100 Jahre NÖ Besatzungszeit Sowjets Ottillinger
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„100 Jahre NÖ“

„Ura, Ura“, Vergewaltigung und Kinderliebe

Niederösterreich ist ab 1945 vom NS-Regime befreit. Doch die folgende sowjetische Besatzung war für viele ebenso belastend. Die Jahre bis 1955 waren u.a. von Gewalt und Entführungen geprägt. Der bekannteste Fall ereignete sich an der Zonengrenze bei Enns.

5. November 1948: Aus dem Auto des damaligen Wirtschaftsministers Peter Krauland wurde Margarethe Ottillinger an der Ennsbrücke bei St. Valentin (Bezirk Amstetten) – an der Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone – verhaftet. Die erst 29-jährige Wirtschaftsexpertin und Sektionschefin wurde ins sowjetische Hauptquartier nach Baden gebracht und dort zwei Monate verhört.

Zu Ottillingers Aufgaben gehörte es, den Wert deutschen Eigentums in Österreich festzustellen, das die sowjetische Besatzungsmacht beschlagnahmt hatte. Sie gerät ins Visier sowjetischer Behörden, zumal ihre Berechnungen für die Sowjets Nachteile brachten. Für die junge Frau blieb ab der Entführung die Uhr stehen: vollkommene Isolation, totale Ungewissheit, ständige Verhöre und die Androhung der Hinrichtung als Spionin.

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Margaretha Ottillinger (1949)

Ein Tod auf Raten

Dem Galgen entrann sie nur, weil Stalin 1948 gerade die Todesstrafe ausgesetzt hatte. Doch am 13. Mai 1949 wurde die junge Frau in ein russisches Gulag-Lager verschleppt und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt: ein Tod auf Raten. Der Vorwurf: Spionage für die USA. Der Fall erregte im Nachkriegsösterreich zwar großes Aufsehen. Das mediale Echo war enorm, der politische Protest blieb aber gering – die Staatsvertragsverhandlungen sollten nicht gefährdet werden.

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Neues Österreich

Solche Zonenwechsel waren für die Bevölkerung jedoch generell „mit einem mulmigen Gefühl“ verbunden, erklärt Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, „weil sie nicht wussten was passiert, gibt es eine Liste, auf der mein Name steht, fehlt ein Stempel im Identitätsausweis.“ Denn immer wieder wurden Menschen aus dem Zug heraus verhaftet und im schlimmsten Fall auch in die Sowjetunion gebracht.

Klare Hierarchie zwischen Besatzern und Bürgern

Die Menschen waren zwar von den Nationalsozialisten befreit, „doch die erhoffte Freiheit gab es noch nicht“, fasst Stelzl-Marx zusammen. Während der Besatzungszeit habe es eine klare Hierarchie zwischen den Besatzern und der heimischen Bevölkerung gegeben. Vor allem in den Jahre 1945 und 1946 wurde eine „totale Kontrolle ausgeübt“ und „das Alltagsleben dominiert“, meint die Historikerin, was von der Bevölkerung als „belastend und unangenehm“ empfunden wurde.

Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren immerhin 400.000 Rotarmisten im Land, die zwar gegen Ende 1945 auf die Hälfte halbiert wurden. „Das waren aber immer noch mehr, als die drei westlichen Besatzungsmächte zusammen hatten“. Die ausländischen Soldaten wurden „vielfach und zurecht als individuelle Bedrohung“ empfunden.

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Die Besatzungssoldaten waren nach dem Krieg in Niederösterreich omnipräsent

Im Alltag wirkte sich diese Präsenz unterschiedlich aus. Zunächst gab es vor allem mit Frauen und Kindern Berührungspunkte, die meisten Männer waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. „Die Bandbreite reichte von Vergewaltigungen und Plünderungen bis hin zu ganz romantischen Liebesbeziehungen und zum Klischee des deutschsprechenden, kulturinteressierten und kinderlieben Offiziers“, fasst Stelzl-Marx zusammen. Bekannt ist auch ihr Verlangen nach „Ura, Ura“ (Anm.: Uhren).

Kontroversielle Erinnerungen

Ein ähnliches Bild hat auch der Regionalforscher Johann Hagenhofer aus Hochwolkersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) in Erinnerung, der das Kriegsende und die Besatzungszeit als kleines Kind miterlebte. Zum einen sei es immer wieder zu Diebstählen, Gewalt oder auch Erschießungen gekommen, „etwa von Männern, die ihre Frauen oder Töchter beschützen wollten, oder auch wenn besoffene Russen beim Plündern gehindert wurden“, erzählt Hagenhofer.

Zeitzeugen sprechen über ihre Erlebnisse mit den sowjetischen Besatzern

Andererseits erzählt der heute 80-Jährige von einem sowjetischen Soldaten, „der mich immer auf seinen Schoß gesetzt hat, mir über den Kopf streichelte und weinte. Dem habe ich offenbar gefallen, vielleicht habe ich ihn an seinen Sohn erinnert.“ Hagenhofer betont deshalb, dass das oft einseitige Bild „plündernden und vergewaltigenden Russen“ nicht stimme: „Ich habe auf jeden Fall auch viele humane Russen kennengelernt.“

Genügend Zeit und Sprache

Von solchen positiven Erfahrungen weiß auch Stefan Eminger, Leiter des Referats für Zeitgeschichte im Landesarchiv von Zeitzeugen. Doch dafür seien zwei Voraussetzungen notwendig gewesen: Genug Zeit miteinander und gewisse Kenntnisse der russischen Sprache. In der ersten Phase war jedoch genau das Gegenteil der Fall, die sowjetischen Truppen wurden oftmals verschoben. „Und da war das Verhältnis stark von Misstrauen geprägt“, meint Eminger.

Die Folge waren nach einem entsprechenden Alkoholkonsum „regelrechte Jagden auf Mädchen“, die sich als Reaktion auch teilweise in verwinkelten Kellernischen einmauern ließen. Doch waren die sowjetischen Soldaten bei einer Familie länger untergebracht, „dann kam es auch dazu, dass sich die für ihre Leute auch gegen andere Soldaten eingesetzt haben und haben vor Scheunen Wache gehalten, wo sich Frauen versteckt haben“, erzählt Eminger.

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Mit genügend Zeit konnten zwischen den Besatzungssoldaten und Einheimischen durchaus vertrauliche Beziehungen entstehen

Zugleich konnte auch so manche Lappalie eine große Auswirkung haben, etwa wenn Österreicher Rotarmisten Alkohol ausschenkten und diese wegen des übermäßigen Konsums starben oder erblindeten, ergänzt Stelzl-Marx: „Das hatte schon Konsequenzen bis hin zur Verhaftung bzw. Verurteilung in ein Gulag-Lager.“ Das gleiche konnte passieren, wenn etwa wegen eines Autounfalls Rotarmisten verletzt wurden oder ums Leben kamen.

„Wie definiert man einen Spion?“

Omnipräsent war zwischen 1945 und 1955 auch das Thema Spionage. Zwar gab es durchaus Leute, die mit westlichen Nachrichtendiensten in Kontakt waren, oft aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie dafür Geld erhalten hatten. Stelzl-Marx stellt aber die Frage: „Wie definiert man einen Spion?“ Denn anders als in Filmen sei es dabei um banale Informationen gegangen: „Wer sind die sowjetischen Offiziere in der Kommandantur oder welche Züge fahren Richtung Ungarn.“

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Beim Wechsel zwischen sowjetischer und amerikanischer Zone an der Ennsbrücke wurden immer wieder Menschen verhaftet

Aus heutiger Sicht seien das keine Informationen, für die man verhaftet bzw. verurteilt würde. Und auch viele Betroffene hätten die Gefahr damals unterschätzt, betont die Historikerin. Doch für die Sowjets war es mit Blick auf den Kalten Krieg anti-sowjetische Spionage. An die 2.000 Menschen wurden deshalb verurteilt, wobei die meisten in den vergangenen Jahren von russischer Seite rehabilitiert bzw. anerkannt wurde, „dass es sich um Unrechtsurteile gehandelt hat.“

Ottillingers gezeichnete Rückkehr

Das betraf auch Margarethe Ottillinger, die am 25. Juni 1955 mit einem der letzten Heimkehrer-Transporte schwerkrank nach Österreich zurückkehren durfte. Nach ihrer Rückkehr arbeitete sie in der neu gegründeten „Österreichischen Mineralölverwaltung“ (ÖMV), lange Zeit als einzige Frau im Vorstand. Während ihrer Gefangenschaft wurde sie tiefgläubig, weshalb sie nach ihrer Pensionierung dem „Dritten Orden der Servitinnen“ beitrat. Am 30. November 1992 starb Ottillinger.

Margareta Gsandtner erinnert sich an die Besatzungszeit

Die wahren Hintergründe ihrer Entführung wurden lange Zeit nicht ganz geklärt. Erst der Historiker Stefan Karner von der Universität Graz arbeitete die jahrzehntelang unter Verschluss gehaltene KGB-Verhörprotokolle auf und stieß dabei auf Details in Ottillingers Umfeld. Anhand dieser Dokumente des KGB und der westlichen Geheimdienste ließ sich Ottillingers Verschwinden als Verkettung politischer und menschlicher Komponenten rekonstruieren.

Neid und Missgunst

Ottillingers Arbeit für den Wiederaufbau Österreichs mit Hilfe des amerikanischen Marshallplans und die geplante Kürzung der Stahlzuteilungen für die sowjetischen Betriebe in Ostösterreich machten sie für die Sowjets verdächtig und zur mutmaßlichen amerikanischen Spionin. Als mächtige junge Frau, die innerhalb der österreichischen Bürokratie viel Geld zu verteilen hatte, zog sie zudem in einer Männergesellschaft Neid und Missgunst auf sich. Anzeigen bei der sowjetischen Besatzungsmacht waren die Folge.

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Das Klischee von kinderliebenden sowjetischen Offizieren wird von Zeitzeugen immer wieder bestätigt, war aber nur die eine Seite der Besatzungssoldaten

Der Österreicher Alfred Fockler, der als amerikanischer Agent den Sowjets in die Hände fiel, wollte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, indem er Ottillinger schwer belastete. Zwei weitere Männer besiegelten Ottillingers Schicksal: Der russische Ingenieur Andrej Didenko, der sich in die junge Spitzenbeamtin verliebt hatte und dem sie bei der Flucht in den Westen behilflich war, und Minister Krauland, der tatenlos zusah, als seine Mitarbeiterin verschleppt wurde.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 8.4.2022

Ottillinger selbst erfuhr bis zu ihrem Tod 1992 nicht, warum sie sieben qualvolle Jahre in sowjetischen Straflagern verbringen musste. Mit dem Bau der kubistischen Wotrubakirche in Wien, für den sie sich engagierte, setzte sie ein sichtbares Zeichen für den unterdrückten Menschen in totalitären Regimen. Damit errichtete sie auch ihrem eigenen persönlichen Schicksal ein eindrucksvolles Denkmal.

Die Folgen der Besatzungszeit

Die Besatzungszeit selbst war mit dem Staatsvertrag 1955 zwar zu Ende, Österreich wieder ein freies Land. Doch die Nachwehen spürt man bis heute. Laut Stelzl-Marx kamen in dieser Zeit etwa 30.000 Besatzungskinder auf die Welt, etwa die Hälfte davon in der sowjetischen Besatzungszone: „Diese Kinder hatten mit unterschiedlichsten Formen der Diskriminierung und Stigmatisierung zu kämpfen, viele wurden als Kinder des Feindes gesehen.“

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Während der Besatzungszeit entstanden auch viele Beziehungen zwischen Soldaten und Frauen, auch wenn das von Moskau nicht gewünscht war

Gerade in der sowjetischen Besatzungszone seien Besatzungskinder „in einer vaterlosen Generation aufgewachsen, umgeben von einer Mauer des Schweigens und Tabus“, erzählt die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung. Manche erfuhren etwa erst in der Schule, dass ihr Stiefvater gar nicht der leibliche Vater ist, sondern ein Rotarmist.

Kapitalistischer Westen vs. kommunistischer Osten

Auch deshalb, weil die sowjetischen Soldaten damals – „selbst wenn sie wollten“ – weder eine Österreicherin heiraten noch im Land bleiben durften. Ebenso durfte nach dem Abzug niemand in die Sowjetunion mitgenommen werden. „Stalin wollte keine Beziehungen, aus Angst, dass die Rotarmisten im Westen bleiben würden.“ Immerhin hatte das Leben im kapitalistischen Westen dem Kreml „absolut widersprochen.“

Umso vehementer seien viele Besatzungskinder bzw. die nächste und übernächste Generation jetzt auf der Suche nach ihren Wurzeln. In erster Linie gehe es ihnen „um die Frage der Herkunft und um die eigene Identität“, weiß Stelzl-Marx aus vielen Gesprächen. Untereinander gibt es zwar mittlerweile eine gute Vernetzung. Doch das Ziel jedes einzelnen sei, „die offene Lücke in ihrer eigenen Biografie zu schließen.“