Südstadt Maria Enzersdorf Bau EVN
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„100 Jahre NÖ“

Die autofreie Stadt „mitten in der Pampa“

In den 1960er Jahren ist in Maria Enzersdorf (Bezirk Mödling) auf der grünen Wiese der Prototyp einer autofreien Gartenstadt entstanden: die Südstadt. Das Projekt brachte aber auch so manche Konflikte und galt zwischenzeitlich als eine Art „Pensionopolis“.

„Es gab keine Wege, wir sind nur in Gummistiefeln herumgelaufen, das war furchtbar“, erinnert sich Leopold Kummer, einer der ersten Bewohner der Südstadt, an den Einzug im Jahr 1963. Weil auch die Gartenmauern noch fehlten, liefen oft Schaulustige über die Grundstücke und schauten durch die Fenster in die Häuser. „Dann sind sie erschrocken, dass schon jemand drinnen sitzt und sind weggelaufen.“

Zu diesem Zeitpunkt waren nur wenige Häuser fertig – vor allem jene in der ersten Reihe. Bei Kummer schlug in der Bauphase sogar der Blitz ein, wodurch das Gebäude einbrach und neu aufgebaut werden musste, erzählt der ehemalige EVN-Mitarbeiter. Doch trotz einiger Strapazen wollte er aus der Südstadt nicht mehr weg.

Beginn der Stadtentwicklung

Die treibende Kraft hinter dem Projekt war das Land. Als das Groß-Wien der NS-Zeit 1954 auf die heutige Größe reduziert wurde und zahlreiche Orte zu Niederösterreich zurückkehrten, wurden diese Stadtentwicklungspläne wieder aufgegriffen. Das Land plante, die Verwaltungszentralen der landeseigenen Energiegesellschaften NEWAG und NIOGAS (heute in der EVN AG zusammengefasst) von Wien nach Niederösterreich zu verlegen.

In Verbindung mit den neuen Firmenzentralen sollte auch eine Großsiedlung für die Betriebsangehörigen entstehen – für bis zu 5.000 Menschen. „Es war aber keine Werkssiedlung der NEWAG und NIOGAS“, betont EVN-Unternehmenshistoriker Georg Rigele – das Konzept war eine Wohnstadt mit zentraler Infrastruktur, also Nahversorger, Kirche, Schule, Kindergarten sowie der EVN.

Utopie einer Gartenstadt

Das Besondere daran: Die Südstadt wurde von Anfang an als möglichst autofreie Stadt konzipiert, mit großzügigen Grünflächen und einer klaren Gliederung nach Funktionsgruppen. Zwischen den Straßen und Häusern gibt es etwa 70 Meter breite Wiesen. „Es ging darum, hier eine städtebauliche Utopie zu verwirklichen“, ergänzt Rigele, der nicht nur von einer Garten-, sondern von einer Parkstadt spricht.

Bis 1975 wurden mitten auf der grünen Wiese Wohnräume für fast 2.000 Familien gebaut. Um eine Ghettobildung zu vermeiden, wurden teurere Einfamilienhäuser mit Garten und günstigere Kleinwohnungen in Mehrparteienblöcken direkt nebeneinander errichtet. Der tägliche Bedarf – vom Nahversorger über Banken, Frisör, Trafik bis zu Fleischhauer, Restaurants, aber auch Bildungs- und Sportangeboten – war fußläufig erreichbar. „Ich glaube, besser kann man eine Planstadt nicht bauen.“

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Wo sich heute SCS, Gewerbe- und Siedlungsgebiete aneinanderreihen, gab es in den 1960er Jahren noch viel freie Fläche
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Um eine Ghettobildung zu vermeiden, wurden teurere Einfamilienhäuser mit Garten und günstigere Kleinwohnungen in Mehrparteienblöcken direkt nebeneinander errichtet
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Die Baustelle der neuen Verwaltungsdirektion der beiden Landesenergieversorger NEWAG und NIOGAS, am Pult spricht NEWAG-Generaldirektor Viktor Müllner
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Ab 1963 zogen die ersten Familien in die neugebaute Anlage ein
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Da es innerhalb der Südstadt für Autos keine Straßen gibt, sei die Anlage für Kinder wie ein „Paradies“ gewesen
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Die neue Verwaltungszentrale der damaligen Landesversorger NEWAG und NIOGAS (heute EVN)

Nicht alles perfekt

Und trotzdem war auch in der Südstadt nicht alles perfekt. Viele der Bewohner waren auf ein Auto angewiesen, um Einkäufe zu erledigen und Arbeitsplätze, Freizeit- und Kultureinrichtungen zu erreichen. Denn während heute rundherum Gewerbe- und Industriegebiete dominieren, existierten damals noch grüne Wiesen und Ziegelteiche. Öffentliche Verkehrsmittel wurden zwar verstärkt, konnten aber das weitflächige Siedlungsgebiet im Wiener Becken nur zum Teil bedienen.

Ab Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich in der Stadt zwar etwas „Leben“, ohne den Pflanzen- und Baumbewuchs wirkte die Anlage aber noch sehr kahl, rundherum gab es nur weites Land. Nach außen hin fühlten sich viele Leute deshalb ausgesetzt. Zugleich kämpften einzelne Bewohner mit teils gravierenden Bauschäden.

„Wo sind wir da hingekommen?“

„Man war mitten in der Pampa“, erinnert sich Johann Zeiner, heute Bürgermeister (ÖVP) von Maria Enzersdorf, der 1966 als Zwölfjähriger mit seinen Eltern aus dem Zentrum Klosterneuburgs in die Südstadt kam. Seine Schwester fragte sich damals nur: „Wo sind wir da hingekommen?“ Erst bis Mitte der 1970er hatte sich die Stadt so weit etabliert, dass alles gut funktionierte, sagt Rigele.

Für die Kinder sei die Südstadt jedenfalls ein „Paradies“ gewesen, erzählt EVN-Sprecher Stefan Zach, der im Alter von wenigen Wochen in die Südstadt zog und sie seither wohnsitztechnisch nie verließ. „Zwischen den Häusern gab es eine Unmenge an Platz und überhaupt keine Barrieren.“ Die Straßen verlaufen nämlich um die Südstadt herum, innerhalb gibt es keine Fahrbahn, „die uns den Weg irgendwohin in der Südstadt verwehrt haben“.

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Bäumen, Wiesen und Sträuchern wurde in der Südstadt viel Raum gegeben
Südstadt Maria Enzersdorf Bau EVN
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In der Südstadt standen einst teure Bungalows …
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… neben günstigeren Wohnhäusern
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Innerhalb der Südstadt dominieren Fußgänger und Radfahrer
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Die Straßenbezeichnungen erinnern fast alle an Kraftwerksstandorte der EVN
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Die alten Bürogebäude wirken mittlerweile etwas aus der Zeit gefallen
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Die Pfarrkirche – 1970 geweiht – war zu Beginn neben dem Sportzentrum einer der beiden Treffpunkte der Bewohner
BSFZ-Arena Südstadt
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Das Fußballstadion, in dem heute die Admira zu Hause ist, wurde schon 1967 eröffnet

Eigentlich sollte die Südstadt ein Prototyp für weitere Gartenstädte sein, die entlang von Entwicklungsachsen wie eine Perlenkette entstehen sollten. Konkrete Pläne gab es dazu etwa auch im Norden Wiens. Dazu kam es aber nie. Möglicherweise auch deshalb, weil in den folgenden Jahren auch der Boden nicht mehr in dieser Dimension zur Verfügung stand.

Kurios wirkt aus heutiger Sicht, dass die Planer und Architekten damals mit einer Lebensdauer der Häuser von 25 Jahren rechneten. Laut Rigele war das auch dem damaligen Wirtschaftswachstum und dem Fortschrittsglauben geschuldet. „Es war das Zeitalter der Atomkraft, man flog zum Mond und dachte, dass nach einer Generation schon das nächste kommt.“

Umzug nach Niederösterreich identitätsstiftend

Für die heutige EVN sei die Übersiedelung von Wien nach Niederösterreich ein wichtiger Schritt gewesen, meint EVN-Sprecher Zach, „hin zu einer Niederösterreich-Identität“. Ein aus Sicht des Unternehmens erfreulicher Begleiteffekt: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren nicht mehr von den städtischen Kaffeehäusern abgelenkt, „man war von all dem sehr weit entfernt“, merkt Zach süffisant an.

Genauso eng wie die EVN ist auch das Sportzentrum mit der Südstadt verbunden – neben der Pfarre das zweite Zentrum vieler Bewohnerinnen und Bewohner. Das Sportgelände wurde im Jahr 1967 vom Bund übernommen, nur zwei Jahre später stellte Leichtathletin Liese Prokop im Fünfkampf einen Weltrekord auf. In den Jahren 1971 bis 1975 entstand in der Folge das Bundessport- und Freizeitzentrum Südstadt, das in seiner Art die größte Anlage Europas darstellen soll.

Altort vs. Südstadt

Für die Gemeindeverwaltung sei die Integration „kein leichter Prozess gewesen“, meint Bürgermeister Zeiner. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Einwohnerzahl verdoppelt. Zum einen war die Infrastruktur wie Schulen eine Herausforderung, andererseits gab es zwischen dem alten und neuen Ortsteil – die nicht einmal direkt miteinander verbunden sind – Gegensätze: die alteingesessene Ortsbevölkerung gegen die gut ausgebildeten „Zuagrastn“ aus Wien.

Und das nicht ohne Grund: Denn im Altort kämpfte man noch in den 1960er Jahren mit den Auswirkungen der sowjetischen Besatzungszeit, während in der Südstadt alles neu war. „Vornehm formuliert: die da unten, die alles bekommen, und wir haben das Nachsehen“, so Zeiner. Die Gegensätze bestanden unterbewusst sogar bis in die 1990er Jahre und lösten sich erst mit dem natürlichen Wechsel der Bevölkerung auf.

Südstadt wurde „Pensionopolis“

Da die Südstadt in den 1960er und 1970er Jahren besiedelt wurde, wurden die Bewohner auch gemeinsam älter. Zum Jahrtausendwechsel lebten überwiegend Pensionisten dort. Die Zahl der Kinder sank, während die Zahl der Hunde stieg. „Alle sind gealtert, es war beinahe ein Pensionopolis“, meint Wolfgang Broer, der seit 1973 in der Südstadt lebt.

Die Häuser und Wohnungen, in denen anfangs noch drei, vier oder fünf Menschen lebten, schrumpften meist auf Zwei- oder Ein-Personen-Haushalte. Die Kinder, die in der Südstadt aufwuchsen, fanden in der unmittelbaren Umgebung oft keinen Wohnplatz und zogen weg. Die Einwohnerzahl ging daraufhin stark zurück, in den Schulen machte sich ein „drastischer Rückgang“ bemerkbar, sagt der Ortschef.

Wirtschaftlicher Verfall

Damit setzte auch ein wirtschaftlicher Verfall ein. „Ein Geschäft nach dem anderen hat zugesperrt“, fügt Elisabeth Broer hinzu. Daran war laut Bürgermeister nicht nur der Bevölkerungsrückgang Schuld, sondern auch der damalige Eigentümer, die Austria AG. Zwar wurde etwa in einen Zubau mit Büros investiert, „um zusätzliche Einnahmen zu generieren, aber nie in die Substanz, deshalb hat langsam der Verfall begonnen“.

Daraufhin wurde die Anlage mehrmals verkauft, zunächst an die oberösterreichische Brandschadenversicherung, dann an eine Immobiliengruppe. „Man hatte den Eindruck, dass die Südstadt ein ungeliebtes Kind ist“, sagt Zeiner. Saniert wurde immer nur „oberflächlich“, damit seien die Gebäude immer mehr gealtert.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 27.5.2022

Erst ab dem Jahr 2000 stabilisierte sich diese Entwicklung. Mittlerweile habe auch ein Generationswechsel begonnen, berichtet Südstadt-Bewohnerin Elisabeth Broer: „Man merkt bereits deutlich, dass wieder jüngere Familien zuziehen. Es gibt wieder eine bunte Durchmischung. Wohnungen, die früher lange Zeit leer gestanden sind, können wieder verkauft werden.“

Neuer Impuls belebt Zentrum

Einen neuen Impuls brachte das neue Südstadtzentrum, das innerhalb von zwei Jahren errichtet wurde. Ein Drittel des neuen Zentrums – 13.000 Quadratmeter Nutzfläche – ist weiterhin für Geschäfte vorgesehen. Dazu kamen eine Tiefgarage, ein Ärztezentrum, mehr als 100 Mietwohnungen und 30 Wohnungen für betreutes Wohnen.

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2020 hat die Südstadt ein neues Zentrum mit mehr Wohnungen und modernen Geschäften bekommen
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Das Areal hat dadurch wieder einen neuen Impuls erhalten
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Die Südstadt soll damit – wie zu Beginn – wieder zu einer lebendigen Familienstadt werden

Um den Charakter der Südstadt – die vielen großzügigen Freiflächen – langfristig zu erhalten, erwarb die Gemeinde schon in den 90er Jahren große Teile davon. „Für die Gemeinde war das kein gutes Geschäft“, betont Zeiner, „weil wir Flächen gekauft haben, die man nicht nutzen will“. Es sei aber ein Signal an die Bevölkerung gewesen, dass hier keine Wohnraumverdichtung möglich sei.

Südstadt bleibt eine Insel

Bei der Energieversorgung ist die Südstadt bis heute quasi eine Insel. Im Gegensatz zu den umliegenden Gemeinden sowie dem Altort von Maria Enzersdorf, die über Wiener Netze mit Strom versorgt werden, bildet die Versorgung in der Südstadt hier eine Insellösung der EVN. Auch die Gasversorgung erfolgt über Leitungen der EVN, die Wärmeversorgung über das EVN-eigene Biomasseheizkraftwerk Mödling, das ursprünglich gleichzeitig mit dem Südstadtbau in Mödling mit Erdgas als Primärenergieträger errichtet wurde.

Der Zusammenhang zwischen der Südstadt und der damaligen NEWAG ist bis heute an Straßennamen der Siedlung, die an Standorte von NEWAG-Kraftwerken erinnern, erkennbar: Erlaufstraße, Dobrastraße, Ottensteinstraße, Thurnbergstraße, Kampstraße, Theißplatz, Hohe-Wand-Straße, Wienerbruckstraße und Donaustraße.

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Das EVN-Gebäude als markantes und von Weitem sichtbares Wahrzeichen der Südstadt

Mögliche Landeshauptstadt?

Eine urbane Legende, die aber in Gesprächen mit Ortsbewohnern immer wieder vorkommt, ist, dass die Südstadt auch zu einer Art neuen Landeshauptstadt ausgebaut werden sollte. „Von der Konzeption mit der EVN, den Sport- und Wohnanlagen wäre es schon vorstellbar“, meint Zeiner. Auch einer seiner Vorgänger machte offenbar Aussagen dahingehend. „Ich kenne aber keine konkreten Pläne oder Unterlagen, ist also bestenfalls zwischen den Zeilen herauszulesen.“

Die Einwohnerzahl der Südstadt beträgt heute etwa 4.000, das ist ungefähr die Hälfte der Gesamteinwohnerzahl von Maria Enzersdorf. Auch der „Ureinwohner“ Leopold Kummer wollte seither nicht mehr wegziehen. „Es war eine harte, aber schöne Zeit mit einem guten Zusammenhalt“, betont der rüstige Pensionist, „auch wenn viele schon gestorben sind“.