100 Jahre NÖ 1941 Arbeitslager Stalag Gneixendorf Keil
BIK/Slg. Stalag XVII B
BIK/Slg. Stalag XVII B
„100 Jahre NÖ“

„In fast jedem Ort gab es Zwangsarbeiter“

60.000 Kriegsgefangene sind im Zweiten Weltkrieg im Lager „Stalag XVII B“ in Krems-Gneixendorf untergebracht gewesen. In Niederösterreich gab es damals mehr als 370 NS-Lager bzw. lagerähnliche Quartiere für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.

Ein aufgelassener Bahnübergang neben einer Landesstraße zwischen Pulkau und Klein-Jetzelsdorf (beide Bezirk Hollabrunn), überwachsene Gleise und einzelne Mauerreste von Aufenthaltsgebäuden – nur das erinnert heute noch an das ehemalige Zwangsarbeitslager von Pulkau, das an einen Steinbruch angeschlossen war. Ab 1944 wurden hier ungarische Juden untergebracht.

Das Lager war klein, etwa 30 Personen waren dort untergebracht. Die Bewachung bestand nur aus einem alten Mann mit einem Schäferhund. In Pulkau ging es nicht um Vernichtung, aber es ging trotzdem ums Leben. Drei Menschen bekamen zusammen ein Viertel Laib Brot, dazu eine Kartoffel pro Kopf. Im Winter gab es Sauerkraut, das im März faul war, berichtete eine Zeitzeugin.

NS Lager Pulkau
ORF
Heute erinnern nur noch Ruinen an das ehemalige Zwangsarbeitslager in Pulkau

Harte Arbeit

Dazu kam die harte Arbeit. Am späten Nachmittag wurde immer gesprengt, am nächsten Tag musste dann jeder Zwangsarbeiter drei kleine Waggons mit Steinen anfüllen. Wenn große Steine vorhanden waren, musste man diese zuerst zerschlagen. Die Bevölkerung wurde zum Wegschauen angehalten. Auch wenn sich nicht alle daran hielten, geriet das Lager in der Bevölkerung in Vergessenheit.

Das Lager in Pulkau ist nur eines von mehr als 370 Arbeitslagern in Niederösterreich, die mittlerweile vom Bundesdenkmalamt dokumentiert sind, darunter auch jene in Melk, Gneixendorf oder bei der Glanzstofffabrik in St. Pölten. „Aber es gab x-mal mehr davon“, betont Martha Keil, Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten, die gemeinsam mit der Donau-Universität Krems gezielt nach solch bisher unbekannten Unterkünften sucht.

Auswahl dokumentierter NS-Lager in Österreich

Für Landwirtschaft unabdingbar

Denn eine Vielzahl an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen wurde nicht in großen Lagern, sondern bei kleineren Betrieben oder bei landwirtschaftlichen Familien eingesetzt – etwa als Ersatz für die männlichen Landwirte, die an der Front kämpfen mussten. „Die Landwirtschaft hätte ohne Zwangsarbeiter nicht stattfinden können“, schildert Keil.

Obwohl das Projekt erst heuer startete, gab es laut der Historikerin schon viele Hinweise auf ehemalige lagerähnliche Unterkünfte, die oft nur aus zwei, drei Baracken bestanden, die aber längst abgerissen wurden. Keil nennt in diesem Zusammenhang Beispiele aus Gföhl (Bezirk Krems), Hainfeld oder Traisen (beide Bezirk Lilienfeld) und betont: „Es hat damals kaum einen Ort gegeben, wo nicht Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene eingesetzt waren.“

Gerasdorfer Ehrenbürgerschaft für ehemaligen Zwangsarbeiter

Die Zwangsarbeiter wurden nach einem offiziellen Antrag über die Arbeitsämter zugewiesen, die mit den NS-Behörden kooperierten und jeweils Kontingente erhielten. Rüstungsbetriebe wurden zwar bevorzugt, vor allem beim Einsatz von KZ-Häftlingen, aber auch die Landwirtschaft wurde bedient. „Der Reichsnährstand hatte ein Interesse, dass es keine Revolten gibt, weil die Leute hungern müssten, deshalb war es ganz wichtig, die Versorgung aufrechtzuerhalten.“

60.000 Kriegsgefangene

Das größte Kriegsgefangenenlager errichtete die Wehrmacht ab September 1939 in Gneixendorf bei Krems. Ende Oktober wurde dieses zum Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager erklärt, kurz STALAG (von Stammlager) genannt. Insgesamt gab es Platz für etwa 19.200 Soldaten. Allerdings waren um ein Vielfaches mehr, nämlich bis zu 60.000 Kriegsgefangene, untergebracht – davon circa 4.000 Unteroffiziere der amerikanischen Luftwaffe.

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Das Stalag XVII B Krems-Gneixendorf nach der Evakuierung der gehfähigen Kriegsgefangenen im April 1945
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Französische Kriegsgefangene beim Suppefassen im Stalag XVII B. Mai 1941
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Blick aus einem Wachturm auf die Lagerstrase im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf
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Im amerikanischen Sektor im Stalag XVII B
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Französische Kriegsgefangene in der Baracke ihres Vertrauensmannes im Stalag XVII B

„Stalag XVII B“ war kein Vernichtungslager der Nationalsozialisten, hier war die Arbeitskraft der Gefangenen wichtig. Jeder zehnte der sowjetischen Kriegsgefangenen überlebte die Haft nicht, sie wurden auch aus ideologischen Gründen von den Nazis schlechter behandelt als andere Gefangene. Jene aus Osteuropa wurden völlig unzureichend versorgt und waren Krankheiten und Seuchen ausgesetzt.

Kriegsgefangene der Westmächte wurden hingegen weitgehend nach den Regeln des humanitären Völkerrechtes behandelt. „Das hat auf der anderen Seite für sie wieder bedeutet, dass der Lageralltag eher von Langeweile geprägt war“, erklärt Barbara Stelzl-Marx vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, „sie mussten sich organisieren, um keinen Lagerkoller zu bekommen."

Spurensuche im Kriegsgefangenenlager

Jedes Kriegsgefangenenlager hatte eine eigene Lagerbezeichnung: Der Name „Stalag XVII B“ für Gneixendorf setzte sich aus dem Lagertyp (STALAG), der römischen Ziffer des jeweiligen Wehrkreises (XVII für den Wehrkreis Wien) und einem Großbuchstaben je nach Reihenfolge der Errichtung des Lagers zusammen. Da der Buchstabe A bereits für ein Kriegsgefangenenlager in Kaisersteinbruch vergeben war, erhielt das Lager in Gneixendorf die Lagerbezeichnung STALAG XVII B.

Anerkennung für Zwangsarbeit

In anderen Lagern wurden als jüdisch kategorisierte Verschleppte, Roma und Sinti oder politische Gefangene zur Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben oder für Infrastruktur eingesetzt. Ohne deren Einsatz würden heute viele Gebäude, Brücken oder auch Autobahnen nicht existieren, betont Keil, die Anerkennung fordert, "dass dieses Stadt- oder Ortsbild von Zwangsarbeitern gebaut wurde. Denn viele Menschen überlebten die Strapazen der Zwangsarbeit nicht.“

Die Betroffenen waren jedoch schutz- und rechtlos. Die Unterkünfte waren laut Keil „höchst ungenügend“. Manche konnten im Haus leben, die meisten aber in Ställen oder Scheunen, die hart und im Winter kalt waren. Im Lager der Glanzstofffabrik in Viehofen (St. Pölten) wurden Frauen misshandelt und Zwangsarbeiter medizinisch so mangelhaft versorgt, „dass man schon fast von Folter reden kann“.

NS Lager Viehofen
Magistrat St. Pölten
Amerikanisches Luftbild vom Arbeitslager in Viehofen, vermutlich am 2. April 1945 aufgenommen

In jedem Ort gab es laut Keil aber auch Menschen, die den Betroffenen geholfen und damit passiven Widerstand geleistet haben, etwa indem sie ihnen Essen zugesteckt haben. Ein Beispiel dafür sei eine Bauernfamilie in St. Pölten gewesen, wo für die Flussregulierung der Traisen Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Deren Kinder konnten zwar nicht zur Arbeit verpflichtet werden, hatten deshalb aber auch kein Essen. „Die Wachmannschaft war der Meinung, wer nichts arbeitet, bekommt auch kein Essen.“ Die Bauernfamilie versorgte die Kinder deshalb mit.

Ostarbeiter waren „Untermenschen“

Der Kontakt zwischen der Bevölkerung und den Zwangsarbeitern war zwar generell verboten, trotzdem wurden Zwangsarbeiter aus dem Westen und Osten unterschiedlich behandelt. „Die Ostarbeiter waren zusätzlich als ‚Untermenschen‘ stigmatisiert, das war durch Armbinden auch erkennbar“, erzählt Keil. Gerade in kleinen Dörfern sei das von den „Nazi-Bürgermeistern“ auch kontrolliert worden, „dass keine Verbrüderung stattfindet“.

Unerforschte NS-Lager in Niederösterreich

Doch es gibt andere Beispiele, erinnert sich Keil an ein Gespräch mit einer Frau. Deren Familie habe mit ihren drei Zwangsarbeitern immer gemeinsam am Tisch gegessen. Damit es keine Probleme gab, wurde der Tisch schließlich in ein uneinsichtiges Eck geschoben. Und auch für die Kinder seien männliche Zwangsarbeiter oft ein wichtiger Ansprechpartner bzw. ein „Vater-Ersatz“ gewesen, weil die eigenen Väter im Krieg waren.

„Wer ist mein Großvater?“

Und nicht selten entstanden aus solchen Beziehungen auch Kinder. Das führte vor allem nach dem Krieg zu Problemen, als die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen wieder in ihre Heimat zurückkehrten und die Frauen mit ihren Kindern bzw. Schwangere alleine zurückblieben. "Das sind oft ganz schmerzhafte Geschichten, die Frage ‚Wer ist mein Großvater?‘, ‚Wie kann ich ihn oder Halbgeschwister finden?‘.“

Laut Keil wurde über solche Fragen bzw. über die vielen Zwangsarbeitslager geschwiegen. Doch nun sei die „Generation der Misshandler unter der Erde“ und die Enkelgeneration wolle mehr über die damalige Zeit wissen: Stimmt das Narrativ von der glücklichen Familiengemeinschaft mit Zwangsarbeitern oder wurde da eine Beschönigung betrieben? „Wir als Historiker sind auch keine Richter, sondern wollen verstehen, wie es dazu gekommen ist.“

Zeit der verdichteten Verbrechen

Ein großes Tabuthema ist für Keil nach wie vor die Situation der Zwangsarbeiter am Ende des Zweiten Weltkrieges, „weil das mit Endphaseverbrechen, Morden und Gemetzel verbunden ist“. Die Zeit zwischen Mitte April bis Kriegsende am 8. Mai 1945 bezeichnet die Historikerin als „Zeit der verdichteten Verbrechen“. Schuld daran sei vor allem die Waffen-SS, „die wusste, dass der Krieg verloren war und Rache nehmen wollte“.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 11.3.2022

Laut drei Erzählungen, die Keil erhielt, wurden deshalb gerade Russen gezielt aufgespürt, aus den Betrieben und Bauernhöfen getrieben und in den Wäldern erschossen. Diese Exekutionen fanden bis kurz vor der Kapitulation statt. In einem Fall konnten zwei Männer jedoch entkommen und baten ihren früheren Arbeitgeber, ob er sie am Dachboden verstecken könne, bis die Rote Armee da war, was dieser laut Keil auch machte.

Karin Klenka erinnert sich an die Zwangsarbeiter am Hof ihrer Eltern

Dass diese Verbrechen bis heute zu den „größten Tabus“ gehören, liegt laut Keil daran, "dass man die Täter gerade in kleinen Orten kannte und Angst vor ihnen hatte“. Schließlich war eine Vielzahl an ehemaligen Tätern nach dem Krieg auch erfolgreich in politischen Funktionen tätig. Vereinzelt nahmen Zwangsarbeiter nach Kriegsende selbst Rache an ihren früheren Peinigern und quälten diese während der sowjetischen Besatzung, weiß Keil.

Kontakt zum Forschungsprojekt

Das Projekt „NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreichs“ will bisher unbekanntes Wissen ans Tageslicht bringen. Informationen können an das Institut für jüdische Geschichte Österreichs gerichtet werden bzw. an Martha Keil unter 02742/77171-0 oder martha.keil@injoest.ac.at.

Weiße Flecken auf der historischen Landkarte

Doch knapp acht Jahrzehnte nach Kriegsende existieren noch immer weiße Flecken auf der historischen Landkarte, gerade rund um Zwangsarbeiter auf Bauernhöfen, Baustellen und bei Unternehmen. Das mit Jahresbeginn gestartete Forschungsprojekt unter Leitung des St. Pöltner „Instituts für jüdische Geschichte Österreichs“ will mit Hilfe der Bevölkerung Hinweise auf vergessene Lager sammeln und die Geschichten älterer Generationen aufzeichnen.

Zugleich will man damit das stetige Vergessen bremsen. In Bruck an der Leitha sind etwa ehemalige Baracken auch heute noch bewohnt, es fehlt jedoch das Wissen um die Geschichte. In St. Aegyd (Bezirk Lilienfeld) befindet sich am Standort des KZ-Außenlagers eine Siedlung mit Einfamilienhäusern. Und selbst in Gneixendorf erinnert bis auf einen Gedenkstein an der Zufahrt zum Flugplatz und Erinnerungstafeln kaum noch etwas an das Gefangenenlager – die Erinnerung verblasst.