„Es war wirklich eine Heidenarbeit“, erinnert sich Lothar Lockl. „Es gibt in Niederösterreich so große Flächen, so viele Felder.“ Gemeinsam mit seinen Mitstreitern habe er damals sehr aufwendig recherchiert, um festzustellen: „Welches Feld ist es exakt? Das musste natürlich stimmen. Wo genau wurden die Kartoffeln ausgesetzt?“
Heute ist Lockl Unternehmensberater und Vorsitzender des ORF-Stiftungsrats. Damals war er Sprecher der Umweltschutzorganisation Global 2000. Mit dabei im Kampf gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel: Ulli Sima, mittlerweile langjährige Stadträtin in Wien (SPÖ). Zusammen mit ihrem Team deckten die beiden einen Skandal auf, der die österreichische Gentechnik-Politik auf Jahrzehnte hinaus prägen sollte.
„Stille Akzeptanz“ bis Mitte der 90er
Bis dahin war die Technologie in Österreich kaum in Erscheinung getreten, obwohl damals bereits seit vielen Jahren daran geforscht worden war. Diese Phase nennt der Sozialwissenschaftler Franz Seifert jene der „stillen Akzeptanz“. Ohne großes Aufsehen in der Öffentlichkeit sei die Gentechnik in Österreich gefördert worden – nicht zuletzt, da diese bereits in anderen Ländern mit einem gewissen Erfolg eingesetzt worden war. So waren in den USA bereits Sorten ausgesetzt worden, die resistenter gegen Schädlinge und Witterungsbedingungen waren und dadurch höhere Erträge brachten. Auch in Europa kam die Technologie nach und nach an, nicht zuletzt in Deutschland.
In Österreich wollte man den Vorsprung anderer Länder aufholen – wenn auch laut Seifert wenig koordiniert, ohne ausreichend finanzielle Mittel und mit einer unklar formulierten Rechtslage. 1995 trat eine erste Fassung des Gentechnikgesetzes in Kraft, das sich weitgehend an der europäischen Rechtslage orientierte; immerhin war Österreich ab diesem Zeitpunkt an die EU-weiten Verordnungen und Richtlinien gebunden. Ein Totalverbot wäre jedenfalls EU-rechtswidrig gewesen.
Gleichzeitig war man sich bewusst, dass die neue Technologie potenziell negative Folgen haben und auch auf massive Widerstände in der Bevölkerung stoßen könnte – so viel hatte man aus den Causen rund um das AKW Zwentendorf (Bezirk Tulln) und das Donaukraftwerk Hainburg (Bezirk Bruck an der Leitha) gelernt. Das neue Gentechnikgesetz sah deshalb Freisetzungsprojekte nach vorheriger behördlicher Risikoabschätzung vor. Ohne Genehmigung war der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Österreich verboten.
Kritik an möglichen Risiken durch Freisetzung
Global 2000 trat von Anfang an als einer der lautesten Gegner der Gentechnik auf, zumindest jener in der Landwirtschaft. Gegen jene in der Medizin gab es deutlich weniger Widerstand. Bei landwirtschaftlichen Freisetzungsprojekten aber „hatten wir die große Sorge, dass so in die Natur eingegriffen wird, dass Mutationen und Risiken entstehen, die wir nie wieder einfangen können“, erklärt der damalige Aktivist Lockl gegenüber noe.ORF.at.
Im Hintergrund sei es auch immer um die Frage gegangen, „wie Lebensmittel in Österreich produziert werden sollen“, meint er: „Gehen wir eher auf Qualität, schauen wir, dass wir negative Umweltauswirkungen reduzieren und gesunde und vielleicht biologische Lebensmittel haben? Oder versucht man sich sozusagen mit gentechnisch manipulierten Lebensmitteln d’rüberzuschummeln, wenn der Boden verschmutzt oder mit Schädlingen befallen ist?“
Österreichische Pionierarbeit in Seibersdorf
Viele Forscher, Unternehmer und Politiker waren jedoch von den Vorteilen der Technologie überzeugt. Vier Freisetzungsanträge gab es ab 1995. Beim ersten handelte es sich um ein staatlich finanziertes Forschungsprojekt in Seibersdorf (Bezirk Baden), das fäulnisresistente Kartoffeln untersuchen sollte. „Kommerziell sind die Pflanzen für Österreich uninteressant, da die betreffende Art der Fäule hier kaum Auswirkungen hat“, schrieb kurz darauf Helge Torgersen von der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Bei dem Vorhaben sei es um andere Ziele gegangen.
Projektleiter in Seibersdorf war damals Josef Schmidt. Er hatte bereits in den Jahren vor dem Gentechnik-Anlauf mit heimischen Kartoffeln gearbeitet und deren Viruserkrankungen bekämpft – ohne die Gentechnik-Methode. Während dieser Zeit hatte er internationale Kontakte geknüpft, die ihn für erste Gentechnik-Projekte in Österreich prädestinierten. „Aufgrund unserer Kenntnisse der Zellkulturen und Vermehrungstechnologien bei der Kartoffel war es für uns kein Problem, transgene Pflanzen herzustellen“, erzählt Schmidt im Gespräch mit noe.ORF.at. „Wir haben bis dahin aber nicht daran gedacht.“
Das Gesundheitsministerium sei an ihn herangetreten: „Damals kam die Idee auf, bevor Österreich überrannt wird, machen wir ein grundlegendes analytisches Projekt, um zu analysieren, wo Gefahren liegen könnten.“ Der Staat wollte damit kommerziellen Freisetzungsanträgen zuvorkommen. „Sie wollten wissen, wie sie damit umgehen sollen“, erklärt Schmidt, „und sie haben uns als ausgelagerte Dienststelle des späteren AIT (Austrian Institute of Technology) dazu benutzt.“ Für den damaligen Projektleiter sei es „ein reines Geschäft für meine damaligen Studenten“ gewesen.
Tullner Forscher mit erstem kommerziellen Projekt
Während dieser Antrag noch lief, wurde tatsächlich das erste kommerzielle Projekt eingereicht: jenes der Zuckerforschung Tulln, einer Tochter des Agrana-Konzerns im Raiffeisen-Sektor. Um Lebensmittel ging es dabei nicht, vielmehr wollte man die Stärkeproduktion für Industriekunden verbessern. „Sicherheitsbedenken gab es kaum, und der Antrag wurde wesentlich weniger beeinsprucht als der erste“, schrieb damals Torgersen. „Eine Genehmigung schien nur eine Frage der Zeit, zumal gleichartige Pflanzen bereits anderswo freigesetzt worden waren.“
Schmidt beurteilt das ähnlich: „Es war klar, dass das Ministerium diesen Praxisversuch auch genehmigen würde.“ Bei transgenen Kartoffeln sei die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung immerhin gering gewesen, da diese sich über Pollen kaum ausbreiten könnten und im Notfall leicht zu vernichten gewesen wären, ist der mittlerweile pensionierte Forscher überzeugt.
Doch das Genehmigungsverfahren verzögerte sich – und die Tullner Forscher begingen einen folgenschweren Fehler. Da sich das Zeitfenster für den Projektbeginn im Mai 1996 zu schließen begann und sie positive Signale aus dem Ministerium erhielten, begannen sie auch ohne positiven Bescheid kurzerhand mit der Freisetzung.
Skandal um illegalen Feld-Versuch
„Es gab damals Geheimniskrämerei und überhaupt keine Transparenz“, erinnert sich der damalige Global-2000-Aktivist Lothar Lockl an ebenjene Tage. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern bekam er den entscheidenden Hinweis und fand so tatsächlich das Feld mit den illegalen Kartoffeln.
Die Folge war ein enormer medialer Aufschrei, der den Fokus breiter Bevölkerungsschichten plötzlich und unerwartet auf dieses Thema lenkte. Damit war genau das eingetreten, was die Regierung und auch die Forscherinnen und Forscher gefürchtet hatten. Immer mehr Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft schlossen sich dem Lager der Anti-Gentechnik-Aktivisten an.
Die Agrana als Muttergesellschaft entschuldigte sich wenige Tage später für den Fehler und kündigte personelle Konsequenzen an. Sie habe von dem Schritt keine Kenntnis gehabt. Das „Nichtabwarten des Bescheids“ habe „der wichtigen Technologie der Gentechnik einen schlechten Dienst erwiesen“, hieß es damals gegenüber der APA. Die ausgesetzten Kartoffeln wurden allesamt wieder ausgegraben.
Drei Tage entscheiden über Jahrzehnte
Dabei sei das alles nur eine Sache von drei Tagen gewesen, meint Schmidt. Von einem hochrangigen Ministerialbeamten habe er später erfahren, dass die Genehmigung für den Montag nach dem Skandal am Freitag angepeilt worden war. Doch für den Ruf der Gentechnik in Österreich war es zu spät: Die anderen beiden Freisetzungsanträge jeweils zu genveränderten Maissorten hatten keine Aussicht auf Erfolg mehr. Bei einem weiteren Projekt, das resistentere Marillen für die österreichischen Obstbauern vorsah, kam es nicht einmal bis zur Phase des Antrags.
Die Anti-Gentechnik-Bewegung gewann in Folge immer mehr an Momentum, gestützt nicht zuletzt auf eine Kampagne der „Kronen Zeitung“, die sich früh klar positioniert hatte. Kurze Zeit nach den fehlgeschlagenen Freisetzungsversuchen kamen erste Forderungen nach einem Volksbegehren auf.
„Bei Global 2000 wollten wir das auf breite Beine stellen, wir wollten nicht nur den Umweltschutzaspekt thematisieren“, erinnert sich Lockl. In der Folge sei das Volksbegehren von vier großen Gruppen getragen worden: Umweltschutz- und Tierschutzorganisationen sowie Biobauern und nicht zuletzt von der Kirche. „Denen war wichtig, dass Leben nicht patentiert wird“, meint der damalige Global-2000-Pressesprecher.
Zweiterfolgreichstes Volksbegehren der Geschichte
Mit Erfolg: Das Volksbegehren im April 1997 war mit 1,2 Millionen Unterschriften jenes mit den zweitmeisten Unterstützern in der österreichischen Geschichte. Alleine in Niederösterreich unterzeichneten es 261.743 Menschen – und damit immerhin gut 23 Prozent der wahlberechtigten Gesamtbevölkerung. Die drei Forderungen: keine gentechnisch veränderte Lebensmittel in Österreich, keine Freisetzung genmanipulierter Lebewesen und kein Patent auf Leben.
„Für die damaligen Entscheidungsträger und -trägerinnen war es ein Schock“, erinnert sich Lockl. Zwar habe es bei manchen Politikern die Bereitschaft für Maßnahmen im Sinne des Volksbegehrens gegeben, „aber manche hatten keine große Freude damit und hätten es am liebsten in einem Parlamentsausschuss begraben“.
Doch es sei anders gekommen: „Plötzlich kam der Druck der Wirtschaft. Handelskonzerne, Lebensmittelproduzenten und bäuerliche Organisationen haben zum Teil nicht auf gesetzliche Maßnahmen gewartet, sondern freiwillig auf den Einsatz von Gentechnik verzichtet bzw. gentechnikfreie Lebensmittel gekennzeichnet.“ Der erbrachte Beweis, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Technologie offen ablehnte, sei den kundenorientierten Firmen genug gewesen.
Konfrontationskurs mit Brüssel
Der Handelsspielraum der Regierung für eine entsprechende Gesetzeslage war trotzdem gering, immerhin wollte man sich dafür nicht in einen offenen Konflikt mit dem EU-Regelwerk begeben. Deshalb wurden in einem ersten Schritt vor allem die Strafen bei illegalen Freisetzungen erhöht. Von einem Totalverbot wurde hingegen abgesehen. Der heikelste Punkt war folglich ein Importverbot für gentechnisch veränderte Sorten, die in der EU zugelassen waren. Hier begab sich Österreich EU-rechtlich bereits auf dünnes Eis.
Eine glückliche Wende ersparte dem jungen EU-Mitgliedsland weitere juristische Probleme. Anfang der 2000er-Jahre schwenkte die Union auf Druck mehrerer Staaten plötzlich auf einen weitaus gentechnikskeptischeren Kurs um. Neue Sorten wurden nun nicht mehr zugelassen; Österreich befand sich damit nicht mehr in einer extremen Außenseiterposition und hatte weniger zu befürchten.
Zu einem offenen Konflikt mit Österreich kam es etwas später dennoch, als Oberösterreich sich via Landesgesetz zur „gentechnikfreien Zone“ erklärte. Das wiederum beanstandete die EU-Kommission, der Europäische Gerichtshof erklärte das gesetzliche Totalverbot für europarechtswidrig. Die maximale Erschwernis eines theoretisch möglichen Zulassungsverfahrens auf Länderebene wurde jedoch von Brüssel akzeptiert. In Niederösterreich ist ein derartiges Gentechnikvorsorgegesetz seit 2005 in Kraft.
Radlbrunn als Zentrum der Gentechnikgegner
Weniger problematisch war eine „Österreichische Charta für Gentechnikfreiheit“, die unter anderem eine klare Kennzeichnung und bestimmte Haftungsregeln forderte. Niederösterreich war 2004 das erste Bundesland, das bei dem Projekt des damaligen Umweltministers Josef Pröll (ÖVP) mitzog. In seinem Heimatort Radlbrunn (Bezirk Hollabrunn) unterzeichnete Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) die Charta, die von seinem Neffen initiiert worden war.
Medial mit der Technologie in Verbindung gebracht werden will in Österreich heute praktisch niemand. Auf Anfrage teilt die Muttergesellschaft des ehemaligen Gentechnik-Förderers Pioneer mit, dass man sich immer an alle Gesetze halte – „somit gibt es unsererseits auch keinerlei Geschäftsaktivitäten in diesem Bereich“.
Sendungshinweis
„Radio NÖ am Nachmittag“, 23.9.2022
Auch die Agrana hat mit Gentechnik nichts mehr zu tun. Versuche wie in den 1990ern seien schon lange kein Thema mehr, heißt es in einer Stellungnahme. „Im Stärkebereich ist unser Portfolio geprägt von GVO-freien, Clean-Label- und Bioprodukten. Bei unserer Traditions-Marke Wiener Zucker bescheinigt das Qualitätssiegel ‚Ohne Gentechnik hergestellt‘, dass die Gentechnik-Freiheit entlang der kompletten Wertschöpfungskette gewährleistet ist. Auch aus den Nebenprodukten unserer Stärke- und Zuckerherstellung erzeugen wir gentechnikfreie Dünge- und Futtermittel.“
Erfolg mit Schattenseiten
Ganz gentechnikfrei ist Österreich trotz aller Anstrengungen nicht, nicht einmal im Bereich der Lebensmittel. Der Anbau gentechnisch veränderter Sorten ist zwar untersagt, der Import bestimmter Produkte aber nicht. Klassisches Beispiel sind ausländische Futtermittel für Tiere. Gekennzeichnet werden müssen Lebensmittel lediglich ab einem gewissen Gentechnikanteil, bei tierischen Produkten muss das Futtermittel gar nicht ausgewiesen werden.
Heute, 25 Jahre nach dem Volksbegehren, ist Lothar Lockl nach wie vor von der Sinnhaftigkeit seines damaligen Kampfes überzeugt. Denn die langfristigen Erfolge würden sich auch bei generellen Mitsprachemöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zeigen. „Es sind im Nachhinein sehr viele Rechte ausgebaut worden. Wir haben heute einen ganz anderen Transparenzmaßstab. Manche sagen, es gibt schon zu viel Mitspracherecht. Damals, Ende der 1990er-Jahre, war das aber jedenfalls richtig.“