100 Jahre NÖ 1993 Jugoslawien Krieg Poysdorf Flüchtlinge Loley
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„100 Jahre NÖ“

1992: „Ein Flächenbrand der Hilfe“ erfasst das Land

In den 1990er-Jahren bricht eine Welle der Hilfsbereitschaft über das Land herein. Infolge des Bosnien-Krieges wurden tausende Geflüchtete aufgenommen. Zu einem Hotspot wurde Poysdorf, dort kam es aber auch zu Anfeindungen und einem Attentat.

„Mit dem letzten Flugzeug haben wir uns nach Österreich gerettet“, erinnert sich die damals elfjährige Merina Thralovic. In ihrer Heimatstadt Prijedor (Bosnien) stand im Frühjahr 1992 der Bürgerkrieg kurz bevor. Der rettende Zufluchtsort: Poysdorf (Bezirk Mistelbach).

Der Vater war so wie zahlreiche andere Bosnier in den 1970er-Jahren als Gastarbeiter gekommen. In einem Ziegelwerk, nur wenige Kilometer von Poysdorf entfernt, hatte er einen sicheren Arbeitsplatz. Aufgrund der unsicheren Lage in der Heimat ließ Thralovics Vater – so wie auch etwa 150 weitere Bosnier in der Region – seine Familie, aber auch Bekannte oder andere Dorfbewohner nachkommen.

„Tiefe seelische Wunden“

Poysdorf bzw. die Region entwickelte sich dadurch zu einem Hotspot für bosnische Flüchtlinge. Zunächst kamen viele bei Verwandten unter. „Oft haben mehrere Leute in einem Zimmer geschlafen“, erinnert sich Wolfgang Rieder, damals die rechte Hand der tatkräftigen Fürsorgerin Maria Loley. In der ersten Phase ging es darum, den Menschen zuzuhören: „Sie hatten tiefe seelische Wunden, waren traumatisiert und konnten mit niemandem darüber sprechen.“

1994: Engagierte Hilfe für bosnische Flüchtlinge in Poysdorf

Schon bald wurde klar, dass der Krieg länger dauern würde. Für die Geflüchteten mussten daher eigene Wohnräume organisiert werden. Loley gründete die Flüchtlingshilfe Poysdorf und machte sich mit ihrem Team von etwa 50 Freiwilligen auf Herbergssuche. Den Sitz hatte die Initiative in einem Wohnhaus, dessen Vorraum zum Büro umfunktioniert wurde.

Innerhalb kurzer Zeit organisierte Loley etwa 20 Privatquartiere. Einheimische stellten Möbel, Kleider und Lebensmittel zur Verfügung. Eine ältere Frau hatte sogar eines ihrer leerstehenden Häuser verschenkt. „Das war ein Flächenbrand der Hilfe und Nächstenliebe“, erinnerte sich Loley noch Jahre später voller Begeisterung. Zudem wurde für jede Familie eine Ansprechperson organisiert.

Gestrandet am Hauptplatz

Immer wieder kam es damals auch vor, dass plötzlich eine Gruppe Bosnier am Poysdorfer Hauptplatz stand. Loley erinnerte sich 2014 in einem Interview an eine Gruppe von etwa 20 Personen, „total erschöpft, sie weinten und waren ratlos“. Der Großteil hatte einen wochenlangen Fußmarsch hinter sich, „in der Hand hatten manche nur ein Plastiksackerl mit den wichtigsten Habseligkeiten.“

Solche „tragischen Szenen“ gab es damals öfters, weiß auch Rieder. Denn gerade zu Beginn hatte sich schnell herumgesprochen, dass „es dort oben, irgendwo bei Poysdorf, jemanden gibt, der ihnen hilft“. Loley wurde meist „als eine alte, kleine, gebückte Frau mit Brille und weißem Haar beschrieben. Und mit dieser Info sind Leute nach Poysdorf gekommen und haben gewartet, bis sie sie finden oder jemanden fragen können.“

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Die Schaltzentrale der Flüchtlingshilfe Poysdorf, ein umfunktionierter Vorraum eines Wohnhauses

Poysdorf stand beispielhaft für viele kleine ländliche Gemeinden, die Flüchtende aus dem Bosnienkrieg aufnahmen und diese oft erfolgreich integrieren konnten. Im Zuge der Bosnien-de-facto-Unterstützungsaktion wurden Tausende Menschen, die auf der Flucht vor den Kämpfen des Bosnienkrieges Niederösterreich erreichten, in Privatquartieren, Pfarrhöfen und leerstehenden Pensionen, aber auch in öffentlichen Gebäuden wie Schulen untergebracht.

Der Beginn des Krieges

Denn in ihrer Heimat herrschte im Frühjahr 1992 plötzlich Krieg. Anlass war, dass am 6. April Bosnien-Herzegowina von den USA und einen Tag darauf auch von der Europäischen Gemeinschaft (EG) als unabhängiger Staat anerkannt wurde. 99 Prozent der Wähler hatten sich zuvor für die Unabhängigkeit ausgesprochen – die serbische Volksgruppe, die 31 Prozent der Bevölkerung in Bosnien ausmachte, hatte das Referendum hingegen großteils boykottiert.

Zerstörungen in Grbavica, einem Stadtteil von Sarajevo
LT. STACEY WYZKOWSKI
Zerstörungen in Grbavica, einem Stadtteil von Sarajevo, nach dem Krieg

Schon wenige Tage nach der Anerkennung des neuen Staates begannen in der Hauptstadt Sarajevo erste heftige Kämpfe. Mitte April 1992 begannen auch in anderen Landesteilen Gefechte. Die bosnisch-serbische Führung verhängte am 2. Mai 1992 über die bosniakisch-kroatischen Stadtteile Sarajevos offiziell eine Blockade und unterbrach die Wasser- und Stromversorgung.

Ab 1993 wurde die Stadt durch einen nahe dem Flughafen Butmir errichteten Tunnel mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt, der auch zur Evakuierung diente. Die Blockade der Stadt dauerte 1.420 Tage. Etwa 10.000 Einwohner der Hauptstadt kamen ums Leben, darunter 1.600 Kinder.

1992: Die Situation der bosnischen Flüchtlinge in Niederösterreich

In allen Bezirken Niederösterreichs waren damals bosnische Flüchtlinge untergebracht. Die meisten – etwa 2.800 – kamen bei Privatpersonen sowie karitativen und kirchlichen Stellen unter, etwa 1.200 in Großquartieren, die Bund und Land zur Verfügung stellten. Täglich meldeten sich damals hunderte neue Flüchtlinge.

„Mit Händen und Füßen verständigt“

Auch in Poysdorf wurde weiter nach Privatquartieren gesucht. Eine Familie kam etwa bei Hans und Grete Tiwald unter. „Zu Beginn haben wir uns mit Händen und Füßen verständigt“, erzählt Grete. Die Sprachbarrieren waren für beinahe alle gleich, Deutschkenntnisse waren kaum vorhanden. Deshalb organisierte Hans Tiwald Deutschkurse, gemeinsam wurde gelernt. Andere Einheimische kümmerten sich wiederum um die Kinder.

Trotz der Sprachprobleme wurde in der Umgebung sofort nach einem passenden Arbeitsplatz gesucht. Viele kamen in Betrieben der Region unter, wie bei Winzer Wolfgang Rieder, „damit sie zumindest etwas vorweisen können und Papiere haben, wenn sie zu einem anderen Betrieb gehen, damit sie dort einen leichteren Eintritt haben.“ Andere revanchierten sich, indem sie in der Gemeinde mithalfen.

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Viele Freiwillige engagierten sich und organisierten anfangs auch für Kinder Deutschkurse und Unterricht

Unterstützt wurden die Geflüchteten dabei stets von den vielen Freiwilligen, die ihnen auch bei Behördenwegen halfen. „Man hat gemerkt, die Leute sind mit dem Herzen beteiligt“, sagt damals Maria Loley. Die Integration wurde auch durch eigene Koch- oder Musikfeste gestärkt, immer in enger Zusammenarbeit mit der örtlichen Pfarre und der Stadtgemeinde.

Flüchtlinge brechen homogene Bevölkerung

Innerhalb nur eines Jahres stieg der Anteil der bosnischen Bevölkerung in Poysdorf auf 17 Prozent. Keine einfache Situation, wie Rieder erzählt, immerhin lag die Region bis wenige Jahre zuvor noch an der toten Grenze, dem Eisernen Vorhang. „Das war eine sehr homogene Bevölkerung, da war schon ein Deutscher ein Ausländer.“ Deshalb gab es auch einzelne kritische Stimmen.

Generell seien die Bosnier aber „gut“ aufgenommen worden. Von den älteren Einwohnern seien sie „als in der Monarchie Kaisertreue“ positiv angesehen worden, der Jugend „war es wurscht“. Gleichzeitig hätten sich auch die Bosnier „bereitwillig integriert“, betont Rieder. Sie gingen unter anderem in die örtlichen Wirtshäuser und zogen sich nicht zurück. Vor allem über den Sport sei viel gelungen.

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Der Wiener Bürgermeister Michael Häupl (r.) überreichte Maria Loley im Wiener Rathaus das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich

„Es hat nie eine Ghettoisierung stattgefunden“, sagt Rieder, der sich „von den vielen hunderten Flüchtlingen nur an zwei erinnert, wo man sagen kann, da hat es Brösel gegeben“. Die Akutphase habe etwa ein Dreivierteljahr gedauert, schätzt Rieder, danach konnten sich die Betroffenen auch immer öfter selbst helfen.

Weltweite Auszeichnung

1994 zeichnete die UNO das Projekt „Flüchtlingshilfe Poysdorf“ aus. Die Begründung: Ein Team von 50 ehrenamtlichen Helfern schaffte es, in der Gemeinde mit 5.500 Einwohnern 145 Flüchtlingsfamilien (insgesamt 580 Personen aus den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawiens, aber auch Türken, Ägypter und Chinesen) zu integrieren und auch die Bevölkerung zu tatkräftiger Mithilfe zu ermutigen.

1994: UNO zeichnet „Flüchtlingshilfe Poysdorf“ aus

Für diese „beispielhafte Leistung“ wurde dem Projekt der mit 100.000 Schilling dotierte UNHCR-Preis zugesprochen, der 1994 erstmals zur Vergabe gelangte. Damit sollten vor allem Vorurteile gegenüber Flüchtlingen abgebaut werden, erzählt Loley: „Es ist feststellbar, dass es durch diese Auszeichnung ‚in‘ geworden ist, für Flüchtlinge zu sein.“ Zugleich sollte mit dem Geld der Fortbestand der Initiative gesichert werden.

Verein will „Menschen in Not beistehen“

Um der großzügigen Unterstützung eine Struktur zu geben und Loley zu entlasten, wurde 1995 der Verein „Bewegung Mitmensch“ gegründet. Das Ziel: Menschen in Not beizustehen – ungeachtet ihrer Herkunft, Religion und Staatsbürgerschaft. Loley wurde im selben Jahr mit dem Bruno-Kreisky-Anerkennungspreis für Menschenrechte ausgezeichnet und vom ORF-Landesstudio Niederösterreich zur „Frau des Jahres 1994“ gewählt.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Vormittag“, 5.9.2022

Während ihr Engagement für die „Flüchtlingshilfe Poysdorf“ über die Grenzen gewürdigt wurde, kam es im Ort aber immer wieder auch zu Anfeindungen. Kritische Worte, wie „Kümmern Sie sich lieber um die Österreicher“ und „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ gab es schon damals. „Traurig machen sie mich, weil es lauter Todpunkte sind. Das sind kranke Punkte in unserer Gesellschaft, wo das Leben abgewürgt wird“, meinte Loley.

Attentat als Tiefpunkt

Die Anfeindungen gegen ihre Person erlebten im Oktober 1995 einen Tiefpunkt. Am 16. Oktober wurde Loley Opfer des Briefbombenattentäters Franz Fuchs. Loley, die im Postamt Poysdorf Briefsendungen aus ihrem privaten Postfach abgeholt und an einem Schalter mit dem Öffnen begonnen hatte, erlitt durch die Explosion der Briefbombe Verletzungen im Gesicht und an den Händen.

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In Niederšsterreich sind heute am spŠten Vormittag nach Angaben der Wiener Sicherheitsdirektion zwei Briefbomben explodiert. Die Detonationen ereigneten sich in einer Arztpraxis in Stronsdorf bzw. auf dem Postamt Poysdorf. Bei den beiden Opfern handelt es sich um den persischen Arzt Abourouhie Mahmoud in Stronsdorf und um die Leiterin der lokalen FlŸchtlingshilfe Maria Loley in Poysdorf. UBZ.  Sicherheitsbeamte beim Absichern des Tatortes in Poysdorf, dem PostgebŠude
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Sicherheitsbeamte beim Absichern des Tatortes in Poysdorf, dem Postgebäude

Sie wurde in das Krankenhaus Mistelbach eingeliefert und mehrere Stunden operiert, zwei Glieder ihres linken Zeigefingers mussten amputiert werden. „Es ist sinnlos, mit Gewalt gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft vorzugehen. Auch mit Gewalt in Worten. Letztlich bringt jede Gewaltanwendung den Täter selbst um. Ich verzeihe dem Täter und bete für ihn“, erklärte Loley noch während ihres Krankenhausaufenthaltes.

Ein Motivationsschub für alle

Zehn Tage später wurde sie aus dem Spital entlassen. Sie werde auch unter dem Eindruck des schrecklichen Attentats „keine Veränderungen“ in ihrem Leben vornehmen und ihren Einsatz für die Flüchtlingshilfe in Poysdorf unvermindert fortsetzen, sagte die schon vor dem Anschlag bekannteste Flüchtlingshelferin Österreichs. Die damals 71-Jährige wiederholte ihre Überzeugung, dass „Hass auf keinen Fall mit Hass vergolten werden darf“.

1995: Das erste Interview von Maria Loley nach dem Attentat

Loley hatte in dieser Zeit viele neue Mitstreiter gefunden, erinnert sich Rieder. Denn der überwiegende Teil der Bevölkerung sei erschüttert und schwer betroffen gewesen. „Das war auch ein Schub nach vorne in der Hilfe, weil viele, denen die Hilfe bis dahin gleichgültig war, motiviert waren etwas zu tun.“ Nach dem Motto: „Jetzt engagieren wir uns erst recht.“

„Ich verzeihe dem Täter“

Jahre nach dem Anschlag meinte sie in einem Interview, dass ihr der Zeigefinger, den sie damals verloren hatte, manchmal abgehe, dem Attentäter habe sie aber verziehen: „Jesus sagt sinngemäß, dass keiner sein Jünger sein kann, der nicht von Herzen seinem Bruder verzeiht.“ Attentäter Franz Fuchs wurde 1999 in Graz wegen mehrerer Brief- und Rohrbombenattentate zu lebenslanger Haft verurteilt.

– BILD ZU APA TEXT II VON HEUTE -
Gestern, Freitag abend, fand im Poysdorf eine Fackelzug fŸr Toleranz und Dialog statt. Der Anla§ dieses Fackelzuges war die bislang letzte Briefbombenserie bei der die Poysdorfer FlŸchtlingshelferin Maria LOLEY (m) an beiden HŠnden schwer verletzt wurde
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Wegen des Bombenattentats auf Maria Loley (Mitte) fand 1995 in Poysdorf ein Fackelzug für Toleranz und Dialog statt

Die Flüchtlingshelferin erhielt für ihr Engagement in den Folgejahren zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen wie „Frau des Jahres“ des Fernsehsenders ARD, das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich, den Stephanusorden in Gold der Erzdiözese Wien und den Liese-Prokop-Frauenpreis des Landes Niederösterreich. Maria Loley starb am 4. Februar 2016 im Alter von 91 Jahren.

Zweite Heimat für tausende Menschen

Von den etwa 90.000 Menschen, die von 1992 bis 1995 vor der Gewalt und dem Krieg auf dem Balkan nach Österreich geflohen waren, fanden etwa 60.000 hier eine zweite Heimat. Dies ist ein weitaus größerer Anteil als unter jenen Flüchtenden, die etwa infolge der Besetzung Ungarns durch Staaten des Warschauer Pakts (1956) oder nach dem Prager Frühling (1968) langfristig in Österreich blieben. Viele der damaligen Flüchtlinge blieben bis heute.

Auch in Poysdorf, wo etwa ein Fünftel der damaligen Flüchtlinge bis heute lebt. Die Kinder sind mittlerweile erwachsen und haben eigene Familien. Und Poysdorf ist längst zur neuen Heimat geworden, sagt Rieder stolz: „Heute sind sie in jeder Hinsicht ein Teil der Bevölkerung, bei Arbeit aber auch in der Freizeit.“