Es ging um Mythen, Symbole und vor allem um Traditionen. Diese Schau in Neuhofen an der Ybbs (Bezirk Amstetten) und St. Pölten war aber mehr als eine gewöhnliche Landesausstellung: Als Länderausstellung ging sie der Bedeutung des Namens „Österreich“ in Vergangenheit und Gegenwart nach.
Im Mittelpunkt stand eine Urkunde aus dem Jahr 996, die Österreich 1.000 Jahre später in Feierlaune versetzen sollte. In diesem Schriftstück, das am 1. November 996 im heutigen Baden-Württemberg ausgestellt wurde, tauchte erstmals der Name „Ostarrichi“ auf. Kaiser Otto III. schenkte darin dem Bistum Freising in Bayern einen Hof und etwa 1.000 Hektar Land bei Neuhofen an der Ybbs.
Das Bistum Freising hatte in der Gegend bereits seit 995 Besitz – im benachbarten Ulmerfeld – und baute ihn in der Folge weiter aus: Waidhofen an der Ybbs, Hollenstein, Randegg und Göstling kamen hinzu und bildeten mit Neuhofen und Ulmerfeld einen Herrschaftskomplex, den das bayerische Hochstift bis 1803 halten konnte.
„Kein besonders bedeutsames Ereignis“
Eigentlich „kein besonders bedeutsames Ereignis“, weiß der wissenschaftliche Leiter im Haus der Geschichte Niederösterreich, Christian Rapp. Auch weil der Umstand, dass „landfremde“ Bistümer und Stifte in Niederösterreich begütert waren, keine Besonderheit darstellte, sondern vielmehr ein Ergebnis der engen historischen Bindungen zu Bayern gewesen sei.
Was diese Schenkung, die heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München aufbewahrt wird, aber so interessant macht, ist eine Stelle in der zweiten Zeile der Urkunde. Hier steht nämlich, dass das Gebiet „in regione vulgari vocabulo Ostarrîchi dicitur“ – also „in einer Gegend, die in der Volkssprache Ostarrîchi genannt wird“ – lag. „Es handelt sich somit um die erste Nennung des Namens Österreich“, betont Rapp.
Die Wiege Österreichs
Aus dem in der Urkunde erwähnten „Ostarrichi“ entwickelte sich im Lauf der Zeit das heutige „Österreich“. Dies trug Neuhofen an der Ybbs den Namen „Ostarrichi-Gemeinde“ und dem Bezirk das Prädikat „Wiege Österreichs“ ein. Für die Landesausstellung 1996 wurde die ehemalige Gedenkstätte an der Moststraße etwa in den Ostarrichi-Kulturhof umgebaut.
„Aber aus so etwas eine Geburtsurkunde für einen Staat zu machen, wäre wirklich kühn, so viel gibt die Urkunde nicht her“, betont Historiker Rapp. Denn die konkrete Formulierung der Stelle „in einer Gegend, die in der Volkssprache Ostarrîchi genannt wird“, lässt laut dem Historiker darauf schließen, dass dieses Gebiet „dort schon so bezeichnet wurde“ bzw. „dieser Begriff schon gebräuchlich war“.
Meldezettel statt Taufschein
Insofern sei die Urkunde keineswegs ein „Tauf- oder Geburtsakt“, sondern vielmehr eine Art Meldezettel – und zwar der älteste, der bisher gefunden wurde. Seit wann der Name tatsächlich existiere, sei allerdings nicht wirklich seriös zu beantworten – auch weil die Ostarrichi-Urkunde als Zufall der historischen Quellenüberlieferung zu werten sei, sagt Rapp: „Es ist jedenfalls keine Staatsgründung damit verbunden.“
Allerdings belegt diese Urkunde tatsächlich, dass der Name des Staates und damit auch jener des Bundeslandes offensichtlich in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts für den Herrschaftsbereich der Babenberger Markgrafen gebräuchlich wurde. Er bedeutet schlicht „(Herrschafts-)Gebiet im Osten“ und entspricht den in den Quellen schon bedeutend früher vorkommenden lateinischen Bezeichnungen.
Im Übrigen ist der „belastete“ deutsche Name „Ostmark“ unhistorisch. Er kommt in mittelalterlichen Quellen gar nicht vor. Interessant ist allerdings, dass das Aufkommen des Namens Österreich die schrittweise Landwerdung Österreichs, also der späteren Länder ob und unter der Enns, einleitete. In der Erhebung zum eigenen Herzogtum 1156 fand diese Entwicklung einen ersten Höhepunkt.
Urkunde begründete Identität
Über Jahrhunderte spielt die Ostarrichi-Urkunde jedenfalls überhaupt keine Rolle, auch weil – mittlerweile weitgehend ausgeräumte – Zweifel an ihrer Echtheit bestanden. An Bedeutung gewann sie erst 1946 – also im Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als man einen Anlass suchte, die eben neuentstandene Republik auch geistig zu kräftigen und zu legitimieren.
„Damals wurde erstmals diese Urkunde zelebriert“, schildert Rapp, vor allem aus „hochpolitischen Gründen“: Denn bis 1945 bzw. bis zum Ende der NS-Zeit war die österreichische Geschichte immer in hohem Ausmaß deutsche Geschichte. „Und das änderte sich eben nach 1945, indem man sagte, die österreichische Geschichte sei eigenständig, man bekenne sich jetzt zu diesem Kleinstaat, der aus dieser kleinen Mark hervorgegangen ist.“
Inszenierte 950-Jahr-Feier Österreichs
In Neuhofen an der Ybbs wurde aus diesem Anlass "eine fast an den Haaren herbeigezogene 950-Jahr-Feier Österreichs in Szene gesetzt“, erklärt Stefan Eminger, Leiter des Referats Zeitgeschichte im Landesarchiv. Ziel war es, rund um diese Erzählung eine österreichische Identität zu bilden, „die es bis dahin nicht gegeben hat“.
Landeshauptmann Josef Reither (ÖVP) betonte in seiner Rede im Namen der Bevölkerung Niederösterreichs außerdem das Gelöbnis unwandelbarer Treue zu Österreich und den Willen zum Wiederaufbau. Der Höhepunkt war die Enthüllung eines Gedenksteins am Kirchenplatz, der an die mittelalterliche Urkunde aus dem Jahr 996 erinnern sollte.
Eminger spricht zwar von einem „konstruierten Bewusstsein rund um diesen Kernlandmythos“, den es aus seiner Sicht aber für einen Neustart gebraucht habe. Das ganze Land wurde deshalb 1946 mit Festveranstaltungen überzogen, die laut Eminger vor allem von Schulen, Bezirkshauptmannschaften und der ÖVP getragen wurden, während die Sozialdemokraten und die ehemaligen Nationalsozialisten zurückhaltend waren.
Deutschunterricht gestrichen
Die strikte Abgrenzung zu Deutschland ging zunächst so weit, dass es während der Amtszeit von Unterrichtsminister Felix Hurdes (ÖVP) auch keinen Deutschunterricht gab, das Fach hieß stattdessen Unterrichtssprache – auch im Zeugnis. Doch durch den gemeinsamen und von Reither angekündigten Wiederaufbau wurde „auch der Glaube an die Lebensfähigkeit Österreichs bzw. die Identität mit dem Staat gefestigt“, betont Eminger.
1996 sollte dieses mittlerweile gefestigte Bewusstsein bzw. diese neue Identität Österreichs nochmals in Erinnerung gerufen und groß gefeiert werden. Zum einen wurde damit auch die Rolle Niederösterreichs „als sogenanntes Kernland Österreichs bestärkt“, meint Rapp, „aber vor allem auch der Stolz auf die Zweite Republik, sicherlich mehr als die 1.000 Jahre Österreich“.
Laut Rapp gibt es aber auch eine weltpolitische Komponente. Die 1990er-Jahre seien durch das Ende der Sowjetunion und den EU-Beitritt einerseits eine Phase der Euphorie gewesen, andererseits aber auch eine Zeit der Sorgen und Krisen, Stichwort Jugoslawienkrieg. „Dort hat man gesehen, welche Dimension Nationalismus erreichen kann“, sagt Rapp. Insofern sei das Jubiläum auch als Zeichen zu werten, „wir haben unsere Nationsbildung eigentlich gut geschafft“.
Mythen, Symbole und Traditionen
Die Landesausstellung war jedenfalls stark auf die eigenen Mythen, Symbole und Traditionen fokussiert. Was zeichnet Österreich aus – etwa mit den Gegensätzen „Glaubensvielfalt bzw. -einheit, Revolution und Absolutismus, Niederlagen und Reformen, untertänig aber doch sehr emanzipiert“, erinnert sich Rapp: „Manchmal mit einem Augenzwinkern und leicht ironisch, aber man hat es schon sehr ernst genommen.“
Einblicke in die Länderausstellung zu 1.000 Jahre Österreich
Anhand der drei Themenkreise Menschen, Mythen und Meilensteine machten sich die Besucherinnen und Besucher auf eine „Reise in die Vergangenheit“. In Neuhofen wurde der Geschichte des Namens „Österreich“ nachgespürt. Im Kulturhof war das Original der Urkunde zu sehen, ein thematischer Schwerpunkt war der Entstehung und Entwicklung der Bundesländer gewidmet.
„Herr Karl“, „Sisi“ und Wiener Schnitzel
In der Landeshauptstadt St. Pölten verfolgte die Landesausstellung Überlegungen zu Symbolen, Klischees, Selbst- und Fremdbildern – eben „Mythen“, die mit dem Entstehen Österreichs verbunden sind. In einer „Straße der Symbole“ wurden die Besucherinnen und Besucher mit Kaiserkrone und Mozartkugel, mit dem „Herrn Karl“, „Sisi“ und dem Wiener Schnitzel konfrontiert.
Auch jene Herrscher und „Helden“, die Österreichs Geschichte und Gegenwart bestimmten und prägten, waren zu sehen – von Kaiser Franz Joseph bis Annemarie Moser-Pröll, von Bertha von Suttner bis Herbert von Karajan. Dieser Teil der Länderausstellung wurde in der neuen Sonderausstellungshalle gezeigt. Es war der erste fertiggestellte Bau im neuen Regierungsviertel der Landeshauptstadt.
„Einem Ort, der einmal zum Kulturbezirk und Bestandteil des ganzen Landhausviertels werden soll“, sagt Rapp. Denn in den folgenden Jahren entstand hier nicht nur der gesamte Komplex, der die Landespolitik beherbergen sollte, sondern direkt angeschlossen das Festspielhaus, eine Ausstellungshalle sowie das Landesmuseum und ORF-Funkhaus. „Die Ausstellung hat den Standort bekannt gemacht.“
Eine historische Schicksalsgemeinschaft
Zugleich trugen die Jubiläen rund um die Urkunde auch zur Stärkung des Landesbewusstseins bei. Bundespräsident Thomas Klestil führte deshalb mit Blick auf die Länderausstellung aus: „Eine ‚Nation‘ bestätigt sich nicht allein durch das Hissen von Fahnen oder durch das Abspielen von Hymnen – ‚Nation‘ ist vielmehr ein Lebensgefühl der Übereinstimmung, das aus dem Bewusstsein der historischen Schicksalsgemeinschaft erwächst.“
Tausende Menschen feiern 1995 in Neuhofen an der Ybbs das Jubiläum
Die damalige Landesausstellung blickte laut dem Historiker zwar nicht nur auf die Vergangenheit zurück, sei aber vor allem eine reine Bestandsaufnahme gewesen: „Es war damals noch eine klassische Gelehrten-Ausstellung, in der Professorinnen und Professoren präsentiert haben, was uns, was Österreich ausmacht, also ein sehr starker Top-down-Charakter.“
Sendungshinweis
„Radio NÖ am Nachmittag“, 19.9.2022
Kritischer, differenzierter, partizipativer
Heute wäre der Ansatz „wesentlich kritischer, differenzierter, partizipativer“, ist Rapp überzeugt. Statt einer rein erklärenden Rolle hätte solch eine Schau eher eine fragende, etwa was denn eine Österreich-Identität ausmacht. „Daran erkennt man, dass sich auch Ausstellungen in ihrer Rolle als Vermittlungsmedien von Geschichte und Identität verändert haben.“
Überhaupt glaubt der Experte, dass man die Nationalgeschichte heute so gar nicht mehr erzählen sollte. Denn damals wurde vor allem die österreichische Bevölkerung im engeren Sinn umfasst, während man heute „berücksichtigen muss, dass inzwischen viele Leute aus dem Osten, der Türkei oder der EU Teil unserer Gesellschaft sind, dessen Geschichte unbedingt auch erzählt werden muss“. Was halten sie, aber auch Jugendliche oder Randgruppen von Österreich?