Es war „wie eine andere Welt“, in die die damals sechsjährige Marianne Sühle 1941 kam: Von der deutschen Großstadt Hannover ins tiefste Waldviertel nach Langschlag (Bezirk Zwettl). Im Ort lebten damals fast nur Frauen, die alle dunkel und mit einem Kopftuch gekleidet waren. Die Männer waren im Krieg. „Und sprachlich hat man sich auch nicht wirklich verstanden“, erzählt Historiker Markus Holzweber, dessen Großmutter Marianne Sühle bei sich aufgenommen hatte.
Sie war eines der ersten Kinder, die inmitten des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Reich von einem Teil des Landes in einen anderen gebracht wurden. Ihre Heimat Hannover war ab Anfang Februar 1941 mit den ersten schweren Luftangriffen konfrontiert – mit mehr als 100 Toten. Mit Hilfe der erweiterten Kinderlandverschickung wollte man die „Zukunft des Reiches“ – die Kinder – schützen.

Schrecken des Krieges vergessen
Auf Anordnung des „Führers“ sollte sich die Jugend in ruhigen Gegenden erholen und so die Schrecken des Krieges vergessen können. Das Wort „Evakuierung“ wurde möglichst vermieden, um die prekär gewordene Lage des Reiches zu verschweigen. Deshalb griff man auf den bereits bekannten Begriff Kinderlandverschickung (KLV) zurück, der schon nach dem Ersten Weltkrieg geprägt wurde.
Getragen wurden diese Maßnahme von der NSDAP und ihren Untergliederungen, etwa der Hitlerjugend (HJ) für Kinder von zehn bis 14 Jahren und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) für Kinder von sechs bis zehn Jahren. Das Ziel in den KLV-Lagern war – neben dem Schutz – auch die „Indoktrination im nationalsozialistischen Sinn“, betont Holzweber, der die Unterbringung in Niederösterreich auch wissenschaftlich aufgearbeitet hat.

Die Dauer der Verschickung wurde zuerst nicht explizit angesprochen, um die Eltern der Kinder nicht zu beunruhigen. Viele wollten ihr Kind nicht aus „der Hand geben“, aber die Werbung der Nationalsozialisten, die Lebensmittelknappheit und die Bedrohung aus der Luft ließen ihnen oftmals keine andere Wahl. Zunächst war jedoch von sechs oder acht Wochen die Rede, 1941 wurde die Dauer auf sechs bis neun Monate festgelegt.
„Spitze aller Ostmarkgaue“
Der Gau Niederdonau galt als sicher, die Aufnahmekapazität wurde mit 10.000 Personen festgelegt. Gauleiter Hugo Jury sprach im Juli 1941 davon, dass Niederdonau „mit seinen mehr als 200 Lagern und über 20.000 Verschickungen an die Spitze aller Ostmarkgaue marschierte.“ In Frage kamen dafür vor allem bekannte Fremdenverkehrsregionen wie Kamptal, Semmering, Prein an der Rax (beide Bezirk Neunkirchen) oder Hollenstein (Bezirk Amstetten). „Überall dort, wo man glaubte, dass Kinder gut verpflegt werden können“, sagt der Historiker.

Die Wirte profitierten davon, waren die Unterkünfte schließlich trotz Krieges nun ganzjährig ausgelastet. Für die Verpflegung der Kinder erhielten die Gastfamilien – zusätzlich zu den dem Kind zustehenden Lebensmittelmarken – einen Unkostenbeitrag in der Höhe von zwei Reichsmark pro Kind und Tag. Etwa 4.000 Kinder aus Hannover fanden im Reichsgau Niederdonau eine Bleibe.
20 stramme Burschen und Mädchen
Für Marianne Sühle arrangierte ihre Mutter die nötigen Vorbereitungen. Eine Erholungsreise wurde für notwendig erachtet, da das Kind zart sei und eine Luftveränderung brauchen könne. Mitte März kamen schließlich „zwanzig stramme deutsche Buben und Mädel aus dem luftgefährdeten Hannover" am Bahnhof an und waren "bei uns zu Gaste“, schrieb damals etwa die Zeitschrift „Donauwacht“.

Der Schulbesuch war für die Gruppe der Sechs- bis Zehnjährigen auch in der Fremde erwünscht, die Kinder sollten „tunlichst am Schulunterricht der Schule ihres Unterbringungsortes teilnehmen.“ Doch für Sühle war er nur von kurzer Dauer, denn das Kind aus Hannover verstand kein Wort. „Alle anderen haben geredet, ich habe niemanden verstanden“, erzählte sie später gegenüber Holzweber. Die Pflegemutter nahm sie deshalb nach drei Tagen wieder aus der Schule heraus.
Ungewohnte Sitten und Gebräuche
Doch nicht nur der ungewohnte Dialekt war für Sühle unverständlich, auch lernte sie sehr rasch den Unterschied zwischen „städtischer“ und „ländlicher“ Bekleidungsordnung kennen. Die Schwiegermutter ihrer neuen Pflegemutter ließ nämlich sofort den Saum des Rocks hinunter, sodass er etwa zehn Zentimeter länger wurde und die Knie bedeckte. Die Begründung: Das sieht schöner aus.
Der Tagesablauf gestaltete sich wenig abwechslungsreich. Bei der tagtäglichen Arbeit begleitete Sühle die Pflegemutter im Haushalt, Garten, Stall und Feld. Und mit der Zeit war sie „zu Hause in diesem einfachen kleinen Leben“. Vom Krieg bekam das Mädchen in Langschlag nichts mit. „Wir hatten ausreichend zu essen, man konnte mit der Bahn in den nächsten Ort fahren. Man konnte in der Nacht durchschlafen, es war ein Leben wie im Frieden.“
Bombenangriffe erreichen Wien
Ab Oktober 1943 – als die Bombenangriffe auch Wien und Niederdonau erreichten – wurde auch die Verschickung in geschlossenen Schulverbänden angeordnet. Ab Anfang 1944 betraf das auch die Wiener Schulen. Daraufhin wurden ganze Schulklassen inklusive der Lehrer verlegt, so etwa das Gymnasium in der Rahlgasse nach Prein an der Rax. Es dürften etwa 165 solcher KLV-Lager mit Wiener Kindern existiert haben.
Die Tagesstruktur war dort genau geplant. Am Vormittag fand der Unterricht statt, und auch am Nachmittag gab es einen fixen Zeitplan mit Lerneinheiten, Jause oder einer Putz- und Flickstunde. Die Zeit, die die Schülerinnen des Wiener Mädchengymnasiums Rahlgasse dann in Prein an der Rax verbrachten, war geprägt von „Kollegialität, Angst um die Eltern, die den Bombenangriffen ausgesetzt waren“, Alltag, aber eben auch Indoktrination, schildert Holzweber, der auch die Redaktion der Zeitschrift „Das Waldviertel“ leitet.

Ein Abenteuer im Krieg
Doch die meisten beschrieben diese Zeit im Nachhinein als Abenteuer und „eine schöne Zeit“. Immerhin waren die Kinder viel in der Natur, auch der Unterricht fand oft draußen statt. „Gerade für Stadtkinder war das etwas Besonderes und es gab ein Gemeinschaftsgefühl, das sie sonst nicht hatten“, ergänzt der Historiker. Zudem gab es immer wieder Ausflüge etwa zum Skifahren, mit dem KLV-Dampfer auf der Donau oder nach Wien.
Auch konnten die Schüler von Prein etwa einmal pro Woche nach Wien zu ihren Eltern fahren. In Laa an der Thaya (Bezirk Mistelbach) und Waidhofen an der Ybbs gab es etwa Speziallager, die einen musischen Schwerpunkt hatten. Die NS-Indoktrination war je nach Lagerleitung strenger oder laxer, erzählt Holzwerber. Zudem waren sie in den Lagern bis zum Schluss „ganz gut versorgt“. Am Ostersonntag 1945 soll es sogar noch Schweinsbraten gegeben haben, „worauf sich alle gefreut haben.“

„Elternbrief“ aus den Lagern
Nachrichten über das Wohlergehen der Kinder erhielten die Eltern in erster Linie aus den Regionalzeitungen. Ein eigener „Elternbrief“ aus den KLV-Lagern eines Reichsgaues informierte die Eltern über das dortige Geschehen. Die positive Berichterstattung über das sorglose Leben in den Lagern diente dazu, den Eltern zu versichern, dass es ihren Kindern gut gehe.
In den Lagen waren die Kinder vor dem Krieg geschützt – zumindest bis kurz vor Kriegsende. Denn in den letzten Kriegswochen, vor allem nach Ostern, kam für die Kinder im Industrieviertel die Frontlinie immer näher. Daraufhin lösten sich die Lager auf. Weil der Bahnverkehr nicht mehr reibungslos lief, organisierten Wiener Eltern für ihre Kinder, die am Semmering untergebracht waren, etwa einen Zugtransport.
Kinder spazierten durch Frontlinie
Doch dabei spazierten die Kinder unfreiwillig direkt durch die Frontlinie zwischen den Deutschen und den Russen, wie Markus Reisner von der Militärakademie Wiener Neustadt erzählt. Zunächst hörten die Soldaten Kindergesang, die Gefechte stoppten für kurze Zeit, „und plötzlich sehen sie wie eine Kinderschar die Bahnlinie entlang bei ihnen Richtung Stadt vorbeimarschiert.“ Nachdem die Kinder weg waren, wurden die Kämpfe fortgesetzt.
Die Kinder aus Prein flohen unter der Obhut ihrer Lehrerinnen hingegen auf abenteuerliche Weise nach Kaprun (Salzburg). Zunächst liefen sie den Russen entgegen, danach ging es über die Steiermark Richtung Westen. „Und dort haben sie das Kriegsende erlebt“, schildert Holzweber. Doch bis sie zurück nach Wien konnten, dauerte es noch bis in den Herbst. „Teilweise wussten die Eltern gar nicht, wo ihre Kinder waren.“

Erst mit den ersten Zügen, die über die Zonengrenzen fuhren, konnten die Kinder zurück. „Manche haben erzählt, dass sie später heimgekommen sind als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft.“ Doch im Unterschied zu den Jugendlichen in Wien waren die Kinder „relativ gut ernährt“, teilweise wurden sie in Wien dafür als „ausgefressener Fratz“ beschimpft.
Norwegen statt Niederdonau
Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs neuerlich die Versorgung in Wien nahezu zusammenbrach, liefen insbesondere ab 1946 erneut Kinderverschickungen an. Zum Teil knüpften die Aktionen auf Organisationen und Persönlichkeiten an, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg in der Kinderhilfe engagiert waren. Die Caritas organisierte von 1947 bis 1958 37.000 Verschickungen von Kindern im Alter bis zu zehn Jahren ins Ausland.
Die hungernden Kinder fanden in der Schweiz, Dänemark, Schweden, Norwegen und Belgien Unterkunft. Manchmal war es dieselbe Familie, die nach dem Ersten Weltkrieg bereits die Eltern der jetzigen Pflegekinder aufgenommen hatten. Ab 1949 kam es auch zu Kinderverschickungen in die Rechtsdiktaturen in Spanien und Portugal, was von der österreichischen Regierung toleriert, von den jeweiligen Regimen propagandistisch ausgeschlachtet wurde.
Ungewohntes Nazi-Bild
Trotz der humanitären Hilfe für die Kinder wurde das Thema Kinderlandverschickung in Österreich lange Zeit kaum beachtet bzw. wissenschaftlich erforscht. Laut Holzweber war es schwierig diese Maßnahme zu bewerten: „Normalerweise hat man vom Nationalsozialismus ein klares Bild, das böse ist, und da gab es nun eine Maßnahme im Krieg zur Rettung der Kinder, die positiv war.“

Gleichzeitig hatten eben viele Kinder positive Eindrücke und Erinnerungen an diese Zeit. Für die Jugendlichen war es oft ein Abenteuer und „ein Leben, wie sie es sonst nie erlebt hätten.“ Viele davon besuchten ihre Lagerorte deshalb auch nach dem Krieg immer wieder und hielten auch zu ihren ehemaligen Pflegeeltern Kontakt.
Mit etwas Verspätung war das auch bei Marianne Sühle und ihrer Pflegemutter Leopoldine Mayrhofer der Fall. Nach dem schmerzhaften Abschied im Oktober 1941 riss der Kontakt ab, doch 30 Jahre später stand Sühle plötzlich mit ihrem Mann in Langschlag, erzählt Holzweber. Es folgten einige Besuche und eine langjährige Freundschaft.
Richard Lugner erinnert sich an seine Zeit im Lager
Sendungshinweis
„NÖ heute“, 21.3.2022
Gegenseitiger Halt
Schließlich hatten sich die beiden während des Krieges gegenseitig geholfen bzw. gestützt. Als die Pflegemutter eines Tages sagte, „jetzt haben wir nur mehr uns beide“, wusste Sühle, dass der Pflegevater nun auch in die Wehrmacht eingezogen wurde. „Die Oma wollte sie dann auch nicht mehr hergeben und hat die Rückreise immer wieder verzögert“, schildert Enkel Holzweber.
Mit Jahrzehnten des Abstands beurteilte Marianne Sühle diese Erlebnisse als Bereicherung. Die Verschickung und die damit verbundene Trennung von den Eltern sei zwar eine schmerzvolle Erfahrung gewesen. Aber gerade das gehörte zum Krieg: „Die wiederholte Trennung von nahestehenden Personen wurde damals auch für Kinder schon zur Selbstverständlichkeit.“ Bei einer Kindheit im Krieg sei Anpassung immer und überall notwendig gewesen.