„Es war so arg, dass wir nicht mehr wussten, wie es denn eigentlich weitergehen wird“, sagte Hans Barwitzius, einst beim Gewerkschaftsbund und später Wiener Neustädter Bürgermeister (SPÖ), in einem ORF-Interview. In diesen Herbsttagen 1950 standen die meisten Betriebe und der Großteil des Alltagslebens in und rund um Wiener Neustadt still. Vorwiegend kommunistische Streikende hielten die Post besetzt, die Telefonleitungen waren tot, Straßen gesperrt.
Gerüchte gingen um, wie immer in Zeiten der Krise. Und die Bevölkerung hatte Angst, große Angst. Vor offenen Straßenschlachten, vor einem Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht, vor einer Teilung Österreichs und einem möglichen Ende der Demokratie.
Unterschiedliche historische Auffassungen
Wie berechtigt diese Sorgen waren, darüber haben Historiker im Verlauf der Jahrzehnte häufig diskutiert. Immerhin war binnen weniger Tage von einem Putsch die Rede, den die Kommunisten unter sowjetischer Führung von langer Hand geplant hatten. Diese These lässt sich aus heutiger Sicht nicht länger aufrechterhalten. Doch alles der Reihe nach.
Die Nachkriegszeit war in Österreich eine Zeit des Mangels. Es gab zu wenige Lebensmittel, zu wenige Maschinen und Investitionen, zu wenige Arbeitsplätze. Zahlreiche Städte waren noch immer von Krieg und Bomben zerstört, allen voran Wiener Neustadt. Hier gab es auch um das Jahr 1950 noch die größten Schäden.
Im besetzten Österreich war die Inflation enorm, Preise für Grundnahrungsmittel stiegen in dramatische Höhen, der wiedereingeführte Schilling war noch nicht stabil. Die Vorläufer der Sozialpartner in Wien versuchten ab 1947, mit sogenannten Lohn- und Preisabkommen gegenzusteuern. Sie sahen vor, die Löhne nur teilweise anzuheben, um keine weitere Inflation zu verursachen. Gleichzeitig wurde der Arbeiterschaft die Deckung der Grundbedürfnisse garantiert.
Doch die Abkommen waren nicht unumstritten. Laufend kam es in den größeren Städten zu Betriebsversammlungen, Kundgebungen und Streiks. Nie war dieser Widerstand allerdings stärker als in den Tagen rund um das vierte Lohn- und Preisabkommen, das am 1. Oktober 1950 besiegelt wurde. Arbeiter bei der VOEST in Linz und später auch etwa in Betrieben in Wien, St. Pölten und Wiener Neustadt legten die Arbeit nieder. Was ursprünglich vom Verband der Unabhängigen (VdU), der Vorläuferpartei der FPÖ, ausging, wurde rasch von den Kommunisten übernommen. Eine führende Rolle nahmen dabei die sogenannten USIA-Betriebe ein.
NS-Industrie in den Händen der Sowjets
Das Unternehmen USIA, eine russischsprachige Abkürzung für die sowjetische Eigentumsverwaltung in Österreich, wurde 1946 gegründet. Es war eine zentrale Säule der Reparationszahlungen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Ehemals nationalsozialistische Firmen und Industriebetriebe wurden von der Besatzungsmacht geleitet, deren Gewinne flossen in die Sowjetunion ab.
161 dieser Betriebe gab es laut Florian Gimpl, der zu diesem Thema seine Diplomarbeit verfasst hat, alleine in Niederösterreich. Von einem Großteil von ihnen ging in diesem Bundesland auch die Streikbewegung 1950 aus. In Zahlen ausgedrückt: Insgesamt beteiligten sich an den Protesten Ende September bzw. Anfang Oktober in Niederösterreich 215 Betriebe mit 54.500 Beschäftigten, 95 Firmen davon bzw. 28.000 Arbeiter waren der USIA zuzurechnen.
In Wiener Neustadt hatte es während der Zeit des Dritten Reichs besonders viel Industrie gegeben, vor allem Rüstungsbetriebe. Hier waren folglich auch etliche Unternehmen von der USIA übernommen worden, darunter die Rax-Werke mit etwa 1.500 bis 2.000 Beschäftigten oder auch die Lichtenwörther Maschinenwerke mit 600 bis 700 Mitarbeitern. Sie bildeten 1950 Hochburgen des Widerstands.
„90 Prozent waren anderer Meinung“
Kommunistische Arbeitervertreter sprachen sich von Beginn an am lautesten gegen das vierte Lohn- und Preisabkommen aus, doch in der Gesamtheit betrachtet waren sie in der Minderheit – zumindest laut Quellen wie Barwitzius, damals sozialistischer Gewerkschafter: „Zehn Prozent waren Kommunisten, 90 Prozent waren immer anderer Meinung.“ Doch plötzlich hätten die Kommunisten einen Generalstreik gefordert. „Da wurde es wirklich gefährlich. Die Trupps der Rax-Werke sind im Lastwagen in die verschiedenen Betriebe vorgefahren und haben dort einfach die Maschinen abgestellt.“
Das schilderte auch Zeitzeugin Grete Sgarz, zu dieser Zeit um die 20 Jahre alt, die damals in der privatwirtschaftlichen Textilfabrik Walek arbeitete: „Wir hatten ab 5.00 Uhr Frühschicht. Nach 9.00 Uhr hörten wir auf einmal, dass die Maschinen ausfallen.“ Zuerst habe man an einen Stromausfall gedacht, „aber auf einmal steht ein fremder Mann da und stellt uns die Maschine ab. Wir vier Frauen, die die Maschine bedient haben, haben uns auf den gestürzt wie Wilde“, doch es habe nichts gebracht. Die Arbeiterinnen wurden heimgeschickt, die Maschinen standen still.
An anderer Stelle wurde bereits versucht, die Mitarbeiter von den Betrieben fernzuhalten. „Wir hatten Frühschicht und fuhren um etwa 4.00 Uhr durch die Wiener Straße“, erzählte Sgarz’ Kollegin Ingeborg Mayerhofer. „Auf einmal war da eine Straßensperre mit Männern, die fragten, wo wir hinwollen. Wir haben uns sehr gefürchtet.“ In diesem Fall kam die Exekutive gerade noch rechtzeitig und die Situation endete glimpflich – doch das war nicht überall der Fall.
Immer mehr Gewalt im Spiel
Tumultartige Szenen spielten sich zu dieser Zeit vielerorts in Österreich ab, nirgends dürfte es so gefährlich gewesen sein wie in Wiener Neustadt. Streikende besetzten dort das provisorisch eingerichtete Postamt und kappten so die Telefonleitungen. Die überforderte Stadtpolizei schritt ein, es kam zu Prügeleien. Etliche weitere Betriebe wurden besetzt, einige leisteten Widerstand, auch hier kam es zu Gewalt.
Daraufhin entschied sich Innenminister Oskar Helmer (SPÖ) in Wien für einen drastischen Schritt. Er schickte die Gendarmerie aus der Bundeshauptstadt nach Wiener Neustadt. Eine klare Verletzung des Besatzungsstatuts, das den Einsatz von ortsfremden Exekutivkräften verbot, erklärte Ferdinand Käs. Der ehemalige Widerstandskämpfer leitete damals diesen Gendarmerieeinsatz und wurde später Sektionschef im Innenministerium.
Heikler Einsatz der Gendarmerie
„Ich habe mich für den Auftrag in Wiener Neustadt damals freiwillig gemeldet. Als politisch denkender Mensch habe ich gewusst, wenn bei dieser Gelegenheit geschossen wird – bei der Wiedereroberung des Postamtes oder bei einer Fabrik –, könnte das das Einschreiten der Besatzungsmacht bewirken.“ Das wiederum hätte womöglich die Teilung Österreichs zur Folge gehabt. „Ich habe meinen Leuten gesagt, es darf erst geschossen werden, wenn ich als erster schieße“, schilderte Käs später in einem ORF-Interview.
Es kam tatsächlich erneut zu Straßenschlachten mit der Polizei. Geschossen wurde zwar nicht, doch die sowjetische Kommandantur mischte sich trotzdem ein. Sie bestellte Käs ein und schickte ihn und seine Männer zurück nach Wien. Käs fügte sich und räumte das Feld. Das Postamt ging wieder an die Streikenden.
Keine Unterstützung für Streikbewegung
Im Endeffekt begannen die Proteste trotzdem nach kurzer Zeit zu bröckeln, nicht nur in Wiener Neustadt. Die Unterstützung in der breiten Bevölkerung fehlte, zu sehr stand diese zur österreichischen Nation, zu sehr hatten allerdings auch die Arbeiterinnen und Arbeiter Angst um ihre Jobs.
Sendungshinweis
„Radio NÖ am Nachmittag“, 15.4.2022
„Es waren alle arm und du hast nur eine Lebensmittelkarte bekommen, wenn du arbeiten gegangen bist“, schilderte etwa Zeitzeugin Mayerhofer, „da wollte keiner mit der Arbeit aufhören“. Die Arbeitsplätze seien rar gewesen, die Arbeitslosigkeit hoch. „Da waren wir sehr glücklich, wenn wir eine Stelle bekommen haben, und wollten sie nicht verlieren.“ Die Arbeit sei damals lebensnotwendig gewesen, sagte auch ihre Kollegin Sgarz: „Wir wollten deshalb nicht streiken, wir wollten uns das nicht gefallen lassen.“
Tausende Gegendemonstranten auf dem Hauptplatz
Die Gegner der Streiks in Wiener Neustadt, darunter die sozialistischen und christlichsozialen Gewerkschafter, riefen letztlich zu einer Gegenkundgebung auf. Binnen weniger Stunden strömten Tausende zum Hauptplatz. SPÖ-Politiker Barwitzius erinnerte sich: „Das war eine Begeisterung, wie ich sie mein ganzes Leben nicht erlebt habe. Wir hatten das Gefühl, jetzt sind wir stark. Jetzt zeigen wir es den Russen, jetzt kann nichts mehr passieren.“

Wie knapp Österreich tatsächlich einer Teilung bzw. der Umwandlung in eine kommunistische Volksdemokratie entgangen war, blieb lange unklar. Erst Jahrzehnte später beleuchtete die Geschichtsforschung die damaligen Ereignisse im Detail. „Ich glaube, man muss 1950 zwei Erinnerungsebenen unterscheiden“, sagt Historiker Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien heute. Auf der subjektiven Ebene hätten die Menschen damals sehr wohl Angst vor einer Teilung gehabt, vor dem Ende des geeinten Österreichs. In Wien etwa, wo sich Spitzenpolitiker einer Masse an aufgebrachten Demonstranten gegenüber sahen, aber auch in Wiener Neustadt.
Sowjets wollten keine Teilung
Realpolitisch habe sich die Sache aber anders gestaltet – insbesondere nach der Sichtung von alten sowjetischen Dokumenten, sagt Rathkolb: „Man sieht ganz klar, eine Teilung passte nicht ins Konzept der Sowjetunion. Die Sowjetunion wollte damals den Status Quo, also die Besatzungszonen, aufrecht erhalten.“ Priorität hatte für Moskau damals die Deutschlandfrage, Österreich spielte im Vergleich nur eine nachgeordnete Rolle.
So habe die KPÖ etwa bereits 1948 in Moskau angefragt, ob eine Teilung auch für Österreich möglich sei – und sei damit bei den Sowjets abgeblitzt. Die Kommunistische Partei habe sich letzten Endes auch bei den Protesten 1950 verkalkuliert, „da nach einer kurzen Streikpause kein gesamtösterreichischer Protest entstanden ist“, so Rathkolb.
Auswirkungen hatte die gescheiterte Streikbewegung jedenfalls auf die österreichischen Gewerkschaften. Während die Kommunisten bei den Parlamentswahlen der Zweiten Republik von Anfang an enttäuscht hatten, waren diese in den Betriebsräten 1950 noch verhältnismäßig einflussreich. Hier baute die politische Konkurrenz auf die Empörung der Bevölkerung über den angeblichen Putschversuch. „Die sozialistische, aber auch die christlichsoziale Gewerkschaft nutzten die Situation, um die kommunistischen Betriebsräte aus der Gewerkschaft hinauszubekommen“, sagt Historiker Rathkolb. „Da wurde vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs Parteipolitik betrieben.“