Foto aus der Anfangszeit des SOS Kinderdorfs Hinterbrühl
SOS Kinderdorf
SOS Kinderdorf
„100 Jahre NÖ“

Als ein hundertfaches Zuhause entstand

Eine österreichische Idee sollte in der Nachkriegszeit die Kinderfürsorge revolutionieren und die Welt erobern. Nach Versuchen in Tirol entstand 1957, unter dem Eindruck der Ungarnkrise, in der Hinterbrühl (Bezirk Mödling) das europaweit größte SOS-Kinderdorf.

„Ich war im Kinderdorf aufgehoben wie sonst nirgends. Wenn ich hierher komme, dann bin ich daheim“, sagt Hermann Lager. 1958 bei Krems geboren, kam er im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder ins Kinderdorf Hinterbrühl. Die beiden hatten gerade ihre Eltern verloren und gehörten zu den ersten, die in die neue Einrichtung im Wienerwald zogen.

„Ich lebte seit 1963 im SOS-Kinderdorf bei meiner Mutti, die aus dem Burgenland kam und Kroatin war, sehr konservativ und katholisch, aber eine wunderbare Frau“, erzählt Lager. Sie habe ihn und seinen Bruder zu empathischen Menschen erzogen und ihnen zentrale Werte vermittelt. Noch heute habe er Kontakt mit seiner „Familie“ aus dem Kinderdorf – mit Menschen, mit denen er das Schicksal geteilt habe, sagt Lager in einem Interview für die Organisation – „wobei ‚Schicksal‘ nicht angebracht ist. Es war unser Glückszustand, in einem Kinderdorf groß geworden zu sein.“

SOS-Kinderdorf-Kind Hermann Lager
SOS Kinderdorf
Hermann Lager zeigt alte Fotos aus seiner Kindheit und Jugend im SOS-Kinderdorf Hinterbrühl

„Wollen allen Fürsorgekindern geholfen haben“

„Wir wollen zuerst einmal dem Kind helfen und dann ein Modell sein“, sagte Hermann Gmeiner, Gründer des Konzepts, 1960 in einem Radiointerview. In allen europäischen Ländern sollte zumindest ein Dorf entstehen, „als Modell einer neuzeitlichen Fürsorge“. Familiärer als alle bisherigen Kinderheime sollte es werden, in kleineren Einheiten, erklärte der Vorarlberger. Sein ambitioniertes Ziel: „Mit den SOS-Kinderdörfern wollen wir eines Tages allen Fürsorgekindern geholfen haben.“

Nach seinem Kriegsdienst war Gmeiner 1945 nach Österreich zurückgekommen und hatte ein Medizinstudium begonnen. „Wie viele junge Männer hat er nicht so recht gewusst, was er mit seinem Leben weiter anstellen sollte“, sagt Clemens Klingan, heute Geschäftsführer der SOS-Kinderdörfer im Nordosten Österreichs und in Tirol, gegenüber noe.ORF.at. Neben seinem Studium hatte er schon Kontakt mit Jugendlichen. „Ihm ist damals aufgefallen, wie viele Straßenkinder es gab. Das dürfte ihn tief bewegt haben“, sagt Klingan.

Die Visionen des Herrn Gmeiner

Dann habe er mit seinem Umfeld überlegt, wie er das Problem lösen könne. „Aus vielen Berichten von Zeitzeugen wissen wir, dass Gmeiner ein sehr impulsiver und emotionaler Mensch war und vor allem ein Mensch, der immer sehr große Visionen hatte“, so der Funktionär der SOS-Kinderdörfer. Kurz entschlossen gründete Gmeiner 1949 gemeinsam mit einigen Mitstreitern, darunter auch Frauen, „die die Fachlichkeit reinbrachten“, den Verein „Societas Socialis“, der später zum SOS-Kinderdorf werden sollte.

Die ersten fünf Kinder kamen noch im selben Jahr in Imst in Tirol unter. Erste Wahl sei die Gemeinde nicht gewesen, erzählt Klingan, „eher ein Zufallstreffer, weil zehn andere Gemeinden auf das Schreiben von Gmeiner nicht reagiert hatten“. In Imst sei der Bürgermeister aber selbst Waisenkind gewesen. „Dadurch hatte er einen Zugang zu der Idee.“ Gebaut wurde ohne fixe Spendenzusagen, nur für eine kleine Anzahlung hatte man genug Geld. Die Bauunternehmer vertrauten laut Klingan darauf, dass der Organisationsgründer die Spenden für weitere Arbeiten in Zukunft schon irgendwie zusammenbekommen würde.

Von Beginn an wurde Gmeiner von allen, auch den Kindern, „Direktor“ genannt. Während die betreuten Kinder jeweils ihre „Kinderdorf-Mutter“ hatten, fungierte der Gründer der Organisation als eine Art übergeordnete Vaterfigur. Kritik daran ließ er nicht gelten. „Ich weiß, dass man sich auch daran stoßen kann“, sagte ein Vertrauter von Gmeiner einmal, „aber wieso soll man nicht eine Persönlichkeit, die wie ein Vater zu einem ist, Direktor nennen? Jedenfalls besser, als man sagt zu jemandem Vater, der wie ein Direktor zu einem ist.“

Stolperstein im SOS Kinderdorf Hinterbrühl
In Imst erinnert heute ein Denkmal an den Ehrenbürger Hermann Gmeiner

Eine Idee entfaltet sich

Gmeiners Konzept ging jedenfalls nach und nach auf. 1951 lebten im ersten Kinderdorf in Imst bereits 40 Kinder, 1954 waren es 130. Gleichzeitig versuchte Gmeiner, immer mehr Standorte aufzubauen. Eine besondere Rolle sollte Wien bzw. das Wiener Umland spielen.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 9.5.2022

Gmeiner sei insbesondere „von der Ungarn-Katastrophe beeindruckt“ gewesen, sagte sein enger Mitarbeiter Hans Reinprecht 1960 im selben Radiobeitrag. Damals sei in Imst, in Altmünster und in Lienz gebaut worden, die Organisation habe kaum Geld gehabt. Gmeiner hingegen, der das Leid der Zigtausenden Ungarnflüchtlinge sah, beschloss, am Wiener Stadtrand ein großes Kinderdorf zu errichten.

Er habe gewusst, dass dieses Projekt „viele Millionen verschlingen wird, ein Geld, das nicht da war“, so Reinprecht, „und trotzdem war er fest entschlossen, dieses Dorf zu bauen. Wir wollten es ihm alle ausreden, aber er hat das einfach herrisch durchgesetzt.“ Der Erfolg sei schließlich auf seiner Seite gewesen.

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Foto aus der Anfangszeit des SOS Kinderdorfs Hinterbrühl
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Der Vorarlberger Hermann Gmeiner, genannt der „Direktor“, im SOS-Kinderdorf in Hinterbrühl
Foto aus der Anfangszeit des SOS Kinderdorfs Hinterbrühl
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Der Standort war mit einem großen Festakt eröffnet worden
Foto aus der Anfangszeit des SOS Kinderdorfs Hinterbrühl
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Er umfasste bald schon etwa 30 Häuser
Prinzessin Margriet im SOS Kinderdorf Hinterbrühl
SOS Kinderdorf
Später wurde die Einrichtung in der Hinterbrühl auch von bekannten Persönlichkeiten besucht, darunter die niederländische Prinzessin Margriet…
Dalai Lama im SOS Kinderdorf Hinterbrühl
SOS Kinderdorf
…und sogar vom Dalai Lama

1957 wurde mit dem Bau begonnen, „am Ende der zweiten Bauetappe 1962 war das Kinderdorf mit 28 Familienhäusern eines der größten in Europa“, sagt Judith Heissenberger, heute pädagogische Leiterin in Hinterbrühl.

Ein Hort des NS-Widerstands

Das Areal in der Wienerwaldgemeinde hatte bereits zuvor historische Bedeutung erlangt. Während der NS-Zeit hatte dort Karl Motesiczky gemeinsam mit dem befreundeten Ehepaar Ella und Kurt Lingens Widerstand geleistet und jüdische Familien versteckt. Teile der Familie Motesiczky kamen im Konzentrationslager ums Leben, die übrigen Familienmitglieder emigrierten nach Großbritannien.

„Wir hatten das große Glück, dass sie mit ihrem Grund und Boden etwas Gutes tun wollten“, sagt Heissenberger. „Das Grundstück ist heute in einer so guten Lage, es ist ein so guter Ort für die Kinder, wie wir ihn heute nie mehr herstellen könnten“, ist sich Geschäftsführer Klingan sicher.

Stolperstein im SOS Kinderdorf Hinterbrühl
„Stolperstein“ für Karl Motesiczky beim SOS-Kinderdorf Hinterbrühl

200 junge „Dorf“-Bewohnerinnen und -Bewohner

Etwa 100 Kinder sollten um das Jahr 1960 herum im „Dorf“ ein neues Zuhause finden, phasenweise waren es später mehr als 200. „Es gab zusätzlich auch eine heilpadägogische Station, wo Kinder vorübergehend aufgenommen werden konnten“, erklärt die pädagogische Leiterin, „das war in dieser Zeit auch eine Innovation“.

Es habe sich dabei um ein Diagnosezentrum gehandelt, in dem man Kindern und Jugendlichen mit erhöhtem therapeutischen Bedarf unterstützten wollte, sagt Geschäftsführer Klingan: „Für die damalige Zeit hat man schon sehr rasch erkannt, dass man eine gute Diagnostik braucht, um zu erkennen, was diese Kinder in der Betreuung benötigen.“

Als Nachfolgeeinrichtung wurde später das „Bienenhaus“ gegründet, ein Klinikum für schwer traumatisierte Kinder mit sowohl sozialpädagogischem als auch therapeutischem Bedarf. Aktuell gebe es in der Hinterbrühl zu diesem Zweck zwei Kleingruppen, in der jeweils nur vier Kinder betreut werden, so Klingan.

Der Spielplatz der Gemeinde

Probleme mit der übrigen Bevölkerung in der Hinterbrühl habe es von Beginn an nicht gegeben, meint Heissenberger. Im Gegenteil: „Es gab immer eine sehr enge Verbindung mit der Gemeinde.“ Man veranstalte auch heute noch gemeinsame Feiern und auch sonst seien die Kinderdorf-Kinder im Ort integriert, etwa in den öffentlichen Schulen oder als Ministranten in der Pfarre. „Ich treffe sogar immer wieder Menschen aus der Gemeinde Hinterbrühl, Erwachsene, die sagen, sie hätten ihre ganze Kindheit im Kinderdorf verbracht, weil man sich hier am Gelände so gut austoben konnte – obwohl sie bei ihren Eltern zu Hause gelebt haben.“

Immer wieder habe man auch kurzfristig Flüchtlingsfamilien auf dem Areal aufgenommen, auch aktuell gibt es in der Einrichtung mehrere ukrainische Bewohnerinnen und Bewohner. Besonders schön sei es, sagt Geschäftsführer Klingan, dass seit der Fluchtbewegung 2015 noch immer eine afghanische Familie hier lebe – „der Vater der Familie ist jetzt Dorfmeister im SOS-Kinderdorf Hinterbrühl, das sind unsere Haustechniker. Er ist extrem beliebt, er ist ein toller Mensch und passt richtig gut rein.“

Stolperstein im SOS Kinderdorf Hinterbrühl
Das SOS-Kinderdorf in der Hinterbrühl heute

Weltweite Hilfsorganisation

Die Organisation bietet mittlerweile eine Vielzahl an unterschiedlichen Unterstützungsmöglichkeiten an, von der klassischen Kinderdorf-Familie über betreute Wohngemeinschaften von Jugendlichen bis hin zur Entlastung von Kindern und deren leiblichen Eltern im gleichen Haushalt, etwa in Form der mobilen Familienhilfe. Zusätzlich gibt es SOS-Ambulatorien in Wien und Kärnten sowie die Hotline „Rat auf Draht“, eine Kooperation mit dem ORF, oder auch die Sozialeinrichtung Jugendstreetwork.

In Summe befanden sich 2020 in ganz Österreich etwa 1.850 Kinder und Jugendliche im vollen Erziehungsmodell. International lebten in diesem Jahr mehr als 65.000 junge Menschen in Betreuungseinrichtungen der österreichischen Hilfsorganisation. Insgesamt habe man mit den eigenen Unterstützungs- und Betreuungsangeboten weltweit knapp 1,2 Millionen Menschen erreicht, heißt es im aktuellen Jahresbericht auf der Website von SOS-Kinderdorf. Demnach wurden 2020 Spenden in der Höhe von knapp 40 Millionen Euro lukriert.

Ein Sozialprojekt mit Schattenseiten

In der Organisation gibt es allerdings auch Schattenseiten. In 20 Ländern in Afrika und Asien sollen in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf betreute Kinder und Jugendliche jahrelang Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch gewesen sein, diese Missstände machte SOS-Kinderdorf Österreich im Vorjahr selbst bekannt. Damals wurden eine „schonungslose Aufarbeitung“ sowie ein Entschädigungsfonds angekündigt – mehr dazu in Gewalt, Missbrauch in SOS-Kinderdörfern (news.ORF.at; 6.5.2021).

Wenige Monate später nahm zudem die Staatsanwaltschaft in Deutschland Ermittlungen zu möglichen Missständen auf. Die Vorwürfe betrafen eine Einrichtung in Bayern. Auch hier kündigte die Organisation eine Aufarbeitung an.

Die Geschichte der SOS-Kinderdörfer in Österreich arbeitete der Innsbrucker Historiker Horst Schreiber auf. Er wurde 2012 von der Organisation selbst damit beauftragt, eine wissenschaftliche Studie über die Erziehungspraktiken der Einrichtungen und der Heilpädagogischen Station Hinterbrühl zu erstellen. Sie umfasste den Zeitraum der 1950er- bis 1990er-Jahre. Das Ergebnis ist das Buch „Dem Schweigen verpflichtet. Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf“, in dem detailliert über Missstände berichtet wird.

„Es gab im Laufe der Jahrzehnte auch Kinder und Jugendliche, die Negatives erlebt haben. Deren Erfahrungen von Leid, Unrecht oder Gewalt sind ebenfalls Teil der Geschichte von SOS-Kinderdorf“, heißt es dazu von der NGO. Man wolle sich als „lernende Organisation“ der eigenen Geschichte bewusst werden.

Die erste Generation altert

Abseits dieser Gewalterfahrungen gibt es viele positive Erfahrungsberichte von SOS-Kinderdorf-Kindern. Gut 60 Jahre nach der Gründung in Hinterbrühl haben die ersten von ihnen längst das Pensionsalter erreicht. Die Verbindung gehe in vielen Fällen aber nicht verloren, erzählt Heissenberger. Immer wieder gebe es Feste, bei denen sich Ehemalige treffen könnten, darunter eines bei den Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum 2017 – „ein sehr schöner und berührender Moment“, erinnert sich die pädagogische Leiterin.

Wichtig sei diese Verbindung auch, wenn im Dorf gebaut wird. „Wir haben noch Häuser, die sozusagen noch aus der Gründungszeit sind“, erklärt Heissenberger. „Wenn so ein Haus verändert oder vielleicht sogar abgerissen werden muss, dann ist das immer ganz wichtig, mit den Menschen vorab Kontakt aufzunehmen, die in diesen Häusern aufgewachsen sind.“ Es sei schließlich für viele Jahre ihr Zuhause gewesen. „Da merken wir immer, wie wichtig für diese Menschen die Verbindung zum Kinderdorf immer noch ist und auch bleiben wird.“