100 Jahre NÖ 1989 Fall Eiserner Vorhang Laa an der Thaya
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„100 Jahre NÖ“

Als Laa auf der Titelseite in Amerika war

Der Fall des Eisernen Vorhangs im November 1989 brachte Millionen Menschen die langersehnte Freiheit. Niederösterreich war davon unmittelbar betroffen. Dank eines historischen Fotos schaffte es Laa an der Thaya sogar auf die Titelseiten in Amerika.

Es ist ein Foto, das um die Welt gehen sollte. Am 17. Dezember 1989 durchtrennten die Außenminister von Österreich und der Tschechoslowakei, Alois Mock und Jiri Dienstbier, sowie Landeshauptmann Siegfried Ludwig in Laa an der Thaya (Bezirk Mistelbach) – symbolisch – den Eisernen Vorhang, der zu diesem Zeitpunkt schon längst gefallen war.

„Das war sicherlich eines meiner prägendsten Erlebnisse und sehr beeindruckend“, erinnert sich der langjährige Bürgermeister von Laa an der Thaya, Manfred Fass (ÖVP), der damals als Kulturstadtrat mitwirkte, „wobei ich auch erwähnen muss, dass ich die historische Tragweite dieser Aktion an diesem Tag noch nicht geahnt habe“. Denn noch Monate zuvor erschien das Ende des Eisernen Vorhangs als Utopie.

Ein Leben an der „toten Grenze“

Fast 40 Jahre lang lag die Stadt „an der toten Grenze“. Den Kindern wurde verboten, auch nur in die Nähe der Grenze zu kommen, erinnert sich Fass an seine Kindheit: „Ich habe immer geglaubt, dort ist wirklich eine eiserne Wand, das Ende der Welt.“ Bis er eines Tages bemerkte, „dass dort auch Lichter brennen, erst dann wurde mir bewusst, dass dort auch Menschen leben“.

100 Jahre NÖ 1989 Fall Eiserner Vorhang Laa an der Thaya
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Diese Situation habe der Region nicht nur wirtschaftlich geschadet, sondern sie auch psychologisch geprägt. Erst 1979 öffnete sich ein „kleiner Spalt in die Staatsgrenze“, sagt Fass, als ein Straßenübergang geöffnet wurde – für maximal zehn Übertritte pro Tag. Doch zehn Jahre lang gab es weiter „keine Hoffnung, dass sich Entscheidendes ändert“.

Zehn Jahre, in denen weiterhin Menschen beim Versuch, in die freie Welt zu gelangen, ihr Leben lassen mussten. Entlang des Weinviertler Abschnitts des Eisernen Vorhangs starben an die 180 Personen – mehr als an der Berliner Mauer. „Da läuft einem der kalte Schauer über den Rücken, wenn man hört, unter welchen Bedingungen die Leute das versucht haben“, sagt Fass.

Die Machtblöcke brechen

Anfang des Jahres 1989 entsprach Europa noch der alten Ordnung. Im „Kalten Krieg“ standen einander zwei Machtblöcke in West und Ost gegenüber. „Wenn jemand im Frühjahr gesagt hätte, im Dezember steht die Berliner Mauer nicht mehr, hätten die Leute geglaubt, man ist verrückt“, erzählt Historikerin Julia Köstenberger. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse – in ungeahnter Geschwindigkeit.

Gelungene und gescheiterte Fluchtversuche über die Grenze

Zunächst begannen Reformkommunisten in Ungarn – mit Rückendeckung aus Moskau – zwei getrennte Welten einander anzunähern. Am 2. Mai 1989 kündigte man den Abbau der Grenzsicherungsanlagen an: der Grundstein für den Fall des Eisernen Vorhangs. „Das war eine wichtige Entwicklung, weil dadurch einiges ins Rollen und das System ins Wanken geraten ist“, sagt Köstenberger.

Paneuropäisches Picknick

Am 19. August kam es zum sogenannten „Paneuropäischen Picknick“ nahe Sopron und St. Margarethen (Burgenland), weil die ungarischen Grenzsoldaten einfach wegsahen. Mehr als 600 DDR-Bürgerinnen und -Bürger gelangten durch ein geöffnetes Grenztor von Ungarn nach Österreich in die Freiheit. Das war die größte Fluchtaktion seit dem Bau der Mauer. Am 27. Juni 1989 durchschnitten Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn medienwirksam den „Eisernen Vorhang“ in der Nähe von Klingenbach (Burgenland).

Foto in der Jubiläumsausstellung, das zeigt wie Alois Mock und Gyula Horn den Stacheldraht durchschneiden
ORF
Am 27. Juni 1989 durchtrennten Außenminister Alois Mock (li.) und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn (re.) medienwirksam den „Eisernen Vorhang“

Dabei ahnte noch kaum jemand, dass diese Aktion der Anfang vom Ende des Ostblocks werden sollte. „Zu diesem Zeitpunkt war in der Tschechoslowakei noch nicht so viel im Gange“, sagt die Historikerin. Erst im Herbst, am 17. November, kam es in der CSSR vermehrt zu Demonstrationen, Anlass war u.a. das Gedenken an 50 Jahre NS-Terror. „Zugleich war es auch eine Demo gegen das Regime.“

„Samtene Revolution“

Es war der Beginn der „Samtenen Revolution“: Mit ihren Schlüsseln in der Hand hatten die damals noch in einem Staat vereinten Tschechoslowaken am Prager Wenzelsplatz im Herbst 1989 ihrer Unzufriedenheit über die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zwänge im Land Luft gemacht und das Ende des KP-Regimes eingeläutet. Wenige Tage zuvor – am 9. November – fiel in der deutschen Hauptstadt die Berliner Mauer.

CSSR: „Samtene Revolution“ bringt Regime zu Fall

Diese Ereignisse wurden auch entlang der niederösterreichischen Grenze sehr aufmerksam verfolgt, erzählt Fass: „Wir haben gehofft, dass auch die Tschechoslowakei eine Entwicklung wie in Ungarn macht und nicht wie 1968 niedergeschlagen wird, das war unsere Hoffnung, aber ohne irgendeine Sicherheit.“

Ende der Visumspflicht

Am 1. Dezember keimte weitere Hoffnung auf. „Österreich wird die Visumspflicht für CSSR-Bürger ab sofort bis 17. Dezember einseitig aufheben.“ Diese Eilt-Meldung der Austria Presse Agentur (APA) sollte einen weiteren wichtigen Schritt zur Demokratisierung der Tschechoslowakei (CSSR) auslösen. In der Meldung hieß es weiter: „Das österreichische Innenministerium hat die Aufhebung der Visumspflicht mitgeteilt.“

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APA

Zudem berichtete die APA, dass aus dem Prager Innenministerium am Freitag inoffiziell verlautet wurde, dass "der Abbau der Grenzsperren des ‚Eisernen Vorhangs‘ an der Grenze zu Österreich am Montag beginnen solle“. Am Abend des 1. Dezember 1989 wurde mitgeteilt, dass die Verordnung des Innenministeriums zur Aufhebung der Visapflicht für CSSR-Bürger ab Montag, 4. Dezember, 0.00 Uhr in Kraft treten werde.

Zusätzliche Grenzübergänge angekündigt

Knapp eine halbe Stunde nach der ersten Aussendung meldete die APA, dass das Finanzministerium wegen der Öffnung der Grenzen zur CSSR neue Grenzübergänge eröffnen werde, um bereits durch den Polenreiseverkehr stark belastete Übertrittsstellen zu entlasten, und auf bisher geschlossenen Grenzstrecken neue Übergänge zu schaffen, etwa im Raum Fratres (Bezirk Gmünd) und in Bernhardstal (Bezirk Mistelbach) zur Schaffung eines Anschlusses an die Autobahn in der CSSR.

Als Sofortmaßnahme würden auch Bürocontainer als Provisorien aufgestellt werden, hieß es, wie etwa für eine neue Übertrittsstelle für den Personenverkehr im Raum Kittsee. Außerdem sollten Ausbaumaßnahmen bei den Zollämtern Kleinhaugsdorf (Bezirk Hollabrunn), Drasenhofen (Bezirk Mistelbach) und Berg rasch in Angriff genommen werden.

Von Landespolitikern kam eine breite Zustimmung. Landeshauptmann Siegfried Ludwig begrüßte den Fall des „Eisernen Vorhangs“: „Darauf haben die Menschen im niederösterreichischen Grenzland vier Jahrzehnte lang gewartet.“ Die Ereignisse in der CSSR bezeichnete der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk (SPÖ) als „einen Traum, von dem keiner in meiner Generation zu träumen gewagt hätte“.

Der langersehnte Tag

Am 4. Dezember 1989 trat um 0.00 Uhr die offizielle Öffnung der tschechoslowakischen Grenzen in Kraft. CSSR-Bürger benötigten zur Ausreise aus ihrer Heimat nur noch einen Reisepass, bei der Einreise nach Österreich wurde kein Visum verlangt. Die Grenzregionen in Nieder- und Oberösterreich und insbesondere die Bundeshauptstadt Wien bereiteten sich auf einen gewaltigen „Sturm der Tschechoslowaken“ vor, meldete die APA.

4.12.1989: ORF-NÖ-Chefredakteur Werner Predota berichtet vom Grenzübergang Berg

„Es ist ein gutes Gefühl, ganz ohne Visum und Formalitäten nach Österreich fahren zu können“, werden Einreisende zitiert. Die meisten Bürgerinnen und Bürger aus dem Nachbarland, deren Autos teilweise mit kleinen CSSR-Fähnchen an den Antennen geschmückt waren, erklärten, ihren Aufenthalt zum „Sightseeing“ bzw. für den Verwandtschaftsbesuch zu nutzen, nur wenige seien ausdrücklich zu einer Einkaufstour aufgebrochen.

„Lüfterl“ statt „Sturm“

Zwölf Stunden später schrieben die Agenturjournalisten: „Statt ‚Sturm‘ nur ein ‚Lüfterl’“. An den Grenzübergängen herrschte bis Mittag eher Flaute. Bis Wien waren nur relativ wenige Bürgerinnen und Bürger aus dem nordöstlichen Nachbarland vorgedrungen – viele warteten noch auf ihre Reisepässe und auf Devisen. „Das war für die Bürger der CSSR offensichtlich überraschend“, glaubt Köstenberger.

Bis Mittag wurden als Spitzenwert am Übergang Berg etwa 800 Pkw mit 1.500 bis maximal 2.000 Personen registriert. In Drasenhofen zählte der Zoll etwa 400 Einreisende aus der CSSR, in Kleinhaugsdorf waren es 150. In Laa an der Thaya reisten 80 Personen ein, in Grametten (Bezirk Gmünd) und Gmünd, wo sich die Balken erst um 8.00 Uhr hoben, je etwa 40. Der große Ansturm folgte aber eine Woche später.

Die Suche nach dem Stacheldraht

In diesen Tagen sollte dieses Ereignis auch symbolisch festgehalten werden. Außenminister Mock und Dienstbier trafen sich dafür in Kleinhaugsdorf, wo man eigentlich den Zaun durchschneiden wollte. „Nur war der nicht mehr da“, weiß Köstenberger. Denn tschechoslowakische Soldaten hatten bereits zuvor an mehreren Stellen der gemeinsamen Grenze mit dem Abbau des „Eisernen Vorhangs“ begonnen.

17.12.1989: Die Suche nach dem Stacheldraht

Stattdessen fuhr man weiter nach Laa an der Thaya. Dort war man erst am Vortag vom Außenministerium informiert worden, dass wir „eine Großveranstaltung organisieren sollen, wobei nur angedeutet wurde, dass der Eiserne Vorhang durchtrennt werden soll“, erinnert sich Manfred Fass. Während im alten Rathaus eine Pressekonferenz mit Mock und Dienstbier stattfand, wurde bei der Ortseinfahrt von Hevlin – dem Nachbarort von Laa – noch ein Stück Stacheldraht gefunden.

Der alte Rathaus-Saal platzte auf Grund des großen Andrangs aus allen Nähten. Am Stadtplatz feierten tausenden Besucherinnen und Besucher – auch jene aus Tschechien, die ihre Nationalflaggen schwenkten. Und etwa 50 Journalisten aus der ganzen Welt berichteten aus Laa. „Die Stadt war am nächsten Tag sogar in Amerika auf der Titelseite und dann war uns klar, welche Tragweite diese historische Aktion hervorgerufen hat.“

„Nur gucken, nicht kaufen“

In den nächsten Tagen und Wochen sei die Stadt „von Tschechen, aber auch Polen überrannt worden“, erzählt Fass. Tausende Autos – viele davon auf der Durchfahrt nach Wien – legten in der Stadt den Verkehr lahm. Auch die örtlichen Geschäfte wurden „gestürmt, wobei die meisten gesagt haben ’Nur gucken, nicht kaufen‘“.

9.12.1989: Tschechische Grenzsoldaten beginnen mit dem Abbau des „Eisernen Vorhangs“

Anders war Situation bei Elektrohändlern, die ihre Ware wie Kühlschränke oder Waschmaschinen gleich vom Liefer-Lkw herunter verkauften. Nach vier Jahrzehnten am Eisernen Vorhang, „in denen die Stadt hart kämpfen musste“, konnte man sich nun 360 Grad „frei bewegen, das war ein ganz neues Gefühl, nicht mehr mit dem Rücken zur Wand zu stehen“.

Weihnachten an der Grenze

Eine Woche nach dem historischen Foto feierten Jugendliche zwischen den Zollämtern gemeinsam das Weihnachtsfest. Auf beiden Seiten begann man schnell Kontakte aufzubauen, sagt Fass, betont aber auch, dass so manches Vorurteil erst überwunden werden musste. Doch auf beiden Seiten überwog die Neugierde. Während die Österreicher kaum Tschechisch verstanden, konnten viele der Tschechen einigermaßen Deutsch.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Vormittag“, 26.8.2022

Innerhalb von nur zwölf Monaten ordnete sich im Jahr 1989 die europäische Welt komplett neu: Die Systeme des real existierenden Sozialismus waren der Reihe nach implodiert, der „Eiserne Vorhang“ war hochgegangen, die Berliner Mauer gefallen, die Anfänge vom Ende des Ostblocks gemacht.

Wie funktioniert eine Gemeinde?

Laa an der Thaya entwickelte sich in den folgenden Monaten auch zu einer Anlaufstelle für Kommunalpolitiker aus der Tschechoslowakei. „Wie finanzieren sich Parteien? Wie funktioniert eine Gemeinde? Welche Aufgaben führt eine Gemeinde durch?“, nennt Fass einige der grundlegendsten Fragen. Gleichzeitig war man mehrmals zu Informationsveranstaltungen in der CSSR eingeladen. „Dadurch entstanden auch viele Freundschaften, die bis heute Bestand haben.“

Fotostrecke mit 3 Bildern

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Der Grenzübergang Laa an der Thaya – links das ehemalige Zollhaus – ist für Auswärtige kaum noch sichtbar
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Teils von Bäumen verdeckt zeigen Straßenschilder am rechten Straßenrand die Grenze
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Nächst jener Grenze, die Europa einst mit dem „Eisernen Vorhang“ zweiteilte, gestaltete der Künstler Leo Schatzl mit dem Objekt „Hoher Zaun“ einen Gedenkraum der besonderen Art

Die Stadt habe aber auch wirtschaftlich profitiert. Spürbar sei das etwa am Beispiel der Therme. Während man anfangs noch Zweifel hatte, ob man ein bis zwei Prozent tschechische Gäste ansprechen kann, sind es heute bereits mehr als 30 Prozent. Die Therme entwickelte sich dadurch auch zu einem wichtigen Arbeitgeber in der Region.

Chance für zwei Regionen

Und durch den Fall des Eisernen Vorhangs sei es auch gelungen, die Abwanderung zu stoppen und den Bürgerinnen und Bürgern das Leben an der Grenze wieder schmackhaft zu machen, sagt Fass: „Man spürt die positive Einstellung, nicht mehr am Rande der Welt zu leben, man ist jetzt viel offener.“ Eine Entwicklung, von der beide Seiten der Staatsgrenze enorm profitieren würden.

In Niederösterreich erfüllte sich die einst tote Grenze nach und nach mit Leben. Die Nachkriegsordnung, die Europa in zwei Hälften teilte, wurde überwunden. In Laa an der Thaya erinnert heute eine Gedenktafel am Grenzübergang an die Barriere. Die Grenze selbst ist für Auswärtige eigentlich kaum noch sichtbar. Und auch die Barrieren im Kopf, die „bei dem einen oder anderen vielleicht heute noch da sind“, würden zunehmend verschwinden.