköpfigen Familie überlebt nur Sohn Fritz mit seiner Frau. „Nur ein kleiner Teil hat überlebt, der Großteil wurde nach Riga deportiert und dort ermordet.“

Vereinzelt erreichten nach dem Zweiten Weltkrieg Hilfspakete, etwa aus Schweden, die Region – addressiert an Menschen, die den Juden in irgendeiner Weise geholfen haben. „Aber diese Hilfe ist zum Teil ein Mythos, da muss man vorsichtig sein“, betont der Wissenschaftler, weil das nach dem Krieg auch als Ausrede genutzt wurde, als es zur Entnazifizierung kam. „Da wurde viel behauptet. Es gab Zeugen, die aber selbst unglaubwürdig waren.“

Konkret wisse man bei einst 130 Jüdinnen und Juden in der Region von einem bestätigten Fall. In einem Brief bedankte sich der ehemalige Oberrabbiner von Wr. Neustadt bei seinem ehemaligen Nachbarn, dass er ihm etwas abgekauft hatte und ihm dadurch die Flucht ermöglichte. In einem weiteren Fall weiß Sulzgruber zwar, dass ein älteres Ehepaar aus Erlach nach der Arisierung zumindest bis 1942 im Ort geduldet wurde und bis dahin „von irgendjemandem vorsorgt werden musste. Wir wissen aber nicht von wem, das lässt sich nur noch erahnen.“

Fotostrecke mit 10 Bildern

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Jüdisches Leben in der Buckligen Welt, Familenfotos, Hochzeiten
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Jüdisches Leben ist Geschichte"

Betrachtet man jüdisches Leben im Wechselland heute, „dann gibt es das nicht mehr“, sagt Sulzgruber. „Das jüdische Leben ist tatsächlich Geschichte.“ Der Grund dafür ist die Shoa. Zwar lebe mittlerweile wieder die eine oder andere Familie in der Region, „aber das Leben findet so statt, dass man sie nicht erkennt, dahinter steckt eine gewisse Vorsicht.“ Der Glaube werde nicht öffentlich praktiziert. Bei den Familien handelt es sich aber nicht um historische Nachfahren.

Die Eröffnung des Hacker-Hauses 2018 – heute ein Museum, das sich mit der Geschichte der Juden beschäftigt – war aber für manche Nachfahren der Vertriebenen ein Anlass einmal nach Erlach zu kommen. Sulzgruber sieht es als Chance zu zeigen, „dass wir offene Menschen sind, die aus der Geschichte gelernt haben.“ Den Familien konnte man zeigen, wo ihre Vorfahren lebten und wohnten. Und den Vertriebenen wurde mit dem Museum ein Gesicht gegeben, „um zu zeigen, dass jüdisches Leben ein Teil des Landlebens war.“