100 Jahre NÖ 1945 Endphaseverbrechen 2. WK Krems Stei
Archiv Robert Streibel
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„100 Jahre NÖ“

Das wahllose Massaker der Nazis im Zuchthaus

Als die „Rote Armee“ Ende März 1945 die Grenze überschritt, zeichnete sich das Ende des NS-Regimes ab. SS- und NSDAP-Mitglieder reagierten mit Massenerschießungen. Das schlimmste Verbrechen der „Ostmark“ ereignete sich im Zuchthaus Stein.

6. April 1945 – an diesem Tag herrschte eine ungewohnt „fröhliche, gelöste Stimmung“ unter den Gefangenen im Zuchthaus Stein, schilderte später einmal einer der Insassen, Gerasimos Garnelis. Denn die Häftlinge, darunter viele Griechen, sollten entlassen werden. Von der Früh weg wurden sie deshalb mit Privatkleidung ausgestattet. Das Mittagessen wurde extra vorverlegt.

Im Hof kam es bei der Ausgabe der Kleidersäcke „zu einer gewissen Unruhe“, erzählt Historiker Robert Streibel, da viele ihren Kleidersack nicht vorfanden und Kleidungsstücke nahmen, die ihnen nicht gehörten. „Viele Häftlinge sprachen gar nicht Deutsch.“ Deshalb ließ der Verwaltungsinspektor Gewehre der Torwache an einige politische Häftlinge ausgeben, die für Ordnung und Disziplin sorgen sollten.

Größtes Gefängnis der „Ostmark“

Die damals als „Zuchthaus“ bezeichnete Justizanstalt Stein war während des NS-Regimes das größte Gefängnis der „Ostmark“. Kurz vor Kriegsende waren dort 1.800 bis 2.000 Menschen inhaftiert. Ein Großteil der Gefangenen bestand aus Kriminellen, der Rest aus Regimegegnern und anderen politisch Missliebigen. Für die Inhaftierung genügte oft eine regimekritische Äußerung. Die meisten Häftlinge stammten aus Österreich, Tschechien, Kroatien und Griechenland.

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Häftlinge im Zuchthaus Stein in den 1940er Jahren

Weil die Rote Armee immer näher kam, wurde im Februar 1945 in der Justizbehörde in Wien ein Schreiben an die Leiter der NS-Strafanstalten verschickt, mit der vagen Aufforderung, „bei Feindannäherung gewöhnliche“ Kriminelle zu entlassen und politische Häftlinge aus dem Frontbereich abzutransportieren. Sollte ein Abtransport nicht möglich sein, wären politische Häftlinge zu töten.

Durch die Bombardierung des Bahnhofs Krems Anfang 1945 verschärfte sich auch in der Justizanstalt die Lebensmittelversorgung. Der Direktor gab seinem Mitarbeiter deshalb am 5. April die Weisung, möglichst viele Häftlinge zu entlassen. Vom Justizministerium kam die Ermächtigung, „nicht asoziale Häftlinge“ zu entlassen, soweit es sich nicht um „schwerere Fälle politischer oder krimineller Art“ handle. Die übrigen Häftlinge sollten nach München transportiert werden.

„Revolte“ im Zuchthaus

Der Anstaltsleiter beschloss angesichts dieser schriftlichen Ermächtigung, bei der Entlassung großzügig vorzugehen, „dass alle freigelassen werden sollen“, ergänzt Streibel. Doch damit waren nicht alle Aufseher einverstanden. Ein Vollzugsbediensteter rief die Kreisleitung der NSDAP in Krems an und teilte mit, dass in der Strafanstalt eine „Revolte“ ausgebrochen sei. Gegen 11.30 Uhr rückten Wehrmacht und SS-Leute an. Viele Häftlinge verzichteten auf ihren Kleidersack und liefen in Häftlingskleidung aus dem Zuchthaus.

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Leo Pilz (l.) war einer der Haupttäter des Massakers am 6. April 1945

Panische Häftlinge versuchten darauf, in die Innenhöfe zu flüchten, und verriegelten die Tore. Doch die Nazis sprengten es frei und begannen zu schießen. „Die Einheiten haben teilweise von den angrenzenden Beamtenwohnungen, von denen man in den Hof gesehen hat, mit einem wahl- und ziellosen Massaker begonnen und auf alles geschossen, was im Hof war“, betont Streibel. Die Erschießung der wehrlosen Häftlinge zog sich über den ganzen Nachmittag.

Brutale Suche nach Geflohenen

Zugleich begannen SS-Einheiten, die Gebäudetrakte zu durchsuchen, und töteten dort versteckte Häftlinge. Selbst aus dem Krankenrevier wurden Verwundete herausgezerrt und im Freien massakriert. Verschont blieben lediglich jene Gefangene, die von couragierten Wärtern im letzten Moment wieder in die Zellen zurückgebracht und eingesperrt wurden, um den Eindruck zu vermitteln, die Insassen wären gar nicht zur Freilassung vorgesehen gewesen.

Ehemaliger Häftling erinnert sich an das Massaker

Der stellvertretende Anstaltsleiter hielt dabei das seinen Vorgesetzten entlastende Schreiben der NS-Justizverwaltung zum Umgang mit den Häftlingen bewusst zurück. Noch am gleichen Tag wurden der Anstaltsleiter sowie drei Justizbeamte ohne Verfahren hingerichtet; ein Verwaltungssekretär wurde angeblich versehentlich erschossen. Allein an diesem Nachmittag starben in der Strafanstalt 229 Häftlinge, die einige Tage später in Massengräbern am Gefängnisgelände verscharrt wurden.

„Kremser Hasenjagd“

Doch damit war das Morden nicht zu Ende. Denn außerhalb der Strafanstalt suchten Einheiten von SS und SA – mit Unterstützung der lokalen Bevölkerung – im Stadtgebiet von Krems nach Freigelassenen, um ihre „Hasenjagd“ – in Anlehnung an die „Mühlviertler Hasenjagd“, bei der Anfang Februar 1945 fast 500 aus dem Konzentrationslager Mauthausen geflüchtete Häftlinge ermordet wurden – schließlich auf Paudorf, Hörfarth und Rottersdorf bei Statzendorf, Wolfenreith im Dunkelsteiner Wald, Theiß und Hadersdorf auszuweiten.

Viele Häftlinge trugen noch Häftlingskleider und wähnten sich sicher, da sie von der Gefängnisleitung entlassen worden waren. Doch die Gefangenen, die von der Waffen-SS auf den Straßen entdeckt oder ihr vom Volkssturm übergeben worden waren, wurden sofort erschossen. In der Nähe des Stiftes Göttweig und in Hörfarth, einer Außenstelle Steins, wurden etwa mehr als 50 Häftlinge getötet.

Festnahme statt Hilfe

In Hadersdorf wurden nur einen Tag später 61 mehrheitlich politische Häftlinge des Zuchthauses Stein an der Friedhofsmauer in Hadersdorf erschossen. Die Opfer wollten am Vortag den dortigen NS-Ortsbauernführer nach dem Weg nach Wien fragen, wurden daraufhin festgenommen und im Gemeindekotter eingesperrt. Vor der Liquidierung mussten die Gefangenen mit Spaten und Schaufel selbst ihr Massengrab ausheben.

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Die Exhumierung der Häftlinge nach dem Massaker in Stein

Am 8. April ging die Tortur weiter: Die in Stein verbliebenen etwa 800 Häftlinge – vor allem jene, die während des Massakers auf der Krankenstation oder in ihren Zellen waren – wurden mit einem Frachtschiff – „wie Vieh zusammengepfercht“ – nach Passau und von dort in Strafanstalten gebracht. Zugleich kamen in den folgenden Tagen 46 zum Tode verurteilte Häftlinge aus Wien im Zuchthaus Stein unter, wo sie am 15. April ebenfalls erschossen wurden.

Wie viele Opfer es damals gab, ist bis heute unklar. Auf einem Gedenkstein auf dem Steiner Friedhof findet sich die Zahl 386. Andere Schätzungen gehen von 550 bis 650 Toten aus. Die Leichen im Massengrab in Hadersdorf wurden 1946 exhumiert und am Zentralfriedhof in Wien bestattet. „Bis heute gibt es aber noch viele Massengräber, die nie geborgen wurden“, schildert Streibel, „von denen es noch Überreste gibt“.

„Toten in die Hand gebissen“

Nur wenige Häftlinge wurden von Bewohnern versteckt oder auf andere Weise unterstützt, sodass sie überlebten. Einer von ihnen war der Grieche Gerasimos Garnelis, der nach dem Massaker als Totgeglaubter schwer verletzt am Leichenhaufen landete. Gegenüber Streibel schilderte Garnelis in einem Interview, dass er „in die Hand eines Toten gebissen hat, weil seine Schmerzen so groß waren.“

Gerasimos Garnelis erinnert sich an das Massaker in Stein

Doch Garnelis überlebte diese unvorstellbare Geschichte. Gemeinsam mit etwa einem Dutzend weiterer Häftlinge, die in dem Massengrab gelandet waren, konnte sich der Grieche bis zum Kriegsende in einer Krankenabteilung bzw. im Keller des Zuchthauses verstecken. „Wie und wo genau ist leider nicht belegt“, sagt Streibel, „sie sind von Aufsehern aber mit Lebensmitteln versorgt worden“.

„Endphase“ bricht Schweigen

Nur fünf Tage vor der endgültigen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht – in der Nacht von 2. auf 3. Mai – ermordeten SS-Soldaten an drei Orten in Hofamt Priel und einem Tatort in Persenbeug 228 Kinder, Frauen und ältere Männer aus Ungarn. Sie stellten die Gefangenen vor Gräben auf, erschossen sie und versuchten dann die Leichen zu verbrennen, alle Spuren des Verbrechens zu beseitigen.

„Endphase“: Auf der Suche nach der Schuld

Weil es in dieser Nacht stark regnete, ging dieser Teil des Plans nicht auf. Einheimische vergruben die Leichen in den nächsten Tagen in einem Acker, aus Angst vor der möglichen Rache sowjetischer Soldaten. Nur neun Personen überlebten. Das Massaker – eines der größten Verbrechen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs – wurde über Jahrzehnte nicht aufgeklärt, bis es zwei einheimische Brüder 2022 im Film „Endphase“ aufarbeiteten.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 25.3.2022

In den 1960er Jahren wurden die Überreste der Toten auf den jüdischen Friedhof nach St. Pölten gebracht. Dort gibt es seit 2015 nach langen Recherchen des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs auch einen Grabstein mit allen Namen. In Hofamt Priel zeugt der Gedenkstein heute nur noch von einem Tatort, an den Stellen der übrigen Schauplätze sowie auf dem Acker, in dem die Opfer zuvor begraben waren, stehen Einfamilienhäuser.

Zeit der verdichteten Verbrechen

Neben den großen Massakern kam es in der Endphase des Zweiten Weltkriegs auch zu Erschießungen von Zwangsarbeitern. Die Zeit zwischen Mitte April bis Kriegsende am 8. Mai 1945 bezeichnet die Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten Martha Keil als „Zeit der verdichteten Verbrechen“. Schuld daran sei vor allem die Waffen-SS, „die wusste, dass der Krieg verloren war, und Rache nehmen wollte“.

Laut drei Erzählungen, die Keil erhielt, wurden deshalb gerade Russen gezielt aufgespürt, aus den Betrieben und Bauernhöfen getrieben und in den Wäldern erschossen. Diese Exekutionen fanden bis kurz vor der Kapitulation statt. In einem Fall konnten zwei Männer jedoch entkommen und baten ihren früheren Arbeitgeber, ob er sie am Dachboden verstecken könne, bis die Rote Armee komme, was dieser laut Keil auch machte. Weniger Glück hatten jene, die auf Todesmärschen Richtung Mauthausen getrieben wurden, etwa von der Slowakei über Hainburg (Bezirk Bruck an der Leitha).

Eröffnung eines Mahnmals in Hainburg

Dass diese Verbrechen bis heute zu den „größten Tabus“ gehören, liegt laut Keil daran, "dass man die Täter gerade in kleinen Orten kannte und Angst vor ihnen hatte“. Schließlich war eine Vielzahl an ehemaligen Tätern nach dem Krieg auch erfolgreich in politischen Funktionen tätig. Ganz ähnlich sieht das Streibel: „Ein Teil von denen, die beteiligt waren, haben weiter in der Stadt gewohnt.“

Fünf Todesurteile

Im Fall des Steiner Massakers wurden ab Herbst 1945 14 Hauptverantwortliche vor dem Volksgericht Wien angeklagt, fünf davon – der Kremser Volkssturmkommandant Leo Pilz sowie vier nationalsozialistische Beamte des Zuchthauses Stein – Alois Baumgartner, Anton Pomassl, Franz Heinisch und Eduard Ambrosch – zum Tode verurteilt bzw. hingerichtet. Das Urteil enthielt eine ausführliche Schilderung des Tathergangs und stellte die wichtigste historische Quelle für die Ereignisse des 6. April 1945 dar.

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Volksgerichtsverhandlung der wegen des Massakers in Stein angeklagten Täter im Landesgericht Wien

Im Urteil gegen Leo Pilz hieß es etwa: „[…] bedeckten viele zerfetzte Leichen den Hof und was Lebenszeichen von sich gab, wurde erbarmungslos niedergeschossen. […] Aus allen Schlupfwinkeln wurden sie [die Häftlinge] hervorgezerrt und sofort niedergemacht, oder zu Gruppen […] rückwärts in den sogenannten Wäschereihof gebracht und dort niedergemäht.“ Doch viele Mittäter „wurden nie zur Verantwortung gezogen“, betont Streibel, „viele haben unbehelligt weitergelebt“.

Verblasste Erinnerung

Doch zumindest die Erinnerung wurde in den ersten Jahren nach dem Krieg, während der russischen Besatzung, hochgehalten. Es gab offizielle Gedenk-Veranstaltungen, griechische Häftlinge enthüllten sogar ein eigenes Denkmal, auf dem stand: „Hier wurden von der SS ermordet.“ „So klare Worte hat man später nie wieder gefunden, sondern immer umschrieben“, sagt der Historiker.

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Gedenkfeier in den 1950er Jahren in Stein

Doch mit dem Staatsvertrag im Jahr 1955 bzw. dem Abzug der Russen begann „das Vergessen", wie Streibel bedauert, der 1995 eine andere Form des Gedenkens“ initiierte, indem er mit einem Künstler in der ganzen Stadt weiße Kreuze aufstellte: 386 für die 386 offiziellen Toten. „Viele haben erst damals realisiert, was dort stattgefunden hat“, meint Streibel.

„Wirklich ins Bewusstsein der Bevölkerung“ gerufen worden sei das Thema jedoch erst durch den 2015 erschienenen Roman „April in Stein“. „Damit hat man mehr die persönlichen Geschichten der Häftlinge mitbekommen und das hat dazu beigetragen, dass auch das Bewusstsein in der Stadt geschärft wurde, sodass das Gedenken an das Massaker auch wieder Aufgabe der Stadt wurde.“

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Gedenken mit 386 weißen Kreuzen im Jahr 1995

Den Opfern Namen geben

Streibel ist mit seinen Forschungsarbeiten rund „um das größte Kriegsverbrechen in Österreich“ aber noch nicht am Ende. Denn bis heute gibt es keine namentliche Erfassung aller Opfer des Massakers. Gemeinsam mit seinem Kollegen Karl Reder initiierte er ein Projekt, „um endlich den Versuch zu unternehmen, eine Liste mit den Namen zu erstellen.“ Denn auch wenn sogar viele der Nachkommen nicht mehr leben, „ist man es der Geschichte schuldig, dass die Opfer Namen bekommen“.

Der ehemalige Häftling Gerasimos Garnelis ging übrigens – nicht wie die meisten anderen – nach Griechenland zurück, sondern blieb in Krems und betrieb dort – nur wenige hundert Meter vom Gefangenenhaus entfernt – ein kleines Geschäft. Doch über sein Schicksal hat er laut Streibel „von sich aus nie öffentlich gesprochen“.