100 Jahre NÖ 1949 Entnazifizierung Waidhofen Ybbs
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„100 Jahre NÖ“

Entnazifizierung: Rot-Weiß-Rot statt Hakenkreuz

Nach dem Ende des NS-Regimes braucht es in Österreich einen klaren Schnitt. Die Entnazifizierung wird zunächst auch ernst genommen – manches hingegen nur der neuen Zeit „angepasst“, wie ein Gemälde aus Waidhofen an der Ybbs zeigt.

Es ist ein monumentales Bild im Rathaussitzungssaal von Waidhofen an der Ybbs, sechs mal drei Meter groß. Der Titel: „Das schaffende und feiernde Waidhofen.“ Neben Schmieden, Holzfällern und einer Frau am Brunnen erkennt man im rechten Teil eine Parteifeier, bei der die Mitglieder alle ihre Parteiuniformen – SS- und SA-Uniformen – tragen. Im Zentrum sind der Adolf-Hitler-Platz sowie 19 Hakenkreuzfahnen zu sehen.

Das Bild stammt von Reinhold Klaus, einem ehemaligen NS-Sympathisanten und NSDAP-Vertrauensmann der Kunstgewerbeschule in Wien. In Auftrag gab es der damalige Bürgermeister von Waidhofen an der Ybbs, Emmerich Zinner, ein bekennender Nationalsozialist, erzählt Walter Zambal, ehemaliger Geschichtelehrer an der HTL in Waidhofen und Stadthistoriker.

„Das Bild muss bleiben“

1944 wurde das Werk im Sitzungssaal aufgehängt – seither ist es dort zu sehen, auch während der russischen Besatzung. Einige wollten das Bild damals schon abhängen, doch der damalige Stadtkommandant Leonow befand, dass dieses Bild eigentlich ein Kunstwerk sei. Er sagte „nein, das Bild muss bleiben“, schildert Zambal: „Man sieht, dass das stalinistische Kunstempfinden dem des NS also sehr ähnlich war.“ Allerdings musste das Bild der neuen Zeit angepasst werden.

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Das monumentale Bild im Rathaussitzungssaal in Waidhofen an der Ybbs

Daraufhin gab Leonow den Auftrag, das Bild übermalen bzw. die NS-Symbole verschwinden zu lassen. Der örtliche Maler Sergius Pauser ersetzte die ockerfarbenen Uniformen der Nazis durch „unschuldige Steirergewänder“, sagt Zambal, die Kunststudentin Hildegard Kaltenbrunner-Leutgeb entnazifizierte die Hakenkreuzfahnen, indem sie sie rot-weiß-rot übermalte.

DÖW: „Kann Bevölkerung nicht austauschen“

Eine banale Lösung für ein Problem, das sich damals nicht nur im Kleinen, sondern auf breiter Ebene stellte. „Wie macht man nach einer Diktatur weiter, die viele Jahre gedauert und viele Menschen betroffen hat, als Opfer oder als Täter bzw. Mittäter? Wie funktioniert so eine Gesellschaft unter demokratischen Bedingungen? Man kann die Bevölkerung ja nicht austauschen“, erklärt Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW).

„Naziverbrechen“ – Dokumentarschau des Französischen Informationsdienstes im Wiener Künstlerhaus, Jänner 1946, „Welt im Film“

Dafür brauchte es einen Mittelweg, der einerseits den Opfern signalisierte, „euer Leiden war nicht umsonst“, andererseits den Tätern zu verstehen gab, „was ihr getan habt, war falsch“. Eine Trennung der Gesellschaft wäre auf Dauer weder möglich noch sinnvoll gewesen, sagt Garscha. Deshalb wollte man den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern klarmachen: Die neue Gesellschaft hat auch neue Regeln.

Ambitionierte Registrierung

Zunächst musste man feststellen, wer überhaupt ein Mitglied der „Massenpartei“ NSDAP war. In der sowjetischen Besatzungszone mussten sich die Betroffenen selbst melden. Der Clou dabei: Ehemalige Nazis waren von den Wahlen zunächst ausgeschlossen, also musste sich jeder bei der Gemeinde, der Wahlbehörde, selbst deklarieren. „Wenn gewählt wurde, obwohl man ein Mitglied war – und das kam über kurz oder lang heraus –, dann war das Wahlbetrug und somit ein Verbrechen“, erzählt Garscha.

Indem man die Verantwortung für die Registrierung in die Gemeinden verlagerte, konnten weniger Betroffene untertauchen. „Die neuen Bürgermeister kannten ihre Schäfchen, dadurch hatte man die Gewissheit, dass die Registrierung gut funktionierte.“ Denn alle waren sich einig, dass diejenigen, die das NS-Regime mitgetragen hatten, die neue Verwaltung nicht mitbestimmen sollen. In Niederösterreich wurden schließlich etwa 85.000 Menschen registriert.

Bei diesen Personen wurde zunächst zwischen jenen Mitgliedern unterschieden, die schon vor dem „Anschluss“ Österreichs 1938 in der Partei waren, und jenen, die erst danach eingetreten waren. Diese erste Fassung des NS-Verbotsgesetzes wurde bereits am Tag vor der Kapitulation beschlossen, die NSDAP war damit verboten. Doch diese Unterscheidung war zu ungenau, meint Garscha, weil einige spätere Nazi-Größen erst ab 1938 der Partei beigetreten waren.

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Österreichische Zeitung

In der zweiten Phase der Entnazifizierung ab 1946/47 – nach einer Gesetzesreform – wurde nach der Intensität der Mitgliedschaft und der damit verbundenen Verbrechen unterschieden. Somit gab es fortan belastete und minderbelastete Mitglieder, „in der Voraussicht, dass Minderbelastete nach und nach wieder in die Gesellschaft integriert werden“, sagt der Historiker. In Niederösterreich galten etwa 90 Prozent als minderbelastet.

Sondersteuer für Alt-Nazis

Wesentlich war diese Differenzierung auch, als es um den Wiederaufbau ging. Ehemalige NS-Mitglieder sollten für Schäden aufkommen. Zum einen wurden sie etwa zum Schutträumen verpflichtet, andererseits führte die provisorische Regierung eine „Sühneleistung“, eine Strafsteuer, ein, die für die ehemaligen Nazis „deutlich spürbar“ war. Laut Garscha war das jene Maßnahme, die „tatsächlich im Sinne des Erfinders funktionierte“.

Zusätzlich wurden ehemalige Nazis aus Behörden und bestimmten Berufen entfernt, die als sehr sensibel galten, darunter Richter oder hohe Beamte. „Es war unmöglich, dass Richter weiter Recht sprechen, die zuvor in der Unrechtsjustiz involviert waren.“ Allerdings wurden Minderbelastete Ende der 1940er Jahre in der Zivilgerichtsbarkeit untergebracht. In anderen Berufen wurde überhaupt weniger genau hingeschaut.

Strafprozess nach dem Massaker in Stein

Auch deshalb, weil in vielen Bereichen, etwa in der Elektrizitätswirtschaft für den Bau der Donaukraftwerke, Spezialisten gebraucht wurden. Ein Austausch der „Eliten“ wäre in einem kleinen Land wie Österreich, „das eigentlich erst während der NS-Zeit den ersten Modernisierungsschub seit der Monarchie erlebt hat, nicht möglich gewesen“, meint Garscha. Auch in der Verwaltung wurden ab spätestens 1949 wieder Alt-Nazis eingestellt.

Überlastung der Gerichte

Gleichzeitig wurden aber durch diese genaue Aufarbeitung die Gerichte massiv bürokratisch belastet. Denn im Gegensatz zu Deutschland, wo ehemalige Nazis selbst ihre Unschuld beweisen mussten, waren in Österreich Volksgerichte für den Schuldbeweis zuständig. Zunächst wurden dafür alle ehemals illegalen Mitglieder zu fünf Jahren Haft verurteilt, ins Gefängnis mussten sie aber nicht, stattdessen galt eben das Wahlverbot.

100 Jahre NÖ 1945 Endphaseverbrechen 2. WK Krems Stei
Archiv Robert Streibel
Volksgerichtsverhandlung der wegen des Massakers in Stein angeklagten Täter im Landesgericht Wien

In Paragraf elf des NS-Verbotsgesetzes heißt es sinngemäß, dass nur jene angeklagt werden, die während der NS-Herrschaft schwere Verfehlungen begangen haben. In der Praxis bedeutete das 130.000 Verfahren, die „alles blockiert haben“, beklagt Garscha. Während die Gerichte also überprüften, ob „Illegale“ schwere Straftaten begangen hatten, konnten „die richtigen Kriegsverbrecher untertauchen“.

Das war laut Garscha auch eine der „wichtigen Lehren“ aus der damaligen Zeit. Denn schließlich wurden zwar etwa 13.600 Verurteilungen ausgesprochen, der Großteil ging jedoch auf formale Verfahren rund um Paragraf elf zurück. Nur etwa 2.000 Urteile betrafen Schuldsprüche wegen schwerer Verbrechen. 43 Personen wurden zum Tod, etwa 300 weitere Menschen zu lebenslangen bzw. langjährigen Haftstrafen verurteilt.

NS-Massaker vor Gericht

Für Aufsehen sorgten etwa der Prozess rund um das Massaker im Zuchthaus Stein (Bezirk Krems), bei dem gegen Kriegsende im April 1945 Hunderte Gefangene, die zum Teil schon offiziell entlassen worden waren, wahllos erschossen wurden. Doch gerade einmal 14 Personen wurden letztlich angeklagt, fünf zum Tod und fünf weitere zu lebenslanger Haft verurteilt.

Als spannend beschreibt Garscha auch einen Prozess, „der eigentlich nie geführt wurde“. Konkret ging es um Euthanasiefälle in Gugging (Bezirk Tulln) und Mauer-Öhling (Bezirk Amstetten). Angeklagt waren zwar mehrere Mitarbeiter der Gau-Gesundheitsverwaltung, doch der Haupttäter Emil Gelny konnte untertauchen und ins Ausland flüchten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1961 wurde er nie für die grauenvollen Taten, u. a. tödliche Stromschläge, belangt.

Euthanasie in Mauer-Öhling

Wobei selbst viele Inhaftierte im Verlauf mehrerer Amnestien vorzeitig freikamen. Von den einst 300 zu lebenslangen bzw. hohen Haftstrafen Verurteilten waren 1955 nur noch 15 im Gefängnis. „Die Politik wollte sich bei der Verfolgung der NS-Verbrechen nicht mehr allzu sehr exponieren“, betont Garscha. Spätestens ab 1948 ging man auch davon aus, dass die Bevölkerung wollte, dass die Nazis freigelassen werden. „Hier hat man der Bevölkerung etwas unterstellt, was nie abgefragt worden ist.“

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Innerhalb der Bevölkerung plädierte eine Mehrheit zunächst durchaus für eine harte Bestrafung der Nazis, nach dem Motto: „Jetzt werden sie endlich für das bestraft, was sie uns angetan haben, für die Zerstörung“, sagt Garscha. Doch je länger die Aufarbeitung dauerte, umso eher hatten die Menschen andere Probleme. Zugleich wollten viele diesen Teil der Geschichte „schnell vergessen“.

Wahlkampf beendet Entnazifizierung

Ab dem Jahr 1949 beendete schließlich ein Wahlkampf jegliche Ambitionen, das Thema konsequent weiterzuverfolgen. Stattdessen entbrannte unter allen Parteien ein Wettkampf um mögliche Wählerstimmen. Erstmals war dabei auch der Verband der Unabhängigen (VdU), der Vorläufer der Freiheitlichen Partei, zugelassen.

Zu diesem Zeitpunkt hätte die Politik auch schon gern die Volksgerichte abgeschafft, fügt der DÖW-Forscher hinzu, dagegen wehrte sich aber der Alliierte Rat. Die Gerichte mussten also weiterarbeiten, doch in der Praxis wurden kaum noch Verfahren geführt. Mit dem Abzug der Besatzungstruppen 1955 wurden die Volksgerichte deshalb abgeschafft.

Ein Resümee der Entnazifizierung fällt für Garscha zwiespältig aus. Zum einen war sie eine große Leistung, weil sie zum ersten Mal durchgeführt wurde. Andererseits gibt es zu Recht viel Kritik, dass manche nicht hart genug bestraft wurden. „Es war ein erster Versuch“, der letztlich „in einem riesigen bürokratischen Aufwand mit relativ kleinem Erfolg“ endete. „Ein ganz wesentliches Problem war, dass man nicht in die Köpfe hineinschauen konnte.“

Bruno Marek, ehem. DÖW-Präsident, zieht Bilanz über die Entnazifizierung

Viele ungestrafte Kriegsverbrechen

Unverständlich ist für den Historiker, dass 1957 nicht nur das NS-Verbotsgesetz – mit Ausnahme der Wiederbetätigung – abgeschafft wurde, sondern auch das Kriegsverbrechergesetz. Damit gab es plötzlich keine Möglichkeit mehr, Kriegsverbrechen zu verfolgen, etwa die „entsetzliche Folter in den Konzentrationslagern“, die im normalen Strafrecht als verjährt galten. Eine Ausnahme waren Morde, weil diese laut Strafrecht nicht verjähren können.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 15.4.2022

Auch in Waidhofen an der Ybbs war die NS-Zeit mit der Übermalung des Bildes nicht abgeschlossen. Denn mit der Zeit kamen die Hakenkreuze immer wieder durch. Das Bild musste deshalb mehrmals nachbearbeitet werden. Auch der Urheber selbst legte nach der NS-Herrschaft noch einmal Hand an, um das Bild mit Szenen des Theaterstücks „Unter den Linden“ umzumalen. Dabei wurde auch die Parteiszene verändert.

Politisch unumstritten

Eine politische Diskussion über die Genesis des Bildes gab es in Waidhofen an der Ybbs bisher nicht, sagt Zambal: „Man hat quasi durch das russische O. K., dass es Kunst ist, die Berechtigung gesehen, dass es hängen bleiben kann.“ Zudem regierte zwischen 1952 und 1973 ein Bürgermeister, der bis zum offiziellen Verbot 1959 öffentlich sein Ritterkreuz samt eingraviertem Hakenkreuz trug. „Der hatte wohl kein Interesse, dass das Bild verschwindet“, fügt Zambal hinzu.

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Die konstituierende Gemeinderatssitzung in Waidhofen an der Ybbs im März 2021 vor dem „schaffenden und feiernden Waidhofen“

Der Künstler, der später auch seinen Wohnsitz nach Waidhofen verlegte, wurde nach 1945 nach dem NS-Verbotsgesetz bei gekürzten Bezügen zwangspensioniert, aber kurze Zeit später teilrehabilitiert. In den Jahren 1956/1957 bekam Klaus den Auftrag für zwei Graffiti im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, die laut Zambal bis heute dort hängen: „Krieg und Frieden“.

In Waidhofen ist der Künstler bis heute präsent, zuletzt mit einer Klaus-Ausstellung im Rathaus anlässlich seines 50. Todestages 2013, auch ein Weg ist nach ihm benannt. „Er ist also wieder in die Gesellschaft eingegliedert worden.“ Immerhin bleibt die Geschichte des Bildes derzeit erhalten, indem man zumindest bei Stadtführungen laut Zambal mit dem Thema „offen umgeht“.