Polio-Impfstelle
ORF
ORF
„100 Jahre NÖ“

Als das Impfen noch unumstritten war

Kinderlähmung war in den 1950er-Jahren eine der größten Bedrohungen, vor allem am Land. Erste Impfungen brachten nicht den gewünschten Erfolg. 1961 startete Österreich als erstes westliches Land mit einer ursprünglich sowjetischen Schluckimpfung.

Die Debatte im Nationalrat dauerte kaum länger als zehn Minuten. Es war der dritte Tagesordnungspunkt: „Öffentliche Schutzimpfungen gegen übertragbare Kinderlähmung“. SPÖ-Abgeordnete Rosa Rück erklärte in aller Kürze das Gesetzesvorhaben: Mit der neuen Polio-Impfung habe man eine Waffe gegen diese „besondere Gefahr für die Volksgesundheit“, den „Schrecken der Mütter“ in der Hand. Freiwillig sei sie, betonte Rück, und vom Obersten Sanitätsrat empfohlen, der Bund übernehme die Kosten für alle bis zum Alter von 21 Jahren.

„Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor“, sagte Franz Olah (SPÖ), Zweiter Präsident des Nationalrats, daraufhin – laut Protokoll – entfalle daher ein Schlusswort. „Wir kommen sofort zur Abstimmung.“ Auch diese ging schnell über die Bühne. Der Nationalrat sprach sich am 28. November 1960 für das neue Impfgesetz aus. Einstimmig.

Lähmungen bei nur einem Prozent der Erkrankten

Die Poliomyelitis, auch bekannt unter den Begriffen Polio bzw. Kinderlähmung, war damals immer mehr zum Problem geworden, die erste Epidemie in Niederösterreich hatte es bereits 1908 gegeben. Es handelte sich um eine hochinfektiöse Viruskrankheit, die vor allem bei Jüngeren zu schwerwiegenden Problemen führen konnte. Allerdings nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle: 90 Prozent der Infektionen verliefen komplett symptomlos, weitere neun Prozent mit tagelangen grippalen Symptomen, in einzelnen Fällen kam es hier auch zu einer Hirnhautentzündung.

Das eigentliche Problem war das letzte Prozent: Jeder und jede Hundertste litt unter Lähmungserscheinungen. Diese konnten Arme und Beine betreffen – oder im schlimmsten Fall die Atmung. Auf diese Weise konnte die Krankheit rasch zum Tod führen. Das einzige Mittel, das zumindest einem Teil der Patienten in diesem Stadium half, war die sogenannte Eiserne Lunge. Der gesamte Körper unterhalb des Kopfes lag hierbei in einer Art Tonne, die einen Unterdruck erzeugte. So konnte die gelähmte Atemmuskulatur unterstützt werden – oft war das allerdings über einen langen Zeitraum oder sogar permanent notwendig.

Eiserne Lunge für Polio-Patienten
Eine „Eiserne Lunge“ in den USA

Wer überlebte, war noch lange nicht geheilt. In zahlreichen Fällen blieben die Lähmungen verschiedener Teile des Körpers über Jahre oder gar Jahrzehnte erhalten. Die Medizin nannte dieses Phänomen „Post-Polio-Syndrom“.

Mehr Hygiene, mehr Probleme

Unklar war für die Medizin damals, unter welchen Bedingungen sich die Kinderlähmung ausbreitete. Klar war, dass eine Infektion sowohl über Körperflüssigkeiten als auch durch verschmutzte Nahrungsmittel bzw. kontaminiertes Wasser ausgelöst werden konnte.

Gleichzeitig wurde die Krankheit vor allem in jenen Ländern zunehmend zum Problem, in denen die hygienischen Bedingungen vergleichsweise am besten waren. Mit der Verbesserung der Lebens- und Hygienesituation in den Nachkriegsjahren kam es immer öfter zu Lähmungen und Todesfällen. „In Amerika heißt es allgemein, die Poliomyelitis ist der Preis, den wir für unsere hohen hygienischen Lebensverhältnisse zahlen müssen“, sagte der niederösterreichische Zahnarzt und ÖVP-Politiker Oswald Haberzettl 1960 in einer Debatte im Bundesrat.

Diese scheinbar paradoxe Situation war innerhalb von Ländern ebenfalls zu beobachten, auch in Österreich. In den Städten, in denen die hygienischen Bedingungen im Allgemeinen schlechter waren und sich Krankheitsüberträger üblicherweise schneller ausbreiten konnten, war die Kinderlähmung kaum ein Problem. In ländlich geprägten Regionen, darunter Niederösterreich, hingegen sehr wohl.

„Das Land-Stadt-Gefälle wird darauf zurückgeführt, dass die Durchseuchung der Bevölkerung in der Stadt durch das enge Beisammenleben sehr viel früher stattgefunden hat“, sagt die Historikerin Marina Hilber von der Universität Innsbruck. „Die Kinder in der Stadt haben sich sehr früh mit diesem Virus infiziert, aber nur sehr milde Verlaufsformen aufgewiesen.“

Bei einem Erstkontakt in späteren Jahren hingegen waren die Verläufe im Schnitt schwerer – und nur die schweren Verläufe wurden überhaupt registriert. Wie weit sich der Erreger in der Bevölkerung tatsächlich ausgebreitet hatte, war deshalb kaum abzuschätzen. Flächendeckende Testprogramme, um auch Symptomlose aufzuspüren, waren im 20. Jahrhundert unmöglich und daher kein Thema.

Rasanter Anstieg nach dem Weltkrieg

Die besorgniserregende Entwicklung nach dem Krieg zeigte sich auch in Österreich. Aufschluss darüber gibt eine Statistik des damaligen Bundesministeriums für soziale Verwaltung. Demnach hatte es in den letzten Kriegsjahren 1944 und 1945 auf dem Gebiet des späteren Österreich jeweils nur etwa 200 symptomatische Erkrankungen und 20 Todesfälle gegeben. 1946 waren es bereits über 400 schwere Verläufe bzw. 69 Tote, am Höhepunkt ein Jahr später sogar 3.500 Fälle, 315 davon endeten tödlich. Es folgten weitere Infektionswellen, die jährlichen Zahlen schwankten stark.

Die Lösung für das weltweite Problem versprach ein neuer Impfstoff des US-Amerikaners Jonas Salk. Nach Jahren der Entwicklung wurde diese Methode 1954 in größerem Ausmaß klinisch getestet. Zugelassen wurde die Impfung wenige Monate darauf.

Es handelte sich um einen sogenannten Totimpfstoff. Dem Körper wurde dabei mit der Spritze eine Form des Virus verabreicht, die zuvor künstlich inaktiviert – also abgetötet – worden war. Dadurch sollte die Krankheit im Körper nicht ausbrechen, aber sehr wohl ein Immunschutz dagegen aufgebaut werden. Für den optimalen Schutz vor der Kinderlähmung, so hieß es damals, waren drei „Salk-Impfungen“ nötig.

Polio-Impfstelle
ORF
Injektion mit dem Totimpfstoff von Jonas Salk

Impfskandal erschütterte Vertrauen

In Österreich war das Interesse daran grundsätzlich groß, es gab aber schon bald ein Problem: In den USA kam es kurz nach der Zulassung 1955 zu einem folgenschweren Unfall, der weltweit das Vertrauen in den Impfstoff erschütterte. In einer Produktionsstätte war die Inaktivierung des Virus fehlgeschlagen, damit war eine ansteckende Form des Virus in die betroffenen Produktionschargen gekommen. Die Folge: Hunderttausende Kinder wurden infiziert, bei vielen von ihnen brach die Krankheit auch aus. In Dutzenden Fällen blieben dauerhafte Lähmungen, fünf Kinder starben an den Auswirkungen ihrer Polio-Erkrankung.

„Der Zwischenfall hat der anfänglichen Euphorie einen gewissen Abbruch getan“, sagt Hilber. „Österreich wollte die Salk-Impfung eigentlich sehr schnell einführen, war schon in den Startlöchern.“ Nach dem Unglück sei man vorsichtig geworden. „Es gab die Angst, dass man die österreichische Bevölkerung als Versuchskaninchen missbrauchen würde“, führt die Historikerin aus. Der Bund habe die Impfung daher für zu unsicher befunden.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 23.5.2022

„In Österreich hat es leider sehr lange gedauert, bis dieser Totimpfstoff freigegeben wurde“, so Hilber. Während 1957 einzelne Ärzte bereits „illegal“ mit eigens importierter Ware impften, kam es erst 1958 zur Zulassung – und auch da nur bedingt. So weigerte sich der Bund, eine österreichweite Kampagne zu starten und die Kosten und damit die Verantwortung zu übernehmen. Diese blieben an den Bundesländern hängen. „Jedes Land kochte dann sein eigenes Süppchen – oder in manchen Bundesländern auch nicht“, sagt die Forscherin.

Epidemie in Niederösterreich

Negativbeispiele waren Niederösterreich und Vorarlberg. Hier verpasste man vor dem Sommer 1958 den richtigen Zeitpunkt für eine größere Kampagne. Die Folge: eine massive Epidemiewelle mit vielen Toten. Dieses Trauma führte allerdings gleichzeitig zu einer hohen Impfbereitschaft in den Monaten danach. Auch seitens des Landes war plötzlich der Wille da, rasch großflächig zu impfen. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern kamen nicht nur Amtsärzte zum Einsatz, sondern alle Mediziner.

Alleine zwischen 1958 und 1960 ließen sich 790.000 Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher impfen, gut 260.000 davon holten sich auch den „Dritten Stich“ – „das sind 33 Prozent der Bevölkerung der Altersgruppe null bis 40 oder fast alle Kinder Niederösterreichs“, sagte Bundesratsabgeordneter Haberzettl laut Protokoll. Komplikationen bzw. unerwünschte Nebenerscheinungen seien nicht beobachtet worden. Haberzettl sprach von einem „vollen Erfolg“.

Das stimmte jedoch nur zum Teil. Tatsächlich ging die Zahl der schweren Verläufe in ganz Österreich in jener Zeit deutlich zurück: von etwa 700 (98 Todesfälle) im Jahr 1959 auf knapp 300 (27 Todesfälle) im Jahr 1961. Die Impfung verhinderte die Übertragung allerdings nicht.

Keine Herdenimmunität vorhanden

Das Virus breitete sich weiterhin ungehindert aus, die Bevölkerung als Ganzes blieb vor Infektionen ungeschützt. Wer aus diversen Gründen ungeimpft war, war anfällig für schwere Verläufe – und auch vor dauerhaften „Post-Polio“-Beschwerden gab es kaum einen Schutz.

Die Nachteile der Salk’schen Impfung

Karl Schindl, Chef des „Volksgesundheitsamts“ des Sozialministeriums, spricht 1963 darüber, warum die erste Polioimpfung problematisch ist

Wenige Jahre später sollte eine neue Erfindung zum durchschlagenden Erfolg werden: die Schluckimpfung. Der sowjetisch-amerikanische Arzt Albert Sabin hatte die Methode seines Kollegen weiterentwickelt. Im Gegensatz zu Salk setzte er auf einen Lebendimpfstoff, der über den Mund verabreicht werden konnte. Er setzte im Darm an, wo sich das Virus zuerst vermehrt, und verhinderte so auch eine Übertragung.

Getestet worden war die Schluckimpfung Ende der 1950er-Jahre in der Sowjetunion, im Jahr 1960 waren dort bereits zig Millionen Kinder damit immunisiert. Nun, als die Salk-Impfung nicht die gewünschten Ergebnisse brachte, wuchs auch im Westen das Interesse an dieser Alternative.

Neutrales Land mit guten Russland-Kontakten

Während die USA in diesem Jahr erste Versuche damit starteten, ging das kleine Österreich einen Schritt weiter. Im November und Dezember bekannten sich Nationalrat und Bundesrat einstimmig zur Schluckimpfung. Die Republik sprach sich für ein Impfprogramm bisher ungeahnten Ausmaßes aus – allerdings nach wie vor auf freiwilliger Basis.

Bereits in den Jahren zuvor hatte der Sanitätsrat in Österreich über diese Neuerung diskutiert, erzählt Hilber: „Man war hierzulande sehr interessiert daran, die Schluckimpfung frühzeitig einzuführen.“ Als Brückenland im Kalten Krieg hatte Österreich gute Kontakte in die Sowjetunion. „Millionen Menschen wurden dort damals schon geimpft – erfolgreich, wie die Sowjetunion immer vermeldet hat.“ Österreich versuchte, den Impfstoff aus sowjetischer Produktion zu bekommen „und war schon sehr weit fortgeschritten“, so die Tiroler Historikerin.

Schließlich scheiterten die Verhandlungen aber. „Man hat zwar den Angaben der Sowjetunion Vertrauen geschenkt und sich auch die Produktionsstätten angeschaut, aber die Sowjetunion weigerte sich, Testprotokolle zur Verfügung zu stellen.“ Deshalb wartete Österreich ab, bis der US-Pharmakonzern Pfizer diesen Impfstoff nach westlichen Standards herstellte.

Vorreiter der westlichen Welt

Ende 1961 kamen in Niederösterreich und allen anderen Bundesländern fast zeitgleich die ersten Lieferungen an. „Österreich war auch zu diesem Zeitpunkt noch das erste Land in der westlichen Welt, das eine so groß akkordierte nationale Impfung mit diesem Lebendimpfstoff durchgesetzt hat“, sagt Hilber. Verabreicht wurde die Impfung in erster Linie über getränkten Würfelzucker. Die Effekte dieses kleinen Stücks Zucker zeigten sich binnen kürzester Zeit in den nationalen Statistiken.

Polio-Impfstelle
ORF
Die aufgereihten Würfelzucker, die mit dem Wirkstoff getränkt sind, dürften einer ganzen Generation bekannt sein

Die Infektionsketten waren plötzlich durchbrochen und die Zahl der schweren Fälle reduzierte sich in eindrucksvollem Tempo auf einen Bruchteil: von knapp 300 im Jahr 1961 auf lediglich acht im folgenden Jahr.

Sieg über die Poliomyelitis

Noch dramatischer zeigte sich diese Entwicklung anhand der Todesfälle. 1961 hatte es – wie erwähnt – 27 tödliche Verläufe gegeben, 1962 waren es nur noch zwei – und diese gingen laut Gesundheitsministerium auf Erkrankungen vor der Impfkampagne zurück. Zwischen 1963 und 1967 wurde überhaupt nur ein einziger Todesfall in Folge von Polio verzeichnet, nämlich im Jahr 1964. Die Kinderlähmung galt als besiegt, 1980 wurde in Österreich der bisher letzte Fall registriert.

Eine beeindruckende Statistik

Hermann Zischkin, Leiter des Wiener Wilhelminenspitals, über die sinkenden Zahlen der Polio-Erkrankungen und -Todesfälle in den frühen 1960er-Jahren.

Im Gegensatz zu den Pocken, die seit den 1970ern weltweit als ausgelöscht gelten, treten allerdings in einigen Ländern auch heute noch Fälle der Kinderlähmung auf, darunter Pakistan, Afghanistan und Nigeria. Deshalb wird in Österreich auch noch immer dagegen geimpft.

Eine Rückkehr zu den Wurzeln: Zum Einsatz kommt heute nämlich nicht mehr die Sabin-Schluckimpfung, sondern eine Variante des älteren Salk-Impfstoffs. Über die Jahrzehnte hat sich gezeigt, dass dieser zu weniger Nebenwirkungen führt. Konkret zu weniger Kontaktinfektionen, also Ausbrüchen der Krankheit nach der Impfung. Der Totimpfstoff, der nach dem Unglück 1955 unter noch höheren Sicherheitsvorkehrungen produziert wurde, war hier im Vorteil. „1997 beschloss der Oberste Sanitätsrat in Österreich, dass man diese Schluckimpfung aussetzt, 1999 wurde sie vollständig eingestellt.“ Der Salk-Impfstoff biete heutzutage ausreichend Individualschutz, so Hilber.

Licht und Schatten der Impfgeschichte

Die Geschichte der Polio-Impfung ist eine der enttäuschten Erwartungen in Impfstoffe, aber gleichzeitig ist es auch einer der größten Erfolge der Medizin – in einer Zeit, in der das Impfen an sich zumindest in der Politik kaum umstritten war. Auch in der Bevölkerung polarisierte das Thema damals nicht besonders stark. „Es hat sicher in gewissen Regionen Impfskeptiker und auch Widerstände gegeben, aber das waren zahlenmäßig sehr kleine Gruppierungen“, sagt Historikerin Hilber. „Groß organisiert, so wie wir das heute kennen, war es nicht.“

Die Akzeptanz der Schluckimpfung sei hoch gewesen, auch weil sich „die Bundesregierung sehr ins Zeug gelegt hat, um sie zu popularisieren“, sagt die Tirolerin. Etwa mit einer systematischen Werbekampagne mit Plakaten und Radioaufrufen. „Es sind auch alle Ärzte flächendeckend informiert worden. Man hat versucht, sie ins Boot zu holen“, so Hilber, „um die Informationen durch seriöse Kanäle an die Menschen zu bekommen“.