100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Sammlung Peter Steinbach
„100 Jahre NÖ“

Mord bringt Missstände in Heimen ans Licht

Ein Doppelmord im Erziehungsheim Eggenburg (Bezirk Horn) hat 1970 für Aufsehen gesorgt. Der Fall bestätigte teils gravierende Missstände in den Heimen. Und trotzdem mussten weiterhin viele Kinder und Jugendliche ein Martyrium erleben.

Ein ganz normaler Arbeitstag – so beschreibt Peter Steinbach, ehemaliger Zögling im Erziehungsheim in Eggenburg den 20. März 1970. Ganz normal, bis „plötzlich alle von den Werkstätten abgeholt und in die Zimmer gebracht wurden.“ Die Kinder werden informiert, „dass in der Senkgrube ein Toter gefunden wurde“ – in der zum Heim gehörenden Landwirtschaft.

Die Jugendlichen sind geschockt. Von ihrem Zimmer aus beobachten sie die Bergung der Leiche. Ein Zimmerkollege von Steinbach dreht sich dabei zu ihm und meint: „Ich glaube, da wird noch ein Zweiter drinnen liegen. Und so war es auch.“ Denn was Steinbach damals noch nicht wusste, sein Zimmerkollege, der unter ihm im Stockbett schlief, war einer der beiden Mörder.

„Irgendwas stimmt nicht“

„Ich habe nicht gewusst, dass er der Mörder ist, aber ich habe gewusst, mit ihm stimmt was nicht.“ Einer nach dem anderen wird von der Polizei verhört – bis sein Bettkollege nicht mehr zurückkommt, sondern abgeführt wird. Über die beiden Todesfälle sei danach nicht mehr geredet worden, „das wurde praktisch totgeschwiegen“.

Fotostrecke mit 11 Bildern

100 Jahre NÖ Erziehungsheim Eggenburg
Sammlung Peter Steinbach
Peter Steinbach (r.) beobachtet vom Fenster aus den Abtransport der Leichen, in der Mitte steht einer der Mörder – das Foto ging später durch die Weltpresse
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
In dieses Gebäude hatten die beiden Zöglinge ihre Kameraden gelockt und erschlagen
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Im Anschluss wurden die Leichen in die Senkgrube geworfen
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Kronen Zeitung
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Das Erziehungsheim Lindenhof war eine Einrichtung der Stadt Wien
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Bis 2012 wurden hier straffällige Jugendliche untergebracht und solche, die aus einem katastrophalen familiären Umfeld stammten
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
ORF
Die Anstalt galt als offene Einrichtung, die Zöglinge waren also nicht eingesperrt
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
ORF
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
ORF
Die Freizeit verbrachten die Jugendlichen entweder am Fußballplatz …
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
ORF
… oder in der Turnhalle
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Die Linde, nach der die Erziehungsanstalt benannt ist – „Lindenhof"

Doch die Anwesenheit der Polizei wirkt sich laut Steinbach auch auf die Erzieherinnen und Erzieher aus. „Jene Erzieher, die sehr streng waren und von oben heruntergehandelt hatten, waren alle plötzlich kleinlaut und devot. Ich habe mir gedacht: Schau an, die Polizei muss da sein und sie fahren alle mit dem Fahrrad unter dem Teppich.“

Schwarze Pädagogik und Watschen

Denn in Erziehungsheimen wie Eggenburg herrschte damals noch ein strenges Regiment. Neben gelernten Erziehern, die für die Kinder und Jugendlichen ein offenes Ohr hatten, gab es auch jene, die laut Steinbach auf „schwarze Pädagogik“ setzten. „Ihr seid der Nachwuchs der Mafia, man sollte euch bei Wasser und Brot halten.“ Zwar waren sie durchaus freundlich, „aber gezwungen und bei jeder Gelegenheit wurdest du gedemütigt, eine Watsche war keine Seltenheit.“

Im Gegensatz zu heute war der Beruf des Erziehers damals noch relativ unreglementiert. Man konnte, musste sich aber nicht zum staatlichen Jugenderzieher ausbilden lassen, um die Jugend zu erziehen. Während der Staat also etwa Blumenbindern und Fensterputzern eine dreijährige Lehrzeit vorschrieb, konnte jeder Hilfsarbeiter in Heimen arbeiten – sofern der Heimleiter mit ihm zufrieden war.

Die Ausbildung zum Erzieher

Im Heim in Eggenburg, dass von der Stadt Wien betrieben wurde, waren bis 2012 straffällige Jugendliche untergebracht und solche, die aus einem katastrophalen familiären Umfeld stammten. Letzteres traf auf Steinbach zu. Alkoholprobleme beim Vater und eine Mutter, die Steinbach als Kleinkind verließ, ihn als Neunjährigen zurückholte – und ihm dann eine Kindheit voll physischer und psychischer Gewalt bescherte, um ihn schließlich endgültig in Heime abzuschieben.

Gewalt und Hoffnung

An seinen ersten Tag im Lindenhof in Eggenburg im Februar 1970 kann sich Steinbach noch ganz genau erinnern. „Du kommst dorthin und jeder schaut dich an, der Erzieher nimmt dir das Privatgewand weg, du stehst vor allen nackt da, und dann kommt ein Bub, der die Wäsche verwaltet hat und hat dir alles gegeben, was du brauchst. Das war demütigend, aber für damalige Zeit völlig normal.“

Und schon am zweiten Tag musste der damals 15-Jährige zum ersten Mal im Heim Gewalt erleben. Sein Bäckermeister – die Mutter hatte angeordnet, dass ihr Kind eine Bäckerlehre macht – verlangte von ihm ein Salzstangerl zu rollen. „Das hat nach allem, aber nicht nach einem Stangerl ausgeschaut, daraufhin schlug er mir mit einem Nudelwalker über die Finger, dass sie richtig anschwollen.“ Ein anderes Mal wurde er derart verprügelt, „dass ich wegen kaputter Rippen in Spitalsbehandlung aufgenommen wurde“.

Fotostrecke mit 4 Bildern

100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Auf Forderung seiner Mutter musste Peter Steinbach (l.) eine Bäckerlehre machen
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Der Befund über Peter Steinbach als er ins Heim kam
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Die Bäckerei, in der Peter Steinbach seine Lehre durchlief

Im Gegensatz dazu standen ein paar Personen, die ihm Kraft gaben. Erzieher Josef Angerer zum Beispiel, der ihm ein väterlicher Freund wurde. Oder Direktor Hans Matz, von dem Steinbach fast ehrfürchtig erzählt. „Sie haben uns Perspektiven gegeben“. Matz legte erstaunliche Kreativität an den Tag, um Möglichkeiten zu suchen, um die Jugendlichen auszupowern, „indem wir Höhlenforschen waren oder Bergsteigen, aber nicht am Kahlenberg, sondern am Dachstein oder Großglockner, mit Steigeisen und Pickel.“

Strikter Tagesablauf

Dennoch war der Alltag strikt geregelt: 6.00 Uhr hieß es Tagwache, dann ab in den Waschraum, zum Frühstück und um 7.30 Uhr mussten die Jugendlichen zum Arbeiten in der Werkstatt sein. Um 17.00 Uhr gab es Abendessen, danach war jeder zu bestimmten Aufgaben eingeteilt: Aufwaschen, Zusammenkehren, Klodienst. Gegen 19.30 Uhr durften sie in den Fernsehraum und ihre Freizeit genießen. Ab 21.00 Uhr wurden die Zimmer versperrt und der Strom abgedreht – „nur ein Notlicht leuchtete in der Nacht“.

Jeden Samstag war Großputztag. „Da wurde der Spezialdreck geputzt, der eh nicht da war“, erinnert sich Steinbach. Am Sonntag hatten die Zöglinge einen freien Tag mit Ausgang. Zu Weihnachten mussten sie eine Woche nach Hause. Das Züchtigungsrecht sei damals noch erlaubt gewesen, wobei die Erzieher „vorsichtig waren, weil es manche Burschen gab, die zurückschlugen.“ Manche agierten nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“.

Einblicke in das Erziehungsheim Eggenburg

Steinbach erzählt über seine Erinnerung in lockerem Plauderton, als wäre das alles alltäglich. Das unterstreicht, wie sehr die permanente Anwesenheit von Gewalt das Leben der Buben prägte. Schlimm seien nur die ersten vier, fünf Monate gewesen, bis man sich in die Gruppe mit etwa 20 anderen Jugendlichen eingegliedert hatte, „dann hat man im Prinzip gewusst, wo man steht“. Eggenburg sei „ein schlimmes Heim“ gewesen, „aber es hat schlimmere gegeben“.

Doppelmord als „Erlösung“

Die „Erlösung“ war laut Steinbach der Doppelmord, „so grausam das klingt“. Allerdings hätten die Verantwortlichen dadurch umgedacht. Zum einen sei „der Druck weggefallen“, zum anderen wurden nun auch Jugendliche aufgenommen, „die richtige Dummerl waren und nicht bis zehn zählen konnten.“ Auf Grund ihres Verhaltens bzw. ihrer Entwicklung sollten sie die Schwererziehbaren bzw. die Erzieher für Schwererziehbare „ausbremsen und das ist ihnen gelungen“.

Auf diese Weise wurde aus dem Erziehungsheim über die Jahre ein Lehrlingsheim, auch wenn die Lehrlinge laut Steinbach „zum Teil so naiv waren, dass sie eher nur eine Beschäftigungstherapie hatten und eine Gesellenprüfung gar nicht schaffen konnten.“ Und obwohl mindestens die Hälfte der etwa 320 Zöglinge zumindest eine Vorstrafe hatte, wurde das Heim als offene Einrichtung geführt. Dass durchwegs zehn bis 15 Zöglinge abgängig waren, galt als kalkuliertes Risiko.

Systemversagen

Eggenburg war in dieser Zeit kein Einzelfall. In Niederösterreich gab es damals Dutzende Einrichtungen, die entweder vom Bund verwaltet wurden, wie Wiener Neudorf (Bezirk Mödling), von der Stadt Wien – neben Eggenburg etwa auch Klosterneuburg, Altenberg (beide Bezirk Tulln), Wimmersdorf (Bezirk St. Pölten) oder Pitten (Bezirk Neunkirchen) – oder vom Land Niederösterreich. Darunter waren u.a. Korneuburg und Allentsteig (Bezirk Zwettl).

Alfred Obermair spricht über den Alltag im Kinderheim Kirchberg am Wagram

Die Kinder und Jugendliche, die bei ihrer Familie etwa Gewalt erfahren hatten, sollten dort gut untergebracht sein. Doch stattdessen mussten sie zum Teil viel Schlimmeres erleben – das oft mit Kleinigkeiten begann. So wurden ihnen etwa die private Kleidung oder der Teddybär weggenommen, Kinder wurden in Heimkleidung gesteckt, bekamen Nummern oder wurden als Sechsjährige nur noch mit dem Familiennamen angesprochen.

„Auf den ersten Blick scheint das für uns nicht so schlimm, aber die machen etwas mit Kindern“, sagt Journalist Georg Hönigsberger, der Anfang der 2010er die Heimskandale mitaufgedeckt hat. Auch der streng reglementierte Tagesablauf schränkte die Freiheit der Kinder stark ein – bis zum Klogehen. „Da wurde Zeitungspapier fein säuberlich auseinandergerissen, jeder bekam zwei Stück pro Tag und wenn es zu wenig war – Pech.“

Erbrochenes mitessen

Abgesehen von der alltäglichen Gewalt wurde einem das Essen bis zum Erbrechen reingestopft, und „dann musste man das Erbrochene auch noch mitessen“, ergänzt Kurt Leitzenberger, Leiter der Opferschutzkommission des Landes, die 2010 eingerichtet wurde. „Bettnässern wurde das nasse Leintuch über den Kopf gezogen, damit jeder wusste: Jetzt hat der wieder reingemacht.“

Teilweise wurden auch Capo-Systeme aufgezogen, indem manche Zöglinge besser behandelt wurden, dafür andere verpetzten oder schlugen, wie in Eggenburg. In Allentsteig wurde Fluchtwilligen hingegen eine Glatze geschnitten, damit sie für jeden gleich erkennbar waren. „Für jemanden, der bereits minderbegabt ist und aus einem sozial schwierigen Umfeld kommt, ist das keine Motivation“, sagt Leitzenberger. Vielen Erziehern habe „das nötige Feingefühl gefehlt“.

Endstation Kirchberg

Besonders berüchtigt war Kirchberg am Wagram (Bezirk Tulln), die Zustände waren katastrophal. Dorthin kamen etwa jene Jugendliche, die zuvor im Heim Kaiserebersdorf aufgefallen waren – „das war mehr oder weniger eine Jugendstrafanstalt.“ Ehemalige Zöglinge berichten von „schlimmsten hygienischen Zuständen“, Einzelhaftzustände, Prügelstrafen standen an der Tagesordnung, mit einer Stunde Hofgang am Tag. „Dort sollten die Jugendlichen gebrochen werden“, schildert Hönigsberger.

Fotostrecke mit 7 Bildern

100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Obwohl es offiziell eine Erziehungsanstalt war, waren die Fenster der Zellen alle mit weißen Gitterstäben gesichert
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Die Erziehungsanstalt Kirchberg am Wagram wurde in den 1930er-Jahren als Außenstelle der Bundeserziehungsanstalt Wien-Kaiserebersdorf errichtet
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Für ein Heimkind war Kirchberg eine Art Höchststrafe
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Wer hierher kam, galt als „besonders schwer erziehbar“
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Als Tagesbeschäftigung mussten die Zöglinge arbeiten
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Täglich war eine Stunde Sport vorgeschrieben, also ging man in den Hof, um Fußball zu spielen. Während die Erzieher mit festen Schuhen spielten, waren die Zöglinge barfuß und schlugen sich am rauen Betonboden die Füße blutig.

Ab Ende der 1960er machte die sogenannte Gruppe „Spartacus“ – eine linksaktivistische Gruppe – auf die Zustände in den Heimen aufmerksam. Auch die Medien griffen das Thema mit ehemaligen Zöglingen, Psychiatern und Fachleuten auf. Bereits 1974 wurde zudem eine wissenschaftliche Studie über die Wiener Heime initiiert, laut deren Ergebnis 14 von etwa 30 nicht mehr den pädagogischen Konzepten entsprachen.

Darunter waren auch die Wiener Heime in Biedermannsdorf (Bezirk Mödling), Klosterneuburg, Wimmersdorf, Altenberg und Retz (Bezirk Hollabrunn). „Laut der Studie galten diese mehr oder weniger als totale Institutionen ohne Freiraum und pädagogische Expertise“, sagt Hönigsberger. Trotzdem wurden viele der Heime erst Jahre oder Jahrzehnte später geschlossen – auch weil die konkreten Standorte in der Studie erst 2013 bekannt wurden.

Das berüchtigte Kinderheim in Kirchberg am Wagram

„Die werden es schon verdient haben“

Und so blieb in den 1970ern in den Heimen alles beim Alten – auch weil sich die Bürokratie nicht änderte. „Bis in die 1980er war alles typisch gemächlich verwaltet“, meint Hönigsberger. Schon Monate im Vorhinein war klar, „wann die Kontrolleure kommen, natürlich waren die Kinder dann alle geschniegelt und gestriegelt, oder sowieso in der Schule.“ In der Öffentlichkeit herrschte hingegen die Meinung: „Die werden es schon verdient haben.“

Doch um im Heim zu landen, mussten die Kinder oft gar nichts angestellt haben. Und auch die Eltern waren manchmal unschuldig, etwa wenn Frauen alleinerziehend oder unverheiratet waren, sagt Hönigsberger: „Ihnen konnte man gut einen Strick drehen, weil man gesagt hat: Sie arbeiten nicht, also können sie ihr Kind nicht ernähren. Wenn sie arbeiten gingen, wurde ihnen vorgeworfen, sie gehen arbeiten, also haben sie keine Zeit, sich um das Kind zu kümmern.“

Gewalt und Gehorsam

Es ging also bei weitem nicht immer darum, dass Kinder aus schlimmsten Verhältnissen kamen oder gewalttätig waren, um abgenommen zu werden, manchmal ereignete sich die Abnahme „im Rückblick betrachtet auch recht willkürlich.“ Mit gravierenden Folgen: Denn gerade jene, die schon als Säuglinge oder von der Geburt weg in die Obhut des Staates kamen, lernten nichts anderes kennen als Gewalt und Gehorsam.

Wilhelm Jäger spricht über seine Erinnerungen im Kinderheim Kirchberg am Wagram

Erzieher oder Psychologen, die solche Probleme aufzeigten und etwa im Fernsehen darüber sprachen, wurden sanktioniert – zum Teil als „Nestbeschmutzer“ oder „Landesverräter“ gebrandmarkt, betont der Journalist, der darüber auch im 2013 erschienenen Buch „Verwaltete Kinder“ schrieb. Den Zöglingen selbst wurde vielfach erst gar nicht geglaubt bzw. „wurden sie nicht ernst genommen und bei etwa der Polizei wieder weggeschickt“.

Ein Sonderfall war eine Gruppe ehemaliger Zöglinge im Kinderheim Wimmersdorf, die Betreuer angezeigt hatten. Es kam damals sogar zu einem Gerichtsverfahren, doch seit 1981 ruht es, so Hönigsberger. Die Begründung: Weil einer der Betreuer, der im Vordergrund stand, aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann. „Es ist klar das Opfer, die jahrelang ein Martyrium erlitten, dann verzweifeln, weil jahrelang nichts weitergeht.“

„Wir glauben euch“

Richtig aufgebrochen seien die unzähligen, leidvollen Erfahrungen erst ab dem Jahr 2010. Zunächst wurden u.a. Fälle rund um das ehemalige Mädchenheim am Wiener Wilhelminenberg bekannt. Mit der Zeit folgten aber auch die ersten Fälle in Niederösterreich. Das Land richtete daraufhin eine Opferschutzkommission ein. Das Wichtigste war für die Betroffenen nach all den Jahren, „dass ihnen jemand zuhört und sagt, wir glauben euch, nicht nur dem Pfarrer oder Lehrer“, erinnert sich Leitzenberger.

Missbrauchsfälle in Heimen kommen ans Tageslicht

Der ehemalige Präsident des Landesgerichts St. Pölten war in seiner Zeit fast 40-jährigen richterlichen Arbeit zwar „vielen menschlichen Grausamkeiten begegnet“, die Arbeit in der Opferschutzkommission löste bei ihm dennoch große Bestürzung aus: „Es ist unglaublich, wozu Menschen fähig sind.“ Erschütternd war für ihn auch, dass nicht nur Männer „grausam“ waren, sondern auch Frauen „versagten“.

Ab Anfang der 1980er wurden größere Heime übrigens zugesperrt. Doch abgeschlossen war der Prozess erst in den 2000er-Jahren – zuletzt wurde 2012 jenes der Wiener Volkshilfe in Pitten zugesperrt. Heutzutage sind Kinder und Jugendliche vorwiegend in Wohngemeinschaften oder bei Pflegeeltern untergebracht.

Therapie und Entschädigungen

Von Seiten des Landes wurde in dieser Phase „sehr unbürokratisch geholfen“, meint Leitzenberger. Einerseits wurden Therapiestunden genehmigt. „80 Stunden waren die Regeln und wenn es noch mehr gebraucht hat, dann waren es mehr.“ Andererseits wurden bis zu 30.000 Euro an Entschädigung gezahlt. Innerhalb der ersten fünf Jahre wurden 367 Betroffene entschädigt. Die oberste Aufsicht über die Heime hat nun auch eine Psychologin, sagt Leitzenberger und stellt klar: „Man hat versucht aus den Fehlern zu lernen.“

Fotostrecke mit 5 Bildern

100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Manches erinnert heute noch an die einstige Funktion der Erziehungsanstalt Kirchberg
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Nach Jahrzehnten besuchten Alfred Obermair und Wilhelm Jäger (v.l.) 2018 die frühere Erziehungsanstalt Kirchberg am Wagram
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Die Zellen waren klein, der Blick aus dem Fenster fällt durch weiße Gitterstäbe
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Es gab zwölf Zellen für zwölf Buben, die Zöglinge waren zwischen 14 und 20 Jahre alt
100 Jahre NÖ Kinderheime Kirchberg am Wagram
ORF
Die meiste Zeit mussten die Zöglinge hinter Gittern verbringen

Intern hatten manche in der Opferschutzkommission gemeint, „dass man in zwei Jahren fertig sein werde“, erinnert sich Leitzenberger. Stattdessen melden sich bis heute noch Betroffene, etwa 100 Menschen pro Jahr, „die ihre Erfahrungen und Erlebnisse verdrängt hatten.“ Auch durch die 2016 vom Bund beschlossene Heimopferrente – ein zusätzliches monatliches Einkommen, das nicht verpfändet werden kann – meldeten sich noch viele.

In Niederösterreich erhalten Betroffene nach wie vor einmalig 5.000 Euro – „als Gestezahlung, ohne das das groß nachgeprüft wird.“ Dass deren Leid mit solchen Maßnahmen offiziell anerkannt wird, „sei viel Wert“, erzählt Hönigsberger. „Was vielen jedoch abgeht ist, dass die Leute, die ihnen das angetan haben, nie zur Rechenschaft gezogen wurden.“ Denn der Großteil der Vorwürfe ist verjährt.

Unabhängige Kontrollen

Ganz wichtig für Zukunft ist laut Hönigsberger, dass nun auch die Volksanwaltschaft für Kontrollen der Heimeinrichtungen zuständig ist. Das bedeutet, dass nicht nur das Land sich selbst kontrolliert, sondern die Mitarbeiter der Volksanwaltschaft unabhängig und unangemeldet kontrollieren können. Neben Kinderheimen betrifft das auch Altenheime, Psychiatrien und Behindertenbetreuungen. „Überall dort, wo die Gefahr besteht, dass in geschlossenen Bereichen strukturelle Gewalt auftreten kann.“

100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
In seinem Buch schildert Peter Steinbach seine Erinnerungen über positive und negative Momente im Heim

In diesem Bereich sieht der Experte auch Handlungsbedarf, „weil viele der Einrichtungen nicht mehr zeitgemäß sind.“ Doch zumindest gibt es mit der Volksanwaltschaft nun eine Institution, „die ihre Finger in die Wunde legen kann.“ Enttäuschend sei aber, dass der Bund für erlittene Missstände, die in seinem Heimen passierten, wie Wiener Neudorf oder Kirchberg, nach wie vor keine Entschädigungen zahlt, kritisiert der Experte.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 17.6.2022

Zudem müsse die historische Aufarbeitung, die die Wiener Volkshilfe für die von ihr betriebenen Kinderheime selbst initiiert hatte und 2021 abschloss, hinausgehen: „Es liegt bis heute keine veröffentlichte Gesamtstudie für Niederösterreich vor, wie das etwa in Oberösterreich, Tirol und teilweise auch Wien vorhanden ist. Vieles ist noch unbekannt, und die Frage der Verantwortlichkeit ist noch nicht definitiv abgehandelt worden.“

Das Motiv für den Doppelmord

Längst geklärt ist hingegen das Motiv für den Doppelmord in Eggenburg, der viele der Missstände aufzeigte. Die beiden Mörder hatten es auf die modische Kleidung ihrer Opfer abgesehen. Denn wenn man kurz vor der Entlassung stand, wurde die graue Anstaltskleidung wieder gegen die Privatkleidung getauscht. Die Mörder schmissen die Leichen in die Senkgrube – in der Hoffnung, dass die Jauche die Leichen zersetzen würde.

100 Jahre NÖ Kinderheime Eggenburg Doppelmord Missbrauch
Sammlung Peter Steinbach
Der Doppelmord hat Peter Steinbach (r.) so sehr geprägt, dass er nach seiner Bäckerlehre Polizist wurde

Für Steinbach war dieser Fall ein prägendes Ereignis. Die Ermittlungen beeindruckten ihn so sehr, dass er beschloss, selbst Polizist zu werden. „Die Polizei hat mich aufgenommen und mich unterstützt, ich habe zu dem Beruf eher eine familiäre als eine professionelle Beziehung“, sagt Steinbach. Durch seine Zeit in Eggenburg habe er „im Dienst“ auch immer beide Seiten besser verstanden.

Die Szenen, die Steinbach in seinem neuen Buch „Erziehungsheim Eggenburg. Der Akt“ beschreibt, sind keine leichte Kost, allerdings auch keine Abrechnung. Vielmehr möchte er damit sowohl Jugendlichen als auch Pädagogen aufzeigen, dass man aus nichts etwas machen kann. „Ich bin so oft vor dem Scherbenhaufen gestanden, habe nicht gewusst, wie es am nächsten Tag weitergeht, aber man darf sich nicht aufgeben. Das Leben schreibt oft Geschichten, die man sich nicht vorstellen kann.“