100 Jahre NÖ Allentsteig Aussiedelung 1939 NS
Franz Lehr
Franz Lehr
„100 Jahre NÖ“

7.000 Waldviertler aus Heimat vertrieben

Schon wenige Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich lassen die Nationalsozialisten bei Allentsteig (Bezirk Zwettl) einen Truppenübungsplatz errichten. Knapp 7.000 Bewohner wurden aus ihrer Heimat vertrieben, 42 Orte entvölkert.

„Sie durften nicht einmal mehr ihre Ernte einbringen, sondern haben nur eine Mitteilung bekommen, dass sie ihre Höfe räumen und ihre Heimat verlassen müssen“, erzählt der Allentsteiger Gemeindehistoriker, Anton Kraus, der sich schon seit Jahrzehnten mit der Aussiedlung befasst.

Am 26. Juni 1938 ordneten die Nazis die Aussiedlung von 42 Dörfern und die Schließung zahlreicher Pfarren an. "Die Leute wurden darüber informiert, „aber es haben offenbar nicht alle bekommen oder zur Kenntnis genommen“, schildert Kraus. Innerhalb von nur sechs Wochen mussten die ersten zehn Ortschaften im inneren Kern des jetzigen Truppenübungsplatzes geräumt sein.

Wehrmacht brauchte Übungsräume

Der Grund: Die Wehrmacht benötigte nach dem Einmarsch in Österreich Übungsräume. Gleichzeitig mit der Aussiedlung wurden deshalb militärische Einrichtungen mit Barackenlagern, Bunkern und Schießplätzen errichtet. Die erste Artillerieschießübung wurde bereits am 8. August 1938 durchgeführt. „Alle haben entsetzt reagiert und gar nicht glauben wollen, was da passieren soll", erzählt Bernhard Lehr, dessen Vater Franz die Zwangsräumung als Jugendlicher miterlebte.

7.000 Waldviertler wurden aus ihrer Heimat vertrieben

Die Bewohnerinnen und Bewohner mussten sich daraufhin eine neue Bleibe suchen. „Mein Vater ist in der näheren und weiteren Umgebung herumgefahren, sogar bis in die Steiermark, aber man stand da schon vor verschlossenen Türen. Viele haben gesagt, ja, ich verkaufe meinen Hof, aber erst nach dem Krieg. Das war furchtbar für unsere Familie“, erzählte Zeitzeugin Stefanie Leuzmezer in einem Interview 1983.

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Döllersheim
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Oberndorf
Franz Lehr
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Privat
Franz Lehr Muckendorf
Franz Lehr
Ersatzhaus von Franz Lehr in Muckendorf
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Franz Lehr
Ausweis von Franz Lehr für das Betreten des Truppenübungsplatzes
100 Jahre NÖ Allentsteig Aussiedelung 1939 NS
Gemeinde Allentsteig
Wohnhäuser in Allentsteig

Zwischen Juni 1938 und Dezember 1941 wurden in vier Phasen etwa 6.800 Menschen aus 42 Ortschaften, 6 Weilern, 10 Mühlen und einigen Einzelgehöften abgesiedelt. Diese Zwangsabsiedelung führte die „Zweigstelle Ostmark der deutschen Ansiedlungsgesellschaft“ mit Sitz in Allentsteig durch, wobei sich die Aktion im Laufe des Krieges immer mehr zur Vertreibung wandelte. Die Betroffenen ließen sich zunächst in der Region, aber auch im Raum Amstetten und sogar im Burgenland oder in der Steiermark nieder.

Ungleiche Entschädigung

„Anfangs gab es noch relativ faire Entschädigungen“, fügt Kraus als positiven Aspekt hinzu. Die späten Aussiedler erhielten während der Kriegszeit eine geringe Entschädigung, die von den NS-Behörden auf ein Sperrkonto gelegt wurde und die erst nach dem Krieg behoben werden konnte. Doch nach dem Zusammenbruch durch die Währungsreform 1945 wurde das Geld nahezu wertlos.

NS-Propagandafilm über Hitlers Vorfahren in Döllersheim

Die Orte selbst wurden zwar entvölkert, aber auf höchsten Befehl verschont, da der Vater Adolf Hitlers in Strones nahe Döllersheim geboren worden war. Auf Grund dieser Verbindung hatten sich viele Bewohner in Döllersheim zunächst einen Aufschwung ihrer Region erhofft. Doch bereits wenige Wochen nach dem Anschluss war der Truppenübungsplatz beschlossene Sache.

Legenden begleiten Standort

Warum dafür ausgerechnet die Region um Allentsteig in Frage kam? „Das ist ein Geheimnis, das man heute nicht mehr ergründen kann“, sagt Kraus. Manche vermuten, dass Hitler dadurch seine ärmliche Herkunft verschleiern wollte. Fest steht laut dem Gemeindehistoriker, dass Hitler das Gebiet kannte und „wusste, dass das Gebiet dünn besiedelt ist, was weniger Widerstand als in anderen Regionen bedeutet“.

Andererseits könnte auch die Topografie des Waldviertels eine Rolle gespielt haben. Denn die deutsche Rüstungsindustrie war auf Panzer ausgelegt. Für die damals wenig motorisierten Truppen brauchte man deshalb „keine Gebiete mit Bergen oder Gebirgen, sondern eines mit Tälern und Hügeln, das für die Kriegsführung im Osten ähnlich gelagert war“. Und dafür sei das Waldviertel prädestiniert gewesen.

Die Wahl fiel letztlich rasch auf das im Waldviertler Zentralraum gelegene sogenannte „Döllersheimer Ländchen“. Die Fläche betrug etwas weniger als 200 km² und reichte im Norden über Allentsteig hinaus bis in den Raum Göpfritz an der Wild, im Westen bis an die Stadtgrenze von Zwettl, im Osten bis in die Gegend um Neupölla und wurde schließlich im Süden vom Kamp-Fluss begrenzt.

Stefanie Leutmezer erinnert sich an die Aussiedlung

35.000 Soldaten üben für den Krieg

1941/42 wurde das Gebiet zum Heeresgutsbezirk erklärt und damit gemeindefrei. Im Durchschnitt befanden sich auf dem Übungsplatz 30.000 bis 35.000 Soldaten. Er war damit einer der am stärksten belegten Übungsplätze im Deutschen Reich. Die Wehrmacht führte ab nun Gefechtsausbildung bis Divisionsstärke mit Schwerpunkt Artillerieschießen durch.

Anlässlich des Einmarsches der Wehrmacht in die Tschechoslowakei wurde ein „Sammellager für Beutegut“ am Tüpl eingerichtet. In den weiteren Jahren bis 1945 diente das Areal auch zur Auf- und Zusammenstellung von Großverbänden für die verschiedenen Kriegsschauplätze, bevor sie an die Front verlegt wurden. Weiters befanden sich einige Gefangenenlager am Tüpl-Gelände, das bekannteste war jenes für französische Offiziere in Edelbach.

100 Jahre NÖ Allentsteig Aussiedelung 1939 NS Edelbach
Gemeinde Allentsteig
Das Kriegsgefangenenlager in Edelbach

Hoffnung auf Rückkehr

Am 9. Mai 1945 besetzten russische Truppen das Tüpl-Areal. In den folgenden Monaten bestand kurz Hoffnung, dass die Sowjets eine Rückkehr der Ausgesiedelten ermöglichen könnten. 80 Prozent der Vertriebenen sollen sich dafür auf einer Liste eingetragen haben, erzählt Bernhard Lehr. Doch im März 1946 erklärten die Sowjets den Tüpl-Döllersheim als „Deutsches Eigentum“, übernahmen die Verwaltung und gliederten ihn in die USIA-Betriebe ein.

Die Sowjetarmee wickelte daraufhin am Truppenübungsplatz ebenfalls den Übungsbetrieb für ihre in Niederösterreich stationierten Truppen bis zum Abzug 1955 ab. Zeitweise waren dort bis zu 60.000 russische Soldaten stationiert. Die ehemaligen Gefangenenlager am Areal wurden nun Sammel- und Durchgangslager für Angehörige der ehemaligen Wehrmacht vor der langen Fahrt in die sowjetische Kriegsgefangenschaft.

Johann Weixelberger spricht über die Aussiedlung

Die von der Deutschen Wehrmacht fast unzerstört hinterlassenen Baulichkeiten der entvölkerten Dörfer wurden in dieser Phase sukzessive zerstört. Zum einen durch Artillerieübungen der Russen, zum anderen hatten die Besatzer auf Grund der Materialnot Teile der Häuser als Baumaterial am Schwarzmarkt verkauft, erinnert sich Kraus: „Holz, Dachziegel – ein Großteil der Orte wurden von österreichischen Bewohnern zur weiteren Bebauung ihrer Häuser verwendet.“

650 Entschädigungsanträge

Bis Ende 1955 langten beim Kreisgericht in Krems etwa 650 Anträge auf Rückstellung früheren Eigentums auf dem Areal des Übungsplatzes ein. Zu den Antragstellern gehörten auch das Stift Zwettl und die Windhag’sche Stipendienstiftung. Die vom Land verwaltete Stipendienstiftung erhielt als Ausgleich für die Ländereien in Großpoppen und Rausmanns einen wesentlich größeren Gebietsstreifen mit der Burg Ottenstein und dem Schloss Waldreichs nördlich des Kamp im Süden des Truppenübungsplatzes.

Damit wurde der ursprüngliche Tüpl etwas verkleinert. Doch Private gingen laut Kraus leer aus: „Viele dürften auch gar nicht gewusst haben, wie sie das bewerkstelligen.“ Denn viele glaubten, von den Deutschen ohnehin entschädigt worden zu sein. „Auch wenn das Geld am Sparbuch lag und man darauf nicht zugreifen konnte, aber der Einzelne kannte sich in der Gesetzeslage nicht so gut aus.“

Eine kleine Wiedergutmachung in Döllersheim

Wiederansiedlung gescheitert

Nach Abzug der Sowjettruppen ging das Areal an den neuen Staat Österreich. Studien befassten sich mit der Erstellung von Plänen zur Nutzung des ehemaligen Tüpl-Döllersheim. Vor allem die Landwirtschaftskammer und einige Politiker setzten sich für die Wiederbesiedelung des Gebietes mit Bauernfamilien auf neuerrichteten Bauernhöfen ein. So sollten zehn bis zwölf neue Dörfer mit jeweils 300 bis 400 Einwohnern inklusive Gehöfte entstehen.

Doch eine Rückführung des völlig verwüsteten und von Blindgängern verseuchten Gebietes überstieg die damaligen finanziellen Möglichkeiten. Nach wie vor wurden laut Bundesheer pro Jahr 100 Blindgänger auf dem Gelände gefunden. Zudem benötige auch das wiedererstandene Bundesheer dringend Übungsräume. Mit 8. Mai 1957 wurden 157 km² des ehemaligen Tüpl-Döllersheim ans Bundesheer übergeben und die Bezeichnung auf Tüpl-Allentsteig geändert.

Erste Bundesheer-Manöver nach der Übernahme des Truppenübungsplatzes

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 4.3.2022

Heute benützen Bundesheereinheiten aus dem gesamten Bundesgebiet den Tüpl. Mit seinen 157 Quadratkilometern ist er fast genauso groß wie das Fürstentum Liechtenstein. Rund 30.000 Soldaten kommen pro Jahr auf den Übungsplatz. Zudem ist in der „Liechtensteinkaserne“ die Panzerartillerieeinheit stationiert.

Im Zuge der Staatsvertragsdurchführungsgesetze 1957 beschloss die Regierung unter Julius Raab, dass Aussiedler kein Recht mehr auf ihren früheren Besitz hatten. Die bisher gemeindefreie Fläche wurden wieder Gemeinden zugeordnet, nämlich Allentsteig im Norden, Göpfritz an der Wild im Nordosten, Röhrenbach im Osten, Pölla im Südosten und Zwettl-Niederösterreich im Westen.

Orte für die Geschichtsbücher

Jedes Jahr zu Allerseelen trifft sich die stetig kleiner werdende Aussiedler-Gemeinde in Döllersheim, wo Kirche und Friedhof als öffentliches Mahnmal dienen. Die anderen Dörfer am Rand und innerhalb des Truppenübungsplatzes wie Wurmbach, Edelbach, Groß-Poppen, Kühbach, Mestreichs, Thaures, Schlagles, Neunzen, Kleinmotten oder Kleinhaselbach sind verschwunden und nur noch in Geschichtsbüchern nachzulesen.

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ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
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Stadtgemeinde Allentsteig
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Selbst die noch verbliebenen Ruinen existieren nur noch für einen kleinen Personenkreis – denn sie liegen innerhalb von militärischem Sperrgebiet. Einige Höfe und Streusiedlungen haben am Grund des Ottensteiner Stausees ihre letzte Ruhestätte gefunden.