Hunger in Österreich 1952
ORF
ORF
„100 Jahre NÖ“

Als Österreich das letzte Mal Hunger litt

Heute ist eine Versorgung mit Grundnahrungsmitteln selbstverständlich, aber noch vor 75 Jahren gab es Hunger, auch in Niederösterreich. Selbst Jahre nach dem Krieg, Anfang der 1950er, schrieben die Behörden zwei vegetarische Tage pro Woche vor.

„Wir hatten in Wr. Neustadt fast gar nichts zum Essen“, berichtete Zeitzeugin Maria Stummfoll. Der Hunger sei in diesen Wochen und Monaten sehr groß gewesen. „Mein Kind war sehr krank, sie war im Spital mit der Ruhr, und wir hatten keine Milch, wir hatten nichts.“ Der Arzt habe gemeint, „wenn sie nicht bald Milch und Zucker bekommt, stirbt sie mir“, erzählte Stummfoll unter Tränen im Interview für die Dokumentation „Österreich II“ von Journalistenlegende Hugo Portisch. „Da war ich gezwungen, hinaus aufs Land zu gehen, um zu schauen, dass ich Milch bekomme. Die Bauern waren aber nicht freundlich zu uns, sie haben uns oft die Tür zugemacht oder haben uns weggejagt.“

Häufig sei die junge Mutter damals 20 Kilometer zu Fuß gegangen, nur um das Allernotwendigste zu erhalten. „Am liebsten war den Bauern, wenn man ihnen Gold gegeben hätte, aber das haben wir leider nicht gehabt.“ Sie habe schon früh ihre goldene Armbanduhr hergegeben, „dafür habe ich einen Kilo Zucker bekommen, damit mein Kind überleben konnte. Es war ganz, ganz furchtbar“, sagte Stummfoll.

„Ein großes Sorgenkind außer Wien war Wr. Neustadt, denn diese Stadt war ja fast vollständig zerstört und aller Hilfsquellen entblößt“, erinnerte sich Andreas Korp, der in der ersten Zeit für die Lebensmittelversorgung in der neuerrichteten Zweiten Republik verantwortlich war, später in einem ORF-Interview. Fast täglich sei der damalige Bürgermeister Rudolf Wehrl (SPÖ) zu ihm gekommen, um Lebensmittel für seine Stadtbevölkerung zu erbitten.

100 Jahre NÖ 1943 Wr. Neustadt Bombardierung
Stadtarchiv Wiener Neustadt
Wr. Neustadt wurde bei den Luftangriffen der Alliierten in den letzten Kriegsjahren am schwersten beschädigt

Keine Hilfe von oben und außen

Die Situation rund um Wien war in den Tagen der Befreiung vielerorts dramatisch. Infrastruktur war zerstört, landwirtschaftliche Flächen lagen zum Teil brach, Lebensmittellager der Zivilbevölkerung wurden von Soldaten aller Länder geplündert. Die Funktionäre der NS-Verwaltung waren entweder geflüchtet, verhaftet oder tot, die alliierten Kräfte und die Vertreter des neuen Österreichs konnten sie nicht so schnell ersetzen. Dadurch war die Bevölkerung in erster Linie auf sich selbst gestellt, jeder musste auf die eigenen Vorräte und sein Netzwerk zurückgreifen.

In den Geschichtsbüchern werde die Befreiung meist als großer Umbruch dargestellt – „wenn man sich die Zeit allerdings aus der Alltagsperspektive der Bevölkerung anschaut, dann war es weniger ein Einschnitt als vielmehr eine Kontinuität der Mangelgesellschaft“, sagt Wirtschafts- und Sozialhistoriker Ernst Langthaler von der Johannes-Kepler-Universität Linz. Bereits in den letzten Kriegsjahren hätten die zugeteilten Lebensmittelmengen abgenommen „und das setzt sich in den ersten Nachkriegsjahren fort“, so Langthaler.

Landwirtschaft in der Nachkriegszeit
ORF
Die Österreicherinnen und Österreicher hatten in der Nachkriegszeit meist nur rudimentäre Gerätschaften zur Verfügung

Doch auch die Bauern hatten Schwierigkeiten. Die Kriegshandlungen im Frühjahr 1945 fielen ausgerechnet in die übliche Anbauzeit, dadurch kam es in etlichen Regionen zu Ernteausfällen. Außerdem fehlten die Arbeitskräfte, sagt auch Historiker Ernst Bruckmüller von der Universität Wien. Die überlebenden Männer seien erst im Lauf der nächsten Jahre zurückgekommen und „die Frauen und Mädchen trauten sich nicht auf die Felder“.

Eine Aushilfe hätten die „volksdeutschen“ Flüchtlinge und Vertriebenen aus Rumänien und der Tschechoslowakei geboten – „sie mussten an sich nach Deutschland gehen, aber der Landwirtschaftsminister wollte sie möglichst lange hier behalten“, sagt Bruckmüller.

Lebensmittelmarken bestimmen den Alltag

Die wenigen Lebensmittel, die über der Theke abgegeben wurden, waren nur gegen Marken zu bekommen. Das Rationierungssystem mit Lebensmittelkarten hatte es bereits während des Kriegs gegeben, die Besatzungsmächte führten es nach kurzer Zeit erneut ein. Unklar war zuerst, in welchem Ausmaß die vier Alliierten für die Lebensmittelversorgung verantwortlich waren, insbesondere für jene in Wien. Nach einigen Monaten, in denen die Sowjets im Osten alleine zuständig waren, einigte man sich darauf, dass jeder für seine eigene Besatzungszone sorgen müsse. Für Wien bedeutete das vier Lebensmittellieferanten.

NS-Lebensmittelkarten
Bereits in der NS-Zeit gab es eine Begrenzung der Nahrungsmittelvorräte

Das System der Lebensmittelkarten wurde in den folgenden Jahren immer wieder angepasst; so wurden im zeitlichen Verlauf immer mehr Berufsgruppen unterschieden, die Anspruch auf unterschiedliche Rationen hatten, je nach körperlicher Belastung. Voraussetzung für einen Anspruch war schon nach kurzer Zeit der Arbeitswille – wer also nicht arbeiten wollte oder diesen Willen nicht glaubwürdig machen konnte, der drohte zu verhungern.

„Nicht einmal Hälfte des Minimums zum Vegetieren“

Für Normalverbraucher waren 1945 nur etwa 800 Kalorien pro Tag vorgesehen. Die Folge: Jeder, der sich nicht anderweitig Lebensmittel besorgen konnte, hungerte. Man habe „nicht einmal die Hälfte des Minimums zum Vegetieren“, beklagte Staatssekretär Korp damals.

„Von 800 Kalorien kann man nicht überleben“, sagt auch Historiker Langthaler. Hunger habe daher für die Arbeiter und die ländliche Unterschicht zum Alltag gehört. „Ein Gutteil des Tagesablaufs bestand darin, sich die tägliche Ernährung zu organisieren, wie das damals hieß“, so Langthaler. Neben offiziellen Marken und dem Schwarzmarkt habe dazu auch das Betteln und Stehlen gehört: „Lebensmitteltransporte wurden überfallen und geplündert, einfach aus der Not heraus“.

Die Todesfälle häufen sich

Im Herbst 1945 war klar, dass die Ernte nicht ausreichen würde und dringend Lebensmittel aus dem Ausland gebraucht wurden. Schlimmer noch als in der Bundeshauptstadt war die Situation in den größeren niederösterreichischen Städten: „Die Ernährungslage Niederösterreichs ist katastrophal. Die Bevölkerung, besonders in den industriellen Bezirken Wr. Neustadt, St. Pölten, Baden und Neunkirchen, leidet seit Monaten Hunger und es häufen sich die Todesfälle, die auf Hungerödem zurückgehen“, schrieb das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) in einer damaligen Einschätzung.

„Unter Bedachtnahme auf die unzureichende Nahrungsmittelaufbringung wurden für das Land Niederösterreich Rationssätze festgelegt, die weit unter den für Wien geltenden Normen liegen und nicht nur für eine Reproduktion der Arbeitskraft, sondern auf die Dauer auch für die Erhaltung des Lebens völlig unzureichend sind“, schrieb das WIFO, „aber selbst diese weit unter dem physiologischen Mindestbedarf bemessenen Rationen können nicht eingehalten werden“.

Landwirtschaft in der Nachkriegszeit
ORF
Leopold Figl (ÖVP; l.) musste sich als Bundeskanzler in den Anfangsjahren der Zweiten Republik immer wieder um die Lebensmittelversorgung kümmern

Internationale Hilfe sichert Überleben

Auch 1946 und 1947 seien die Ernten noch schlecht gewesen, sagt Bruckmüller: „Trockene Vegetationszeiten und sehr kalte Winter bedeuteten geringe Erträge an Getreide und Erdäpfeln.“ Mit der eigenen Produktion konnte Österreich nur ein Drittel des Nahrungsmittelbedarfs decken, ergänzt Historikerkollege Langthaler. Dass die Menschen in den Städten nicht massenhaft verhungerten, lag nur an Hilfslieferungen aus dem Ausland.

Anfang 1946 trafen die ersten Transporte der Vereinten Nationen (United Nations Relief and Rehabilitation Administration; kurz: UNRRA) ein. Neben Lebensmitteln wurden auch landwirtschaftliche Maschinen geliefert – knapp 14.000 alleine für Betriebe in Niederösterreich und Wien, wie es bei der Landwirtschaftskammer heißt.

Erst 1948 besserte sich die Situation spürbar, „vor den Wahlen 1949 konnten einige Nahrungsmittel schon ohne Karten bezogen werden“, sagt Bruckmüller. Während die Landbevölkerung sich mittlerweile wieder ohne größere Probleme versorgen konnte, ging der Hunger in den Städten vielfach weiter. Zu knapp war das Angebot der offiziell „aufgerufenen“ Waren, die man mit Lebensmittelkarten beziehen konnte.

Neue Blüte für den Schwarzmarkt

Immer größere Bedeutung kam mittlerweile dem inoffiziellen Geschäft zu. „Die drakonischen Strafen der Nationalsozialisten hielten den Schwarzmarkt bis 1945 in Grenzen, die junge Republik ging weniger wild dagegen vor“, so Historiker Bruckmüller, der in St. Leonhard am Forst (Bezirk Melk) aufgewachsen ist.

Sein Großvater „fuhr als Fleischhauer und Viehhändler jede Woche nach Wien, mit Schlachtvieh, und nahm zuweilen etwas für den Schwarzmarkt mit“. Bruckmüllers Vater habe so etwa für ein Stück Geselchtes einen Wintermantel erworben. „In Wien gab es eine recht arme Großtante, die von einem Stück Speck, das sie ‚schwarz‘ aus St. Leonhard erhalten hatte, wochenlang zehrte. Sie schnitt sich täglich nur ein winziges Stück herunter, gerade für den Geschmack und ein wenig Kraft“, erzählt der Historiker aus seiner Familiengeschichte.

In den Jahren nach Kriegsende gingen umgekehrt die Städter immer wieder aufs Land, um zu „hamstern“, so Bruckmüller: „Da wechselte manches Schmuckstück den Besitzer gegen ein wenig Mehl oder Erdäpfel.“ Auch dabei musste man aber vorsichtig sein: Größere Mengen Gemüse, Obst oder gar Fleisch wurden auf dem Weg nach Wien beschlagnahmt.

Die Versorgungslage wurde zwar im Lauf der Zeit besser, „zu Beginn der Fünfzigerjahre beginnen dann schon Phänomene, die in den Medien als Fresswelle bezeichnet werden“, so Langthaler. „Es begann dann tatsächlich eine Zeit, in der sich zumindest der Mittelstand luxuriöseres Essen leisten konnte. Dadurch wurden Schnitzel und Schweinsbraten von einem weit entfernten Traum zu etwas, das man sich immer öfter leisten konnte.“

Kampf gegen „illegales Schnitzel“

Gerade hier, beim Fleisch, kam es 1951 allerdings noch einmal zu Engpässen. Das „Wirtschaftsdirektorium“ aus Vertretern der Regierung und der Sozialpartner versuchte gegenzusteuern. Der Dienstag und der Freitag wurden zu „fleischlosen Tagen“ erklärt, an denen Verkauf und Zubereitung von Fleisch verboten waren, sowohl im Handel und der Gastronomie als auch in privaten Haushalten. „Das Wirtschaftsdirektorium rechnet mit der Einsicht der gesamten Bevölkerung (…), da sonst das Lebensmittelbewirtschaftungsgesetz mit allen Strafbestimmungen in Anwendung gebracht werden müßte“, hieß es am 21. August 1951 in der „Wiener Zeitung“.

„Wiener Zeitung“ zu fleischlosen Tagen ab 1951
ÖNB/Anno

Kritik daran kam aus unterschiedlichen Richtungen. Die „Österreichische Zeitung“ der KPÖ nannte die Maßnahme „Augenauswischerei“. Aufgrund der hohen Lebensmittelpreise gebe es „für die breite Masse der Werktätigen schon jetzt nicht zwei, sondern mindestens fünf fleischlose Tage in der Woche“.

Die „Salzburger Nachrichten“ orteten als Ursachen der „Fleischkrise“ Misswirtschaft und Preistreiberei der Bauern: „In Wien sah man seit zwei Wochen kein einziges Schwein mehr auf dem Viehmarkt von St. Marx. Aber ‚unter der Budel‘ und in jeder Gaststätte gibt es Schweinefleisch, freilich überteuert.“ Ungeklärt sei, „wie die Behörden diesen Beschlüssen Wirksamkeit zu verschaffen gedenken, außer sie wollten an den Dienstagen und Freitagen ‚Häferlgucker-Rollkommandos‘ auf die Hausfrauen und Bäuerinnen loslassen“, schrieben die „Salzburger Nachrichten“ süffisant.

Landwirtschaft in der Nachkriegszeit
ORF
Offiziell gehandeltes Fleisch war Anfang der Fünfzigerjahre Mangelware

Trotz des Widerstands blieben die erzwungenen vegetarischen Tage bis 1952 aufrecht. Allerdings: „Die allgemeine Wirtschaftslage verbesserte sich ab Beginn der 1950er-Jahre stetig“, heißt es bei der Landwirtschaftskammer. „Angetrieben wurde diese Entwicklung durch die Stabilisierung des Schillings, die auch den Anstieg von Löhnen und Preisen eindämmte.“

Der Beginn der „Hörndlbauern“ und „Körndlbauern“

Doch auch in der Landwirtschaft entspannte sich die Lage. Kriegsgefangene kehrten zurück „und auch Betriebsmittel für die Landwirtschaft waren wieder besser verfügbar, also Treibstoff, Handelsdünger und Maschinen“, sagt Historiker Langthaler. Damit habe eine Spezialisierung begonnen, die bis heute andauert. „Das, was wir unter dem Begriff ‚Hörndlbauer‘ und ‚Körndlbauer‘ kennen, also Bauern, die sich entweder auf Viehhaltung oder Getreidebau spezialisieren, das zeichnete sich ab den Fünfzigerjahren ab.“

1953 schließlich wurde das System der Lebensmittelkarten komplett abgeschafft, Nahrungsmittel konnten von nun an frei verkauft werden. Spätestens jetzt war der – hoffentlich – letzte große Hunger in Österreich Geschichte.