100 Jahre NÖ 1943 Wr. Neustadt Bombardierung
ORF/Hochmayr/Brossmann
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„100 Jahre NÖ“

Ein Land sucht im Trümmerfeld Identität

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs ist Österreich zwar vom NS-Regime befreit, doch die bis dahin enge Verbindung mit Deutschland ist diskreditiert. Auf der Suche nach der eigenen Identität rückt eine 950 Jahre alte Urkunde aus Neuhofen an der Ybbs in den Mittelpunkt.

Die Straßen waren mit Girlanden und Willkommens-Schriftzügen geschmückt, fast jedes Haus war frisch gestrichen, an den Wänden hingen Fahnen und Kränze – Neuhofen an der Ybbs im Bezirk Amstetten – ein „kleiner Fleck Erde zwischen der Enns und der Erlauf“, wie es damals in der Wiener Zeitung hieß – hatte am 28. Oktober 1946 ein „anmutiges Festgewand“ angelegt.

„Die Menschen waren in Feierlaune, auch meine Eltern“, erzählt Ludwig Ecker, der die Feierlichkeiten als Dreijähriger miterlebte, gegenüber noe.ORF.at. Neben Bundeskanzler Leopold Figl und Landeshauptmann Josef Reither war auch die sowjetische Besatzungsmacht anwesend. „Nach dem großen Krieg waren endlich der Friede und die Erleichterung da: Wir haben unsere Heimat wieder.“

Neuhofen an der Ybbs, 1946

Ostarrichi-Urkunde als Basis für Identität

Der Höhepunkt war aber die Enthüllung eines Gedenksteins am Kirchenplatz. Dieser sollte an eine mittelalterliche Urkunde aus dem Jahr 996 erinnern, in der erstmals der Name Österreich erwähnt worden war: die sogenannte Ostarrichi-Urkunde. In ihr hatte Kaiser Otto III. den Übertrag von etwa tausend Hektar Land „in einer Gegend, die in der Volkssprache Ostarrichi genannt wird“, an einen Freisinger Bischof bestätigt.

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100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Museum Ostarrichi
Die feierliche Enthüllung des Gedenksteins in Neuhofen an der Ybbs
100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Museum Ostarrichi
An der Feier nahmen auch Bundeskanzler Leopold Figl (r.) und Landeshauptmann Josef Reither (l.) teil
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Museum Ostarrichi
Auch die sowjetischen Besatzer kamen
100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Museum Ostarrichi
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Museum Ostarrichi

Diese erstmalige Erwähnung des Namens Österreich wurde 1946 als Anlass genommen, um „eine fast an den Haaren herbeigezogene 950-Jahr-Feier Österreichs in Szene zu setzen“, erklärt Stefan Eminger, Leiter des Referats Zeitgeschichte im Landesarchiv. Ziel war es, rund um diese Erzählung eine österreichische Identität zu bilden, „die es bis dahin nicht gegeben hat“.

Großdeutscher Traum weicht Österreich-Bewusstsein

Denn zu Beginn der Ersten Republik hatten sich viele Österreicher als Deutsche gesehen. „Nicht zufällig ist bei der Ausrufung der Republik auch der Anschluss an Deutschland mitverkündet worden“, sagt Eminger. Die Republik hatte offiziell Deutsch-Österreich geheißen, was von den Alliierten aber schnell verboten worden war. Der Anschluss 1938 sei für viele „die Erfüllung ihres großdeutschen Traumes“ gewesen. Und selbst nach dem Krieg bekannten sich noch nicht alle zur Nation Österreich.

„100 Jahre NÖ“: Das Jahr 1946

Deshalb sei es umso wichtiger gewesen, ein Österreich-Bewusstsein auf eine breite Basis zu stellen. Doch die Monarchie sei dafür zu problematisch gewesen, „weil sich viele Sozialdemokraten gar nicht damit identifizieren konnten“. Deshalb musste man weiter in der Geschichte zurückblicken und stieß auf die mittelalterliche Ostarrichi-Urkunde aus dem Jahr 996. Rund um diese wollte man nun ein „Österreich-Bewusstsein“ schaffen.

Notwendiges „konstruiertes Bewusstsein“

Eminger spricht zwar von einem „konstruierten Bewusstsein rund um diesen Kernlandmythos“, den es aus seiner Sicht aber für einen Neustart gebraucht habe. Das ganze Land wurde deshalb 1946 mit Festveranstaltungen überzogen, die laut Eminger vor allem von Schulen, Bezirkshauptmannschaften und der ÖVP getragen wurden, während die Sozialdemokraten und ehemaligen Nationalsozialisten zurückhaltend waren.

Die strikte Abgrenzung zu Deutschland ging zunächst so weit, dass es während der Amtszeit von Unterrichtsminister Felix Hurdes auch keinen Deutschunterricht gab, das Fach hieß stattdessen Unterrichtssprache – auch im Zeugnis. Allerdings hatte das starke Bekenntnis zu Österreich auch praktische Vorteile, „weil man damit Reparationsleistungen und Wiedergutmachungsansprüche eher abwehren konnte“, sagt der Historiker.

100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Museum Ostarrichi
Leopold Figl appelliert bei seiner Ansprache in Neuhofen an der Ybbs vor allem an die Jugend

Anlässlich der Gedenkfeier in Neuhofen appellierte Figl vor allem an die Jugend, bereit und befähigt zu sein, sich die Früchte der Arbeit zunutze zu machen und weiter zu bauen: „Darum, Jugend von Österreich, nütze die Zeit und arbeite für Österreich, damit das Land die Not dieser Zeit übertaucht und ein glückliches, freies Österreich entsteht“.

Auf Chaos folgte Verwaltungsaufbau

Die Sorge um die nahe Zukunft kam bei allen Äußerungen deutlicher zum Ausdruck als die Freude über das Jubiläum selbst. Allerdings wurde als Zeichen des Wiederaufbaus in Neuhofen auch der Grundstein für die erste Siedlung gelegt. Reither betonte in seiner Rede im Namen der Bevölkerung Niederösterreichs außerdem das Gelöbnis unwandelbarer Treue zu Österreich und den Willen zum Wiederaufbau.

Denn in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges herrschte zunächst eine eher chaotische Phase. Zum einen waren viele Gebäude und Infrastruktur durch die Frontlinie zerstört worden, zum anderen waren die Verwalter von Behörden – „alles geeichte Nazis“ – vor dem drohenden Regimewechsel geflüchtet.

Erst ab dem Sommer 1945 begann laut Stefan Eminger eine Phase, „in der wieder Grundelemente einer Verwaltung aufgebaut wurden“. Die Gemeindeverwaltung kam wieder „einigermaßen“ ins Laufen, teilweise setzten die sowjetischen Besatzer Bürgermeister ein, etwa NS-Gegner, andere ernannten sich selbst dazu. Ehemalige Bezirkshauptleute bzw. Beamte traten wieder ihre früheren Ämter an, „um das Ruder in die Hand zu nehmen, aber oft war unklar, wer das Sagen hatte“.

Aufschwung durch Bauernbund

Sendungshinweis:

Radio NÖ, 1.4.2022

Ganz wesentlich sei in dieser Phase gewesen, dass die sowjetischen Besatzer Figl, der selbst vier Jahre in einem Konzentrationslager gesessen war, schon drei Wochen vor der Kapitulation Hitlers bzw. dem offiziellen Kriegsende damit beauftragt hatten, den Niederösterreichischen Bauernbund wieder auf die Beine zu stellen. „Hunger und Not hat es überall gegeben, aber vor allem in Wien und anderen größeren Städten im Industrieviertel war die Nahrungsmittelversorgung ein drängendes Problem“, sagt Eminger.

Figl bildete gemeinsam mit Oskar Helmer, der bereits vor 1934 Landeshauptmann-Stellvertreter war, und dem Kommunisten Otto Mödlagl eine provisorische Landesregierung. Ihr oberstes Ziel: Die Verwaltung im Land wieder aufzubauen. Im Volksmund wurden sie auch als „Dreieinigkeit“ bezeichnet, „weil sie mit dem Dienstauto von Figl durch das ganze Land gezogen sind, um die Verwaltung in Gang zu bringen“.

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Museum Niederösterreich
Die „Dreieinigkeit“: Oskar Helmer, Leopold Figl und Otto Mödlagl

Zugleich reduzierten die Sowjets ab dem Sommer ihre Truppenstärke in Österreich von zunächst 400.000 Soldaten auf die Hälfte. Und viele Vertriebene, Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene der Deutschen Wehrmacht kehrten in ihre durch die SS oder Wehrmacht oft komplett zerstörte Heimat zurück. Damit entspannte sich die Ernährungssituation zusätzlich.

Rückzug in die eigene Familie

In der Gesellschaft waren die ersten Monate von einer „weitgehenden Desintegration der Bevölkerung“ geprägt, erzählt Eminger. Jeder hatte sich in die familiären Einheiten zurückgezogen, die damals vorwiegend aus Mutter und Kindern bestand. Sämtliche großflächigen Systeme des Handels, des Transports und der Kommunikation waren zusammengebrochen. Es war eine vaterlose Gesellschaft, „in der die Hauptlast der Überlebensarbeit auf den Frauen ruhte“.

100 Jahre NÖ 1943 Wr. Neustadt Bombardierung
Stadtarchiv Wiener Neustadt
Vor allem die Frauen waren nach dem Krieg am Wiederaufbau beteiligt

Ganz unterschiedlich waren die Rollen der Kinder. In Städten nahmen diese oft die Funktion der Väter ein, „wo Kinder auch zur Überlebensarbeit beschäftigt wurden und am Schwarzmarkt handeln mussten“, sagt Eminger. Diese Kinder wären in ihrer Reife Gleichaltrigen damals „auch weit voraus“ gewesen. Am Land mussten die Kinder zwar auch mithelfen, viele Zeitzeugen beschrieben ihre Kindheit aber als „schönste Phase der größten Freiheit“, weil „weder die Schule noch die Eltern“ sie „kontrolliert haben“. Trotzdem stand die Familie im Vordergrund.

In manchen Orten kam es zu Plünderungen unter den Bewohnern, oft etwa bei Anwesen von ehemaligen Nazis, die nach dem Krieg geflüchtet und deren Häuser nun unbewohnt waren. Größere Einheiten wie eine Dorfgesellschaft, wo man einander half, bildeten sich hingegen erst wieder im Laufe der Zeit.

Erste freie Wahlen nach 13 Jahren

Eine Zäsur stellten laut Eminger schließlich die „immerhin seit 13 Jahren“ ersten freien Wahlen am 25. November 1945 dar. Bereits im Oktober übernahm Reither, der ebenfalls im KZ gewesen und erst im Sommer „sichtlich abgemagert und gezeichnet zurückgekehrt war“, das Amt des Landeshauptmanns von Figl, der sich laut Eminger „stets als Platzhalter“ gesehen hatte. Sowohl im Nationalrat als auch im Landtag erreichte die ÖVP eine Mehrheit. In Niederösterreich kamen die Sozialdemokraten immerhin auf 40 Prozent.

100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Wiener Zeitung
Die „Wiener Zeitung“ berichtete über die Wahlen

Die Kommunisten erreichten hingegen nur bescheidene zwei Mandate. Die KPÖ und die Sowjets waren bitter enttäuscht, erzählt Eminger: „Immerhin hat der kommunistische Widerstand während der NS-Zeit die Hauptlast getragen und die sowjetische Armee hat Österreich befreit, sie hätten sich wohl mehr Dankbarkeit erwartet, aber im Großteil des Landes war die KPÖ als Russenpartei verschrien.“

Identitätsfestigung erst ab den 1970ern

Die demokratischen Strukturen waren damit nach den Wahlen gefestigt. Doch der Wiederaufbau lief nur schleppend an, gerade in jenen Gegenden des Wein- und Industrieviertels, die zu Kriegsende besonders umkämpft gewesen waren. „Die industrielle Grundstruktur war stark betroffen, das war schon ein großer Rucksack an Problemen, die Niederösterreich nach 1945 aufgeladen bekommen hat.“

Ein Grund dafür war die Besatzung unter russischer Verwaltung. Es gab kaum Investitionen über den Marshall-Plan der Amerikaner, „weil sie verhindern wollten, dass die Russen davon profitieren“. Während also im Westen Österreichs das Wirtschaftswunder und der Wiederaufbau „fast Hand in Hand“ gingen, war der starke wirtschaftliche Aufschwung in Niederösterreich erst nach der Besatzungszeit ab 1955 möglich.

Wiederaufbau hieß damals vielmehr, die Landwirtschaft wieder ins Laufen zu bringen. Langsam wurde begonnen, die Felder zu bewirtschaften. Erst in den 1960er-Jahren setzte ein Trend zur Motorisierung ein und löste einen revolutionären Strukturwandel aus. Dadurch kamen viele, die bisher in der Landwirtschaft tätig gewesen waren, in der Industrie unter, die einen deutlichen Aufschwung erlebte.

Damit machte sich auch in Niederösterreich ein „bescheidener“ Wohlstand breit, der in den 1970ern weiter anstieg. In dieser Phase wurde auch die Identität Österreichs gefestigt. Zunächst gab es erste Erfolge beim Wiederaufbau, etwa den Bau des Kraftwerks Ybbs-Persenbeug, später folgten sportliche Erfolge bzw. der Heimatfilm. „Davon wurde das Österreich-Bewusstsein geprägt, sodass heute niemand mehr daran zweifelt.“

Neuhofen als Träger der „Ostarrichi-Idee“

Die Marktgemeinde Neuhofen wurde nach einer etwas ruhigeren Phase jedoch zum eigentlichen Träger der „Ostarrichi-Idee“, baute in den nächsten fünfzig Jahren mit Hilfe der Landesregierung eine Ostarrichi-Tradition auf und verstand es, dadurch allseits bekannt zu werden. Man ließ die Aktionen nämlich nicht ruhen, sondern griff sie nach 25 Jahren wieder auf.

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Museum Ostarrichi
In dieser Urkunde aus dem Jahr 996 wird der Name Ostarrichi erstmals offiziell erwähnt
100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Franz Weingartner
Das Ostarrichi-Museum in Neuhofen an der Ybbs
100 Jahre NÖ 1946 Wiederaufbau Neuhofen Ybbs Idendität
Franz Weingartner

„Man wollte der Ostarrichi-Urkunde mehr widmen als einen Gedenkstein“, erzählt Ludwig Ecker, der damals auch zuständiger Kulturgemeinderat war. 1971 wurde im Ort eine Ostarrichi-Gedenkstätte errichtet – ein kleines Haus, wo in den folgenden Jahren jeweils eine Sonderausstellung zu einem der neun Bundesländer stattfand.

25 Jahre später – 1996 – drehte sich schließlich die Landesausstellung um das Thema Ostarrichi. Aus der Gedenkstätte wurde ein Museum, in dem an die 1.000-jährige Geschichte Österreichs erinnert wird. Und bis heute ist im Kulturhof ein Platz erhalten, wo die neun Bundesländer mit einem bestimmten Dokument ihre Verbindung zur Region, aber auch zu Österreich symbolisieren, sagt Ecker: „Um damit die Identität Österreich zu unterstreichen.“