„100 Jahre NÖ“

Als Wien plötzlich um drei Viertel schrumpfte

In der NS-Zeit war Wien die flächenmäßig größte Stadt des „Dritten Reichs“. 1938 hatten die Nationalsozialisten fast 100 niederösterreichische Orte eingemeindet. Erst 1954 war dieses Experiment zu Ende. Wien schrumpfte – doch skurrile Spuren blieben bis heute.

„Logisch war es nicht wirklich“, sagt Historiker Christian Rapp vom Haus der Geschichte Niederösterreich in einer ORF-Dokumentation über die NS-Pläne eines „Groß-Wien“. Raumplanerisch sei dieses Vorhaben überhaupt nie sinnvoll gewesen – „Wien war mehr oder weniger eine stagnierende Stadt ohne ein riesiges Wachstum“.

Trotzdem beschloss die nationalsozialistische Führung bereits kurze Zeit nach dem „Anschluss“ 1938 eine Maßnahme enormen Umfangs. Vorbilder waren frühere Pläne, die die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung 1933 in Deutschland umgesetzt hatten, etwa jene eines „Groß-Hamburg“ 1937. Auf lokale und regionale Befindlichkeiten nahm man hier wie dort kaum Rücksicht.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 29.4.

Am 15. Oktober 1938 trat in Wien die größte Neuordnung seit Jahrzehnten in Kraft. 97 Gemeinden aus dem niederösterreichischen Umland waren von einem Tag auf den anderen Teil der Metropole, darunter Schwechat, Klosterneuburg und Mödling. Das Stadtgebiet reichte von Fischamend bis Purkersdorf, von Guntramsdorf bis Enzersfeld. Zum Teil ländlich geprägte Ortschaften wurden zu neuen Bezirken zusammengefasst – statt 21 gab es von nun an 26 von ihnen in Wien.

Karte von „Groß-Wien“ 1938
Kartogr. Anstalt G.Freytag & Berndt A.G.
Die Dimensionen des damaligen „Groß-Wien“ muten aus heutiger Sicht gigantisch an

Per Federstrich zur sechstgrößten Stadt der Welt

Die ehemalige österreichische Bundeshauptstadt zählte plötzlich gut 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr, damit knackte sie erstmals seit dem Ende der Monarchie die Zwei-Millionen-Marke. Wien war nun die sechstgrößte Stadt der damaligen Welt. Noch eindrucksvoller waren die Dimensionen der Gebietserweiterung: Die Stadt war plötzlich fünfmal so groß wie zuvor, mit mehr als 1.200 Quadratkilometern wurde aus Wien die flächenmäßig größte Stadt des sogenannten Dritten Reichs.

„Es war nicht die Liebe der Nationalsozialisten zu Wien, das kann man auf jeden Fall sagen“, erklärt Werner Michael Schwarz, Historiker des Wien Museums, in der ORF-Doku. Vielmehr hätte die NS-Führung bereits militärische Absichten verfolgt, Wien sollte zu einer Kasernenstadt mit Flughäfen und anderer militärischer Infrastruktur werden. „Es ging hauptsächlich um den schon geplanten Krieg“, sagt Schwarz. So wurde etwa bereits kurz nach dem „Anschluss“ 1938 mit dem Bau eines militärischen Flugplatzes auf dem Gebiet des heutigen Flughafens Wien-Schwechat begonnen.

Karikatur eines NS-Propagandablatts zu den Plänen eines „Groß-Wien“
ÖNB/Anno
Die gleichgeschalteten Medien begrüßten die Pläne der Nationalsozialisten

Als politische Hauptstadt sei Linz in der NS-„Ostmark“ bevorzugt worden, Wien sollte eher den Status einer deutschen Kulturhauptstadt bekommen, sagt Heide Liebhart, Leiterin des Bezirksmuseums Liesing. Der heutige 23. Wiener Gemeindebezirk trug beispielsweise damals die Nummer 25 und umfasste neben der bisherigen niederösterreichischen Stadt Liesing auch unter anderem die Gemeinden Atzgersdorf, Breitenfurt, Perchtoldsdorf und Siebenhirten.

U-Bahn bis nach Mauer und Inzersdorf

„Dieser Teil von ‚Groß-Wien‘ war bis zum Kriegsende ein besonders großflächiger Bezirk“, so Liebhart. Hier habe es unterschiedliche Industriezweige gegeben, „aber für die Nationalsozialisten war der Bezirk hauptsächlich wegen des Erdöls interessant – man hatte ja in Vösendorf ein großes Ölfeld – und wegen der weiten Flächen für militärische Planungen“.

Im Stadtgebiet ihres „Groß-Wien“ planten die Nationalsozialisten zahlreiche Großprojekte – „Monsterprojekte“, wie Liebhart sie nennt. Unter anderem sollte damals ein großes U-Bahn-Netz entstehen. „Von der Wiener Innenstadt heraus bis nach Mauer sollte eine Linie fahren“, erzählt die Historikerin. „Eine zweite Linie sollte vom Stadtzentrum bis nach Inzersdorf geführt werden. Beides wurde aber nie umgesetzt.“

Karte der nationalsozialistischen U-Bahn-Pläne
Bezirksmuseum Hietzing
Die Pläne einer U1 und einer U3 in den Süden von Wien wurden in dieser Form nie umgesetzt

Mit voller Kraft zurück zum Jahr 1937?

Nach dem Untergang des NS-Regimes und der Befreiung durch die Sowjets 1945 stellte sich rasch die Frage, wie sich Wien, nunmehr erneut Bundeshauptstadt, weiter entwickeln sollte. Sollte man die NS-Pläne eines „Groß-Wien“ rückgängig machen? Die neuen demokratischen Organe und die Besatzungsmächte beantworteten diese Frage mit einem klaren „Jein“.

Wien wollte das größere Stadtgebiet anfangs zwar nicht abgeben, doch die Alliierten sahen in ihrem Zonenabkommen eine Rückabwicklung hin zu den Grenzen des Jahres 1937 vor. Das führte zu einer skurrilen Situation: Für die Besatzungszonen galten diese Grenzen bereits wieder, für die Stadtverwaltung aber nicht – dort gab es immer noch 26 Bezirke.

„Sie musste sich also um das ganze Gebiet zwischen Schwechat und Klosterneuburg, Purkersdorf und Groß-Enzersdorf kümmern, auch planerisch und baurechtlich“, schrieb Stadthistoriker Kurt Stimmer in einer Abhandlung über die Stadtplanung der Nachkriegszeit. „In der Praxis bedeutete dies, dass die Grenzen in manchen Außenbezirken quer durch einen Bezirk verliefen. So war der Bezirk Penzing französisch, aber die Bezirksteile Hadersdorf-Weidlingau und Purkersdorf sowjetisch. Simmering war britisch, der Bezirksteil Albern jedoch sowjetisch.“

Hans-Werndl-Hof Atzgersdorf
ORF/Felix Novak
Der Hans-Werndl-Hof, heute im 23. Wiener Gemeindebezirk gelegen, wurde im Jahr 1928 im niederösterreichischen Atzgersdorf mit Geld aus Wien errichtet. Die Planungen stammten noch aus der Zeit vor der Trennung der Bundesländer 1922. Benannt wurde der Komplex 2015 nach dem sozialdemokratischen Atzgersdorfer Bürgermeister der Zwischenkriegszeit, der damals auch Abgeordneter des niederösterreichischen Landtags war

Eine „österreichische“ Lösung

Im November 1945 wurde die Situation noch komplizierter – und skurriler. „Mehrere Orte, die 1937 zu Niederösterreich gehört hatten, aber mit Wien eng verbunden waren, wurden Wiener Wahlkreisen angeschlossen“, schrieb Stimmer. „Nun gab es bereits drei unterschiedliche Grenzen zwischen den beiden Bundesländern.“ Bald sollte es noch eine vierte geben. Nach zahlreichen Diskussionen einigten sich die Landtage für Niederösterreich und Wien im Juni 1946 gemeinsam mit dem Nationalrat auf ein „Gebietsänderungsgesetz“, das zwei Monate später in Kraft treten sollte. Es sah eine „Ausgemeindung“ von 80 Orten vor, 17 sollten bei Wien bleiben.

Doch bis zur tatsächlichen Umsetzung sollte es noch Jahre dauern. Nun waren die Sowjets, die am meisten betroffen gewesen wären, doch dagegen. Sie wollten schlicht die Zonengrenzen nicht neu ziehen – immerhin war die Bundeshauptstadt zu diesem Zeitpunkt viergeteilt, bei einer Rückabwicklung hätte es daher völlig neue Zonenabschnitte gegeben – laut Stimmer „zum Nachteil der sowjetischen Zone“.

Bundesgesetzblatt 1954
Republik Österreich
1946 wurde das „Gebietsänderungsgesetz“ beschlossen, erst 1954 schaffte es allerdings den Weg ins Bundesgesetzblatt

Schwierige Zeit für Lokalpatrioten

Gänzlich anderer Meinung war man in so mancher betroffener Ortschaft – zu stark war in Teilen der Bevölkerung der Lokalpatriotismus. Friedrich Paast, Ortschef in Maria Enzersdorf, zeigte sich später in einem ORF-Interview entrüstet: „Das, was bei der Eingemeindung passiert ist, war doch eine Vergewaltigung. Wir hatten einfach das Gefühl, wir gehören seit jeher zu Niederösterreich.“

Aufgrund der formalen Zugehörigkeit zu Wien habe er nicht den Bürgermeistertitel getragen, sondern jenen des Ortsvorstehers: „Wir haben uns sehr selbstständig gefühlt. Ich war dann aber Bürgermeister von einer Ortschaft, die nicht selbstständig war.“ Maria Enzersdorf und die anderen Gemeinden im Umland seien lediglich die „Fassung der Perle Wien“ gewesen, „wie es damals so großsprecherisch geheißen hat“, erinnerte sich Paast Anfang der 1980er-Jahre in einem Interview für die Dokumentation „Österreich II“.

Geld für den Wiederaufbau habe es in dieser Zeit kaum gegeben: „Wir waren in jeder Hinsicht abhängig von Wien und Wien hatte selbst so viele Sorgen.“ In den innerstädtischen Bezirken habe es enorm viel Zerstörung gegeben, weitaus mehr als am Stadtrand. In Maria Enzersdorf etwa habe es nur fünf vollständig zerstörte und 122 beschädigte Häuser gegeben – „das ist kein Vergleich“, so Paast: „Die hatten wahrhaftig andere Sorgen als wir und dachten natürlich zuerst an sich selbst.“

NÖ-Karte des Jahres 1948
Bezirksmuseum Hietzing
1948 war „Groß-Wien“ auf der Karte immer noch klar zu erkennen

Parteipolitische Schachzüge in Gemeinden und Ländern

„Die Rückgliederung der Gemeinden nach Niederösterreich war nicht ganz so friktionsfrei, wie das heute aussieht“, sagte Historiker Johannes Hawlik einst in einem ORF-Interview. „Einige Gemeinden wollten bei Wien bleiben und einige Gemeinden wollten wieder weg.“ Entscheidend war nicht nur das regionale Zugehörigkeitsgefühl, sondern auch die Parteipolitik.

Manche Orte waren von Industriebetrieben geprägt und damit meist sozialdemokratisch, andere eher landwirtschaftlich und damit konservative Hochburgen. Ein politischer Drahtseilakt: Auf der einen Seite wollten die ÖVP- bzw. SPÖ-dominierten Bundesländer keine Wählergruppen des politischen Mitbewerbs aufnehmen, auf der anderen Seite fürchteten die Gemeinden, sich plötzlich im Land des parteipolitischen Gegners wiederzufinden.

Proteste, vor allem im SPÖ-geprägten Schwechat, zeigten keine Wirkung. Die Stadt Wien sah sich bei der neuen Aufteilung grob benachteiligt und tat dies auch in Form einer einstimmigen Resolution kund: Der Wiener Landtag erklärte „als Vertreter der gesamten Wiener Bevölkerung, dass diese Festsetzung der Grenzen nicht den Bedürfnissen der Stadt Wien und dem Willen der Bevölkerung entspricht. Große Siedlungsgebiete der werktätigen Bevölkerung der Stadt Wien werden durch die im Gesetz vorgesehenen Gebietsänderungen von der Stadt Wien abgetrennt, obzwar die Bevölkerung dieser Gebiete fast einhellig dagegen Stellung genommen hat“ – insbesondere jene in Schwechat.

Ende von „Groß-Wien“
ORF
Die Orte rund um Wien waren zum Teil städtisch, zum Teil ländlich geprägt

Stadtplaner „wussten nicht, wofür sie planten“

Erst acht Jahre nach dem entsprechenden Gesetz fand Österreich einen Kompromiss mit den sowjetischen Besatzern. Bis dahin „dauerte der Zustand, dass die betroffene Bevölkerung in Unsicherheit über die Zuständigkeit verschiedener Behörden lebte und die Stadtplaner nicht wussten, für welches Gebiet sie planten“, schrieb Stimmer.

Am 1. September 1954 gab die Sowjetunion ihr Veto auf. Der Staatsvertrag war zu dieser Zeit bereits absehbar, zur Überbrückung wurde eine Zwischenlösung mit Konstruktionen gefunden, „die verhinderten, dass sowjetisch besetzte Orte zu einer anderen Zone kamen. So wurden z.B. vorläufig Albern zum 2. Bezirk und Hadersdorf-Weidlingau zum 10. Bezirk gerechnet“, hielt der Historiker fest.

Ende von „Groß-Wien“
ORF
Ihren eigenen „Österreich ist frei“-Moment erlebten die Klosterneuburger schon 1954

Schräge „Groß-Wien“-Relikte der Gegenwart

Damit war das nationalsozialistische „Groß-Wien“ endgültig Geschichte. Einige Überbleibsel dieser Pläne sind allerdings noch heute zu sehen. So stehen etwa in den niederösterreichischen Gemeinden Breitenfurt und Groß-Enzersdorf Wohnhausanlagen „der Gemeinde Wien“, die Anfang der 1950er-Jahre im Stadtgebiet errichtet wurden.

Ein weiteres skurriles Relikt von „Groß-Wien“ war der Bezirk Wien-Umgebung, der vier völlig isolierte Gebiete rund um die Bundeshauptstadt umfasste. Ende 2016 wurde er aufgelöst – und ganz neue Possen begannen – mehr dazu in Ansturm auf „WU“-Wunschkennzeichen (noe.ORF.at; 31.1.2017).

Noch ein Projekt, das ursprünglich von den Nationalsozialisten geplant worden war, sorgt heute weiterhin für Schlagzeilen. Sie wollten zusätzlich zur Westautobahn einen Autobahnring rund um „Groß-Wien“ bauen. „Teilweise wurde er später durch die A21 und durch die S1, die wir heute haben, umgesetzt“, sagt Historikerin Heide Liebhart. Emotional wird die Diskussion rund um den Lobautunnel geführt, den geplanten Lückenschluss des S1-Rings. Ein spätes Überbleibsel der ehemals sechstgrößten Stadt der Welt.