APAOZE08 – 24082006 – NIEDEROESTERREICH – OESTERREICH – ZU APA TEXT CI: Kriminaldienstreferent Adolf Brenner waehrend eines Interviews im Fall Kampusch vor dem Haus von Wolfgang P. am 24. August 2006 in Strasshof in Niederoesterreich. APA-FOTO: HERBERT P. OCZERET
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„100 Jahre NÖ“

Die Welt blickt auf Strasshof und Kampusch

Im August 2006 taucht in Strasshof an der Nordbahn (Bezirk Gänserndorf) eine 18-Jährige auf. Es ist Natascha Kampusch, die acht Jahre in einem Kellerverlies gefangen gehalten wurde. Die ganze Welt blickt in die Gemeinde, noch heute kommen Schaulustige.

23. August 2006: In einer Kleingartensiedlung in Strasshof läuft um die Mittagszeit eine junge Frau umher, wirkt verwirrt und verwahrlost – und behauptet, sie sei die acht Jahre zuvor verschwundene Natascha Kampusch. Das junge Mädchen vertraut sich einer Nachbarin an, sagt, ihr sei die Flucht aus einem Auto gelungen, und will wissen, wo die nächste Polizeistation sei.

„Wir waren alle überrascht, es hat kein Mensch etwas gewusst, weil man sie auch nie gesehen hat“, erzählt eine Nachbarin heute gegenüber noe.ORF.at. „Ich habe sie schon vorbeifahren gesehen, aber sie ist entspannt drinnen gesessen. Ich habe mir gedacht, jetzt hat er eine Freundin“, erinnert sich Christa Stefan, die ein paar Häuser weiter wohnte. „Ich dachte mir nur, die ist aber etwas jung für ihn.“

APAOZE06 – 24082006 – NIEDEROESTERREICH – OESTERREICH – ZU APA TEXT CI: In diesen Garten in der Blaselgasse 2 konnte sich Natascha Kampusch am Nachmittag des 23. August 2006 fluechten. Bild aufgenommen am 24. August 2006 in Strasshof in Niederoestereich. APA-FOTO: HERBERT P. OCZERET
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In diesen Garten konnte sich Natascha Kampusch am Nachmittag des 23. August 2006 flüchten

Die erste Einvernahme

Kampusch wurde daraufhin auf der Polizeiinspektion in Deutsch-Wagram (Bezirk Gänserndorf) einvernommen. Laut den Ermittlern habe das Mädchen sehr gebildet gewirkt und wusste auch über das Tagesgeschehen Bescheid. Gleichzeitig wurden frühere Kinderfotos von Kampusch mit einer Computersoftware älter gemacht und mit der jungen Frau abgeglichen.

Es folgte eine großangelegte Suche der Polizei nach dem Entführer. Augenzeugen berichteten von einem Auto, das mit hoher Geschwindigkeit durch das Marchfeld raste. Ein Nachbar dürfte Wolfgang Priklopil zuvor darauf angesprochen haben, dass die Polizei nach ihm suche. Während der Fahndung wurde für kurze Zeit auch die Wiener Südosttangente (A23) gesperrt, doch das Fahrzeug blieb zunächst verschwunden.

2006: ORF-NÖ-Redakteur Werner Fetz vor der Polizeiinspektion Deutsch-Wagram

In Wien wurde eine Wohnung gestürmt und Zimmer für Zimmer durchsucht, ebenso der Keller. Doch von der Zulassungsbesitzerin des Wagens fehlte jede Spur. Hunderte Beamte waren im Einsatz, auch an den Grenzübergängen. Die Leiche des Entführers wurde letztlich noch am selben Tag auf den Gleisen der Wiener S-Bahn gefunden.

Ein Ort in „Schockstarre“

Tagelang wurden daraufhin im Haus und im Verlies Spuren gesichert. Strasshof war erschüttert und nach den ersten Meldungen „in einer Art Schockstarre“, erinnert sich Senior-Bäcker Alfred Geier: „Es wurde alles abgesperrt, Hubschrauber sind über den Ort geflogen, weil man Wolfgang Priklopil gesucht hat. Alle Lokale waren, genauso wie unser Lokal, menschenleer.“

APAOZE04 – 23082006 – NIEDEROESTERREICH – OESTERREICH – ZU APA TEXT CI: Die Polizeiabsperrung der Strasse in der sich das Haus des mutmasslichen Entfuehrers befindet, am 23. August 2006 in Strasshof. APA-FOTO: HERBERT P. OCZERET
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Das Areal rund um das Haus, in dem Kampusch eingesperrt war, wurde von der Polizei weitläufig abgesperrt

Wenige Stunden später war es mit der Ruhe vorbei, ergänzt Geier. Noch am selben Abend standen rund um das betroffene Grundstück dutzende Übertragungswägen mit Reporterinnen und Reportern, weltweit wurde aus Strasshof berichtet. „Schlagartig waren dann Journalisten aus der ganzen Welt in Strasshof. Auf einmal waren wir für eine Woche der Mittelpunkt der Welt. Die Journalisten waren in allen Gasthäusern, die Leute dort sind interviewt worden.“

So erfuhr auch der heutige Bürgermeister – damals Vize – Ludwig Deltl (SPÖ), der im Ausland auf Urlaub weilte, von dem Fall: „Meine Tochter hat mich angerufen, ich habe dann den Fernseher aufgedreht, durchgezappt und auf ‚CNN‘ Strasshof gesehen.“ Auch er erinnert sich an die unzähligen Journalisten, die dann plötzlich in Strasshof auftauchten. „Für mich waren es die kommenden Tage, wo von unterschiedlichsten Medien viele Interviews angefragt worden sind.“

Flucht vor Hubschraubern

Vor allem die Anrainerinnen und Anrainer waren unmittelbar betroffen. „Die ganze Straße war abgesperrt, wir konnten gar nicht richtig hinein, mussten uns ausweisen, das war furchtbar“, erzählt eine Nachbarin im Gespräch mit noe.ORF.at. „Ich hatte Nachhilfekinder, die musste ich bei der anderen Tür in der anderen Gasse reinlassen und nach ein paar Tagen sind wir geflüchtet, weil die Hubschrauber fast das Dach abgetragen haben“, erinnert sich Christa Stefan.

2006: Strasshof ist erschüttert und „in einer Art Schockstarre“

Zudem seien die Journalisten sehr unterschiedlich aufgetreten. Manche seien „ungewollt in die Gärten hineingegangen und haben geschaut, wo sie noch ein Foto erhaschen können“, erzählt Deltl, „manche haben sehr aggressiv agiert, um zu ihren Informationen zu kommen.“ Er selbst habe deshalb oft den Hintereingang ins Gemeindeamt genommen, „um nicht permanent den Medien ausgesetzt zu sein. Das gehört zwar dazu, aber alles zu seiner Zeit.“

1998: Die Suche nach einem Mädchen

In der Zwischenzeit wurden immer mehr Details bekannt: Kampusch wurde acht Jahre zuvor am Schulweg in Wien-Donaustadt von Priklopil entführt. Laut Aussage einer damals zwölfjährigen Schulkameradin wurde Kampusch, als sie jenen am Straßenrand haltenden Kleintransporter passierte, von einem Mann durch die Seitentür in den Innenraum gezerrt. Eine weitere, für die junge Zeugin nicht zu erkennende Person, soll am Steuer des Wagens gesessen haben.

APAHPK043-23082006-WIEN-OESTERREICH : ZU APA 543 CI  – Fall Natascha Kampusch : Situationsaufnahme vom 23.August 2006 abends beim Donauzentrum , in dessen Parkgagare angeblich ein in den Fall involviertes Fahrzeug geparkt war.

HANS KLAUS TECHT
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Die Suche nach dem Mädchen wird zu einer der größten Polizeiaktionen des Landes

Die Suche nach dem Mädchen wurde zu einer der größten Polizeiaktionen des Landes. Die Beamten kontrollierten mehr als 1.000 Besitzer weißer Kleinbusse, unter anderem auch den tatsächlichen Entführer. Den Ermittlern gegenüber gab er an, das Fahrzeug für Bauarbeiten zu benötigen. Nachdem die Polizei bei der Untersuchung des Transporters Bauschutt gefunden hatte, wurde der damals unbescholtene Priklopil nicht für verdächtig erachtet.

Mitte Mai 1998 wies außerdem ein aus Strasshof stammender Polizeihundeführer beim Sicherheitsbüro Wien auf Priklopil als möglichen Täter hin. Ein Beamter ließ Einsicht in das Melderegister nehmen. Nachdem aber klar wurde, dass Priklopil bereits befragt und überprüft worden war, wurde die Spur nicht weiter verfolgt. Trotz aufwendiger Ermittlungen – verdächtige Personen aus dem Umfeld der Entführten wurden einem Lügendetektortest unterzogen – konnte der Fall über Jahre nicht aufgeklärt werden.

2006: Nikolaus Koch, Leiter der „SOKO Natascha", spricht über die erste Einvernahme und zu Vorwürfen

3.096 Tage ohne Freiheit

Kampusch wurde 3.096 Tage lang festgehalten. Laut Polizei war sie in einer Montagegrube unter der Garage versteckt. Die Grube war mit einer schalldichten Tresortür verschlossen und hatte keine Fenster. Ermittler berichteten später, der Eingang zu dem Versteck sei so gut getarnt gewesen, dass er wahrscheinlich auch bei einer Hausdurchsuchung nicht gefunden worden wäre.

Das erste halbe Jahr habe sie in dem Verlies verbracht, erzählte Kampusch später. Nach mehreren Jahren habe sie das Versteck für gelegentliche Einkäufe und Spaziergänge, einmal auch für einen Skiausflug verlassen dürfen. Beim Autoputzen gelang ihr schließlich in einem unbemerkten Moment die Flucht. In ihrem ersten, auch international viel beachteten Interview mit dem ORF sagte Kampusch: „Ich habe ihm in den Monaten davor auch schon gesagt: Ich kann so nicht mehr leben, ich werde sicherlich versuchen von dir zu fliehen.“

Im Ort sei der Fall „natürlich Gesprächsthema Nummer eins gewesen“, erzählt Nachbarin Christa Stefan: „Jeder hat ihn gekannt, weil er schon lange da gewohnt hat.“ „Er hat sich das Haus der Eltern ausgebaut und hergerichtet“, ergänzt eine Nachbarin wenige Häuser weiter, die auch mit Priklopils Mutter Kontakt hatte. Sonst sei er aber nicht sehr aufgefallen und habe zurückgezogen gelebt.

Ein Geisterhaus

Heute wirkt das gelbe Wohnhaus unscheinbar. Nur die üppige Hecke wächst schon durch den Zaun bis auf die Straße hinaus. Das derzeit unbewohnte Haus gehört Natascha Kampusch. Es wurde ihr zugesprochen – als eine Art Wiedergutmachung. Wohnen will sie nicht in dem Haus. In einem ORF-Interview 2016 schilderte sie, dass sie nur selten herkomme, „vielleicht einmal alle zwei Monate, immer wenn irgendetwas ist, etwa der Wasserzähler, der getauscht werden muss.“

Natascha Kampusch Haus Strasshof
ORF/Henninger
In diesem Haus wurde Natascha Kampusch acht Jahre lang gefangen gehalten

In dem Haus blieb in den vergangenen zehn Jahren alles nahezu unverändert. „Es ging eher darum, das Ganze noch weiter so zu lassen, damit man sich noch besser erinnern kann. Als Gedächtnisstütze, damit es ein bisschen noch da ist, um es zu bewältigen“, sagte Kampusch. Nur das Verlies, das im Keller hinter einer Montagegrube eingerichtet war und in dem sie den Großteil der acht Jahre eingesperrt war, ließ sie auf eigene Kosten zuschütten.

Ausschlaggebend dafür war Ludwig Deltl, der 2008 Bürgermeister wurde. „Damals ist mir nach einem Zeitungsbericht durch den Kopf gegangen, dass das (Anm.: das Verlies) nur ein Schwarzbau sein kann, der aber überall in den Medien war.“ Als Baubehörde erster Instanz nahm er deshalb Kontakt mit Kampusch auf, gemeinsam sei daraufhin ein Sanierungskonzept ausgearbeitet worden.

Der Fall, der nicht zur Ruhe kommt

Bis heute ist die Causa Kampusch nie ganz aus den Schlagzeilen verschwunden. Immer wieder melden sich private Ermittler zu Wort, die nicht glauben wollen, dass der Entführer Wolfgang Priklopil alleine handelte. Selbst Kampuschs Vater bezweifelt das. Das habe sie „sehr verletzt“, sagte Kampusch im Interview in der ORF-Fernsehsendung „Thema“. Sie bleibt bis heute dabei, dass es damals nur ein Täter war. Auch am Suizid Wolfgang Priklopils werden immer wieder Zweifel laut.

2012: Neue Ermittlungen im Fall Kampusch

Nicht nur Natascha Kampusch selbst wies eine etwaige „Mehrtätertheorie“ zurück – auch sämtliche Ermittlungsverfahren kamen bisher zu dem Schluss – 2013 eine Evaluierungskommission unter Beteiligung des FBI und des deutschen Bundeskriminalamtes: „Die Evaluierung hat ergeben, dass Wolfgang Priklopil die Entführung mit hoher Wahrscheinlichkeit alleine durchgeführt hat.“

„Ermittlungspannen“ und „Fehleinschätzungen“

Verbindungen des Entführers zur Rotlicht-, Sado-Maso- oder Pädophilenszene „konnten trotz umfangreicher Ermittlungen nicht festgestellt werden“, sagte damals der Präsident des deutschen Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke. Sehrwohl festgestellt wurden von der Kommission aber „Ermittlungspannen“ und „Fehleinschätzungen“ bei den Ermittlungen.

Der Leiter der Evaluierungskommission im Fall Kampusch, der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) Ludwig Adamovich, landete vor Gericht, weil er in den Raum gestellt hatte, dass es Kampusch nach der Entführung „womöglich besser ergangen war als zuvor bei ihrer Familie“. Den Entführer Priklopil bezeichnete Adamovich als „Auftragstäter“.

„Der Wahnsinn lebt weiter“

„Es scheint einfach kein Ende haben zu dürfen. Gegen Verschwörungstheorien kann man sich weder mit Argumenten noch mit der Wahrheit wehren. Der Wahnsinn lebt einfach weiter“, schreibt Natascha Kampusch in ihrem Buch „Zehn Jahre Freiheit“, das 2016 erschien. Das Buch war nicht ihr erstes. Schon davor war Kampusch mehrmals in die Öffentlichkeit gegangen. 2012 kam ihr Buch „3096 Tage“ auf den Markt, das später auch verfilmt wurde.

Natascha Kampusch am 14. Dezember 2009 in Hamburg
dpa/Marcus Brandt
Natascha Kampusch schrieb über ihre Zeit in Strasshof mittlerweile drei Bücher

Nach zehn Jahren Freiheit spricht Kampusch in dem neuen Buch auch von „neuen Mauern“ durch Medienberater, Psychologen oder Anwälte. Künftig will sie ihr Leben aber alleine bestimmen. „Ich möchte weiterhin an mir selbst arbeiten, an meiner Persönlichkeit. Menschen helfen, das ist mir auch sehr wichtig. Und ich möchte in zehn Jahren sagen, dass ich ein glückliches, zufriedenes Leben führe“, so Kampusch.

Ein Ort für Schaulustige

Der Ort des Verbrechens zieht noch heute Schaulustige an. Immer wieder würden vor allem „Auswärtige“ stehen bleiben „und fotografieren“, erzählt eine Nachbarin: „Ich denke mir immer, was wollen die sehen, man sieht ja eh nichts. Aber mittlerweile lachen wir nur mehr.“

Während eines Lokalaugenscheins im Vorjahr traf ein ORF-Team etwa Familie Albrecht aus Deutschland, die im Zuge ihres Österreich-Urlaubs nach Strasshof kam. Die Albrechts haben ein spezielles Hobby, sie besuchen gerne Kriminalschauplätze, erzählt Michael Albrecht: „Wir fahren öfter ehemalige Tatorte ab – da, wo sich etwas ereignet hat. Meistens machen wir das im Urlaub. Dann schauen wir, was dort einmal passiert ist, das finden wir schon sehr interessant.“

Familie Albrecht aus Deutschland vor dem Kampusch-Haus in Strasshof
ORF/Doris Henninger
Familie Albrecht aus Deutschland vor dem Kampusch-Haus in Strasshof

Besonders Michael Albrechts Tochter Pia las viel über den Fall Kampusch. Nun wollten ihr die Eltern den Original-Schauplatz zeigen und fuhren mit ihr extra nach Strasshof. „Wir wussten ja, dass sich unsere Tochter ein bisschen für den Fall Natascha Kampusch interessiert. Da haben wir ihr versprochen, dass wir dann einen kleinen Abstecher zum Haus machen, wo Natascha Kampusch gefangen gehalten wurde.“

Ort schließt Kriminalfall ab

Die Albrechts werden wohl nicht die letzten Schaulustigen sein, die hierherkommen. Strasshofs Bürgermeister Ludwig Deltl kann das nicht recht nachvollziehen. „Man fährt mittlerweile an dem Haus vorbei. Es gehört Frau Kampusch und sie betreut es, so wie sie das eben tut. Es ist einfach ein Gebäude, das leer steht. Welche Nutzung hier auch immer vorgesehen ist, ich würde mir ein Wohngebäude wünschen“, sagt Deltl.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 24.10.2022

Der Ortschef spricht heute von einem „tragischen und aufsehenerregenden Fall“, der Strasshof einige Zeit begleitet habe. Nach zwei bis drei Monaten – „nachdem alles aufgearbeitet war“ – sei das Interesse dann schnell abgeflaut. Heute habe man im Ort mit dem Kriminalfall abgeschlossen.

„Strasshof und Kampusch ist eins“

In Strasshof hat sich in den letzten Jahren vieles getan, dennoch bleibt der Ort untrennbar mit dem Fall Kampusch verbunden. Das merkt auch Pensionist Alfred Geier immer wieder, wenn er im Urlaub gefragt wird, wo er herkommt. „Wo der Fall Kampusch war – das weiß jeder. Wenn du in Europa irgendwo hinfährst und sagst ‚Strasshof und Kampusch‘ – das ist eigentlich eins.“