„Einmal habe ich fast vierzig Tage durchgearbeitet, aber das habe ich gerne gemacht. Man brauchte ja ehrlich gesagt das Geld“, erzählt Otto Irschik. Heute ist er längst in Pension, in den 1950er-Jahren hat er als Baustellenelektriker am Kraftwerk Ottenstein (Bezirk Krems) mitgearbeitet. Ein lebensgefährlicher Job, auf den Leitern über dem Abgrund oder auch bei den Sprengungen des Gesteins: „Es gab keine Schutzhelme und man war auf sich gestellt – aber was spielt das für eine Rolle, wenn man jung ist?“
Immer wieder kam es auf der Baustelle zu Unfällen, einmal sei auch er selbst in den Stromkreis gekommen, erinnert sich der gebürtige Waidhofner: „Ich hing bereits bewusstlos in der Leitung.“ Ein Arbeiter habe ihn von dem Mast heruntergeholt und ihm auf diese Weise das Leben gerettet. „Selbst schuld“, sagt Irschik heute über seinen Unfall. „Man muss ja aufpassen.“
Er war damals einer von etwa 800 Arbeitern, die von 1953 bis 1957 die neue Sperre und das dazugehörige Kraftwerk errichteten. 69 Meter hoch und bis zu 24 Meter dick wurde die Staumauer – genug, um gut 70 Millionen Kubikmeter Wasser aufzustauen und zurückzuhalten. Ein gewaltiges Projekt, insbesondere für eine Region mit enormen strukturellen Problemen.
Land am Strome ohne Strom
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte es im auferstandenen Österreich an fast allem, auch an Energie. Immer wieder kam es zu Stromausfällen. Die eigenen Kraftwerkskapazitäten reichten bei weitem nicht aus, um die Bevölkerung zu versorgen, man war auf Stromimporte aus dem Ausland angewiesen.
Sendungshinweis
„Radio NÖ am Nachmittag“, 25.4.2022
Abhilfe sollte in erster Linie der Verbund schaffen. Infrastrukturprojekte mit bisher ungeahnten Dimensionen wurden binnen relativ kurzer Zeit umgesetzt, etwa die Kraftwerksgruppe Kaprun (Salzburg) im Hochgebirge oder auch mit Ybbs-Persenbeug das erste Donaukraftwerk. Dabei griffen die Ingenieure auf Pläne aus der NS-Zeit bzw. zum Teil auch schon aus der Zeit vor dem „Anschluss“ zurück. Nun, zu Beginn der 1950er-Jahre, konnten diese Vorhaben realisiert werden, finanziert mit dem Geld aus dem US-amerikanischen Marshallplan.

Nicht nur bundesweit wurde versucht, der Stromknappheit Herr zu werden, sondern auch in den Regionen. Eine Zeit des Wiederaufbaus und des Aufschwungs stand bevor – ausreichend Elektrizität galt dafür als Grundvoraussetzung. Zum einen für die erhofften Investitionen in Industriebetriebe, zum anderen für Privathaushalte. Schließlich war noch lange nicht jede Gemeinde in Niederösterreich angeschlossen, Versorgungslücken gab es insbesondere im Alpenvorland, in der Buckligen Welt – und im Waldviertel. Erst 1963 ging Harmanschlag (Bezirk Gmünd) als letzte Ortschaft ans Netz.
Für die Versorgung war hierzulande die Niederösterreichische Elektrizitätswirtschafts-Aktiengesellschaft (NEWAG) zuständig. 1922 gegründet, sollte sie die verschiedenen Versorgungsgebiete verbinden und historisch gewachsene – und teilweise kuriose – Monopole beenden – mehr dazu in Neue Kraftwerke beenden kuriose Monopole (noe.ORF.at; 7.1.2022). 1947 wurde die Elektrizitätswirtschaft in Österreich verstaatlicht, Alleineigentümer der NEWAG wurde das Land Niederösterreich.
Stromverbrauch verdoppelt sich alle zehn Jahre
Im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden zwar in ganz Niederösterreich zahlreiche Kraftwerke, kein einziges davon war allerdings groß genug, um überregionale Bedeutung zu erlangen. Von einer ausreichenden Stromproduktion konnte keine Rede sein und das Problem drohte sich immer weiter zu verschärfen.
So verdoppelte sich der Strombedarf in Niederösterreich nach dem Krieg alle zehn Jahre, schätzt man bei der EVN. Importe wären für diesen steigenden Bedarf rasch zu teuer geworden. Niederösterreich sei damals in großem Maße abhängig vom Verbund gewesen, sagt der ehemalige Kraftwerksarbeiter Irschik. „Wir mussten schauen, dass wir auf eigene Beine kommen.“
Auf die Donau hatte die NEWAG keinen Zugriff, zuständig war dort ausschließlich der Verbund. Deshalb suchte man nach anderen Möglichkeiten – und fand sie am Kamp. Die Lage erschien geeignet, auch für einen dringend notwendigen wirtschaftlichen Impuls. Die Region des nördlichen Niederösterreichs hatte viel von seiner Dynamik eingebüßt und drohte in der Zeit des Aufschwungs den Anschluss zu verlieren. Immerhin waren die Verbindungen in die Tschechoslowakei mittlerweile gekappt, der Eiserne Vorhang machte aus einer prosperierenden Region eine geopolitische Sackgasse.
Kraftwerke statt Isolation und Verarmung
„Vor diesem Hintergrund erscheint der Kraftwerksbau als ein landespolitischer Versuch, der ökonomischen Isolation und Verarmung entgegenzuwirken“, heißt es aus dem Archiv der EVN. Die Gelder des Marshallplans waren deren Vorläufergesellschaft, der NEWAG, verwehrt. Dennoch gelang die Finanzierung des wohl größten Investitionsprojekts in der Geschichte des Landes.
„Trotz politisch und wirtschaftlich ungünstiger Voraussetzungen – Niederösterreich war sowjetisch besetzt, Marshallplan-Kredite für Energieinvestitionen konnte dadurch nicht beansprucht werden und Teile der zukünftigen Baustelle lagen auf dem Truppenübungsplatz Allentsteig, der von der Besatzungsmacht benützt wurde – erfolgte am 1. Oktober 1949 der Spatenstich für die Kraftwerksgruppe“, schreibt Herbert Schmid 2015 in seiner Dissertation zu dem Thema.
Begonnen wurde mit dem Bau der Staustufe Thurnberg-Wegscheid. Sie war vergleichsweise klein und wurde bereits 1952 fertiggestellt. Zehn Kilometer weiter entstand das Kraftwerk Dobra-Krumau, das 1953 in Betrieb ging. Im darauffolgenden Jahr wurde schließlich das Herzstück der Kraftwerkskette in Angriff genommen. Der Stausee Ottenstein wurde 1957 feierlich eröffnet. Ein Meilenstein für die Region: „Die Bezeichnung ‚Kaprun des Waldviertels‘ in Analogie zum Bau von Kaprun ist als Würdigung einer besonderen Aufbauleistung in der Zeit zu verstehen“, schreibt Schmid.
Dobra-Krumau eröffnet
Die „Wochenschau“ berichtete im Jahr 1953 über den Festakt zur Eröffnung des Kraftwerks Dobra-Krumau. Dabei war auch politische Prominenz zu Gast.
Attraktive Arbeitsplätze in strukturschwacher Region
An diesem Projekt beteiligt war auch Elektriker Otto Irschik. Im Alter von 22 Jahren, nach einer Anstellung bei einer Elektrofirma in Waidhofen an der Thaya, hatte er kurzerhand beschlossen, zur Baustelle aufzubrechen. „Ich wurde von Leuten animiert, es lässt sich viel verdienen und man kann viel arbeiten“, erzählt er. Das sei dann auch so gewesen.
Zuständig war er unter anderem für die Beleuchtung der Baustelle – ein Knochenjob, bei Tag und noch mehr bei Nacht. In den Nachtstunden wurden etwa Sprengungen durchgeführt, dabei mussten beschädigte Kabel repariert werden. Sicherheitsvorkehrungen gab es praktisch nicht, sein Überleben verdankt Irschik dem Zufall.
Bergrutsch bei Kraftwerk 1954
Die „Wochenschau“ berichtete über einen Felssturz, der das Kraftwerk Dobra-Krumau kurz nach dessen Fertigstellung traf.
Neun Tote bei Brückeneinsturz
Der schwerste Unfall ereignete sich allerdings nicht direkt bei der Errichtung der Sperre bzw. des Kraftwerks, sondern auf einer nahegelegenen Brückenbaustelle. Die bisherigen Straßen wären nach dem Aufstauen unter Wasser gelegen; stattdessen sollte eine 700 Meter lange Spannbetonbrücke die Orte Friedersbach (Bezirk Zwettl) und Rastenfeld in Zukunft verbinden.
Am 24. Oktober 1956 kam es zur Katastrophe. Das Gerüst um einen halbfertigen Brückenpfeiler brach in sich zusammen und riss Betonmassen mit sich. Zehn Arbeiter wurden unter ihnen begraben, nur einer von ihnen konnte gerettet werden. Etliche weitere Arbeiter wurden bei dem Unglück verletzt.
„Graziös wie Spinnenweben wirken die Stahlverstrebungen eines Gerüstes der neuen Straßenbrücke“, hieß es damals in einem Bericht im ORF-Fernsehen, „aber sie waren zu graziös. Sie brachen unter der Last des Betons zusammen.“ Es sei furchtbar gewesen, sagt auch Irschik über jenen Tag: „Wir haben das auf der Baustelle gleich erfahren und sind hingepilgert.“
Das „Weltjournal“ des Österreichischen Rundfunks berichtet über das Unglück in Ottenstein
Kaum Proteste von Umweltschützern
Die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung zu derartigen Großprojekten wurde durch die Unfälle laut Zeitzeugen nicht beeinträchtigt. Auch die massiven Eingriffe in die teils unberührte Natur waren damals kaum Thema, zumindest verglichen mit heutigen Maßstäben. Man war in erster Linie stolz auf die technische Leistung und blickte mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft, das geht auch aus den Medienberichten dieser Zeit hervor. Die Beeinträchtigung oder gar Zerstörung von regionalen Ökosystemen nahm man dafür gerne in Kauf.
Das änderte sich erst deutlich später, als die NEWAG einen erneuten Ausbau der Kraftwerkskette am Kamp anstrebte, konkret bei Steinegg und Rosenburg (beide Bezirk Horn). Die Austria Presse Agentur berichtete im Juli 1980:
Ihr erstes Wasserkraftwerk seit der Realisierung von Ottenstein plant die NEWAG mit einem Zweistufen-Projekt am Kamp in der Flussstrecke Wegscheid-Rosenburg. Bisher hatte sich die NEWAG auf kalorische Kraftwerke konzentriert, da sich der Ausbau des oben genannten Projektes erst als wirtschaftlich erweist, seit Heizöl mehr als 2.000 Schilling je Tonne kostet.
Das geplante Projekt soll mit Baukosten zu heutigen Preisen zwischen 650 und 700 Millionen Schilling bis ca. 1985/86 fertiggestellt werden und eine Gesamtleistung von 31 MW bzw. eine Stromerzeugung von 50 Millionen kWh im Jahr aufweisen. Letzte Hürde zur Realisierung sind vor allem Widerstände von Umweltschützern, die allerdings, wie Vorstandsmitglied Dipl.Ing.Dr.techn. Harald Pöhnl gegenüber der APA erklärte, zu überwinden seien.
Neue Projekte für das „notleidende Waldviertel“
1980 sprachen sich auch die Bundesregierung und die Arbeiterkammer für neue Kraftwerksprojekte an dem Fluss aus. „Dabei wurden auch Argumente im Sinne des Fremdenverkehrs und der Beschäftigungslage im notleidenden Waldviertel erwähnt“, hieß es damals in der APA.
Mit den heftigen Protesten aus der Bevölkerung hatte die NEWAG nicht gerechnet. Diese wurden von der „Kronen Zeitung“ unterstützt und auch politisch aufgegriffen, Landeshauptmann-Stellvertreter Hans Czettel (SPÖ) wollte 1980 das Kamptal zum Naturschutzgebiet erklären. 1983 ließen die Verantwortlichen das Projekt zähneknirschend ruhen, nachdem bereits zehn Millionen Schilling in Vorarbeiten geflossen waren – freilich mit einem Hintergedanken, wie die APA berichtete: NEWAG-Direktor Rudolf Gruber habe in einem Pressegespräch seine Überzeugung ausgesprochen, dass „die derzeitige Energiepolitik nur von transitorischer Bedeutung sei, letzten Endes werde sich die Kernenergie durchsetzen“.
Zu Erinnerung: Bereits Jahre zuvor hatte sich die Bevölkerung rund um die Causa Zwentendorf gegen die Atomkraft ausgesprochen. Seit 1978 verbot das Atomsperrgesetz die Inbetriebnahme von Kernkraftwerken ohne vorherige Volksabstimmung.
EVN: „Graswurzel-Widerstand“ unterschätzt
Heute heißt es bei der NEWAG-Nachfolgerin EVN, man habe den Widerstand damals vielleicht deshalb unterschätzt, „weil man meinte, dass er nicht repräsentativ sei, und die NEWAG überzeugt war, die relevanten lokalen Gruppen hinter sich zu haben“. Im Rückblick erscheine dieser „Graswurzel-Widerstand“ laut EVN „als Auftakt und Vorspiel zur ‚Anti-Hainburg-Bewegung‘ gegen den Bau des Donaukraftwerks“ im Dezember 1984.