APAHDS46  – 27042008 – AMSTETTEN – OESTERREICH: ZU APA TEXT CI – Eine Frau ist im Raum Amstetten (Niederoesterreich) offenbar mehr als 20 Jahre lang von ihrem Vater im Keller gefangen gehalten worden.  Im Bild: Medienvertreter beim Haus in dem die Frau gefangen gehalten worden sein soll. APA-FOTO:HERBERT P. OCZERET
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„100 Jahre NÖ“

Fritzl: Unfassbarer Inzestfall ging um die Welt

Es war einer der größten Kriminalfälle: Josef Fritzl hielt seine Tochter 24 Jahre im Keller seines Hauses in Amstetten gefangen und zeugte sieben Kinder mit ihr. 2008 flog er auf. Der Fall stieß weltweit auf mediales Interesse.

19. April 2008, gegen 21.00 Uhr. Schwer krank und bewusstlos wurde eine junge Frau in das Landesklinikum Mostviertel Amstetten eingeliefert. Laut Auskunft ihres Großvaters Josef Fritzl war die 19-Jährige zuvor im Wohnhaus der „Großeltern“ abgelegt worden. Neben ihr sei ein Brief der 42-jährigen Mutter gelegen, in dem sie um Hilfe für ihre kranke Tochter bat und vage Angaben zu den Symptomen machte.

Das Verhalten der Mutter erschien den Ärzten seltsam. Bald wurden sie skeptisch und verständigten die Polizei, erinnert sich Hannes Fellner, heute Leiter der Mordgruppe im Landeskriminalamt – „weil die Umstände doch sehr suspekt und bedenklich waren.“ Wie die Ermittlungen zeigten, wurden bereits in den Jahren zuvor drei Kleinkinder bzw. Babys vor dem Haus abgelegt.

„Sie war einfach nicht existent“

Zudem gab es von der Frau weder einen Führerschein noch eine Sozialversicherungsnummer. „Sie war einfach nicht existent“, schildert die zuständige Staatsanwältin Christiane Burkheiser. Die Frau schwebte damals in akuter Lebensgefahr. Die Ärzte brauchten deshalb dringend Kontakt zur Mutter, um mehr über die Krankengeschichte der Frau zu erfahren. Fritzl stimmte zu, die lokalen Medien einzuschalten.

21.4.2008: Todkranke sucht Mutter

Kurz darauf strahlte der ORF Niederösterreich in „Niederösterreich heute“ einen Beitrag mit dem Titel „Todkranke sucht Mutter“ aus. Die gesuchte Mutter saß damals zwei Kilometer entfernt auf einem Bett in einem fensterlosen Keller. Was man damals noch nicht wusste: Die Mutter hatte in ihrem Verlies einen Fernseher. Als sie den Beitrag sah, traf sie eine Entscheidung: Sie wird zu ihrer Tochter gehen.

Daraufhin setzte sie ihren Vater unter Druck und konnte ihn überreden, dass er mit ihr ins Spital fährt. Josef Fritzl erzählte damals Ärzten und Polizei, sie wäre plötzlich vor der Haustüre gestanden, erinnert sich Fellner: „Sie wäre bei einer Sekte gewesen, aber weil es ihrer Tochter so schlecht ging, sei sie nun gekommen.“ Die Mutter selbst schwieg vorerst.

Eine „unvorstellbare“ Geschichte

Erst mit dem Versprechen, dass sie nicht mehr zum Vater zurück muss, erzählte die 19-Jährige den Ermittlern die tatsächliche Geschichte. „Die Erstangaben waren auch für uns in einer Dimension, die wir noch nie erlebt hatten.“ Doch im Laufe der „sehr emotionalen Vernehmung“ habe sich immer mehr gezeigt, „dass sie keine Geschichten erzählt, sondern dass das die beinharte Wahrheit ist und das Unvorstellbare eingetreten ist.“

APAHEF01  – 27042008 – AMSTETTEN – OESTERREICH: ZU APA-TEXT CI – Eine Frau ist im Raum Amstetten (Niederoesterreich) offenbar mehr als 20 Jahre lang von ihrem Vater im Keller gefangen gehalten worden.  Im Bild: Medienvertreter und Schaulustige vor dem Haus (r.) in dem die Frau gefangen gehalten worden sein soll. APA-FOTO: HELMUT FOHRINGER
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Nach Bekanntwerden des Falls brach über Amstetten ein internationaler Medienansturm herein

Demnach habe für die damals Jugendliche im August 1984 ein Martyrium begonnen. Ihr Vater lockte sie unter dem Vorwand, ihm beim Tragen einer Türe zu helfen, in den Keller. Dort überwältigte er die damals 18-Jährige, vergewaltigte sie und sperrte sie ein. Seiner Familie erzählte er – wie spätere Ermittlungen ergaben – seine Tochter Elisabeth sei bei einer Sekte untergetaucht.

Stattdessen hielt Fritzl seine Tochter im Keller seines Hauses gefangen und zeugte mit ihr sieben Kinder. Eines starb nach der Geburt. Drei Kinder holte Fritzl, aus Platzgründen im Verlies, bald nach der Geburt nach oben. Seiner Frau erklärte er, die Tochter habe ihm die Kinder vor die Tür gelegt. Die Tochter und die drei anderen Kinder – ein Mädchen und zwei Buben – lebten hingegen bis zu ihrer Befreiung im Verlies.

Ein „emotionsloses“ Geständnis

Josef Fritzl wurde daraufhin verhaftet. Unter dem Druck der Vorwürfe brach sein Konstrukt zusammen. In einer Pressekonferenz schilderte der Leiter des Landeskriminalamtes, Franz Polzer, dass er zugegeben habe, „seine damals 18-jährige Tochter ausgesucht, sie in den Keller gesperrt und mehrmals sexuelle Handlungen, Übergriffe, ja sogar Vergewaltigungen, durchgeführt zu haben.“

27.4.2008: Beschuldigter gesteht „unvorstellbare“ Geschichte

Laut Ermittler Fellner habe Fritzl die Vorwürfe aber eher „wertfrei“ hingenommen und nicht „als großes Unrecht empfunden, sondern wie viele Sexualtäter, dass das ihr Recht ist“ – weil sie die Opfer von der „großen, bösen Welt eigentlich geschützt“ haben. Bei der Einvernahme sei Fritzl „nicht emotional niedergebrochen“, sondern habe es „in seiner Art und Weise relativ emotionslos“ erzählt.

Medialer Ansturm

Währenddessen brach über Amstetten ein Medienansturm nie dagewesenen Ausmaßes herein. Das erkrankte Mädchen wurde wieder gesund. Die Opfer wurden im Landesklinikum Mauer betreut. In Freiheit waren sie nicht, denn sie blieben wochenlang in der Klinik, belagert von Journalisten, die auf ein Foto hofften. Sowohl das Land als auch die Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ stellten damals Opferanwälte zur Verfügung.

APAHEF12 – 02052008 – AMSTETTEN – OESTERREICH: ZU APA-TEXT CI – Security steht am Freitag, 02. Mai 2008, vor der Sonderkrankenanstalt Mostviertel Amstetten-Mauer. APA-FOTO: HELMUT FOHRINGER
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Abgeschirmt von der Öffentlichkeit wurden die Opfer im Landesklinikum Mauer behandelt

Die mediale Präsenz bekamen auch die Ermittler zu spüren, die nicht nur mit einem ohnehin belastenden Fall konfrontiert waren, sondern auch dem medialen Druck ausgesetzt waren. „Fernsehteams aus aller Welt haben über Wochen das Haus belagert, während wir trotzdem in Ruhe ermitteln mussten.“ Die Zeugenbefragungen mussten etwa so organisiert werden, dass nicht sofort von jedem Fotos gemacht werden konnten.

Bewusster Plan der Tochter

Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner glaubt, die Tochter habe schon lange auf ihre Befreiung hingearbeitet. So habe sie immer wieder versucht, ihm zu vermitteln, dass sie mitspielen und ihn nicht ausliefern wird. „Ihr war klar, dass er nur dann denkt, es zu machen, wenn er ziemlich sicher sein kann, dass sie nachher sagt, alles bestens, ich war zwar jetzt 24 Jahre irgendwo, aber es ist eh alles in Ordnung und ihn nicht verrät“, so Kastner.

2008: Ein illegales Verlies und offene Fragen

Fritzl habe Kastner wiederum erzählt, seine Tochter habe den Zwischenfall mit dem kranken Kind vermutlich bewusst inszeniert. Denn im Keller gab es zwei Medikamente. Laut Fritzl „war klar, dass die Kinder eine Unverträglichkeit für die Kombination dieser beiden Substanzen haben.“ Die 42-Jährige dürfte ihrer Tochter „beides gemeinsam verabreicht haben – wohlwissend, dass das Kind, das nicht verträgt.“ Dadurch sei Fritzl zum Handeln gezwungen gewesen.

Der Fall war damit rasch geklärt, die Ermittlungen liefen aber noch Monate weiter. Man wollte ausschließen, dass es keine weiteren Verstecke gibt. Deshalb wurde das Leben des Beschuldigten „relativ weit in die Vergangenheit aufgearbeitet“. Und man wollte ausschließen, dass es keine Mittäter gab.

Die internationalen Medien kommen zurück

Am 16. März 2009 startete am Landesgericht St. Pölten der erste Prozesstag gegen Josef Fritzl. Staatsanwältin Christiane Burkheiser musste sämtliche Vorwürfe auf 27 Seiten zusammenfassen. Sie war zuvor selbst zweimal durch das Verlies gekrochen. „Es war tatsächlich nur ein Kriechen, weil eine der Verliestüren nur 83 Zentimeter hoch war, da musste man also zunächst auf die Knie gehen und durchrobben“, erinnert sich die Staatsanwältin im ORF-Interview.

2009: Internationaler Medienansturm beim Prozess

300 Medienvertreter waren angemeldet, 90 durften während des öffentlichen Teils in den Gerichtssaal. In einem Pressezelt informierte man über den nicht öffentlichen Teil der Verhandlung. Der Prozess fand aus Gründen des Opferschutzes weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Fritzl musste sich wegen Mordes, Sklavenhandels, Notzucht und Vergewaltigung, Freiheitsentziehung, Nötigung und Blutschande verantworten. Am schwersten wog der Anklagepunkt „Mord durch Unterlassung“, denn ein Kind war im Verlies nach der Geburt gestorben. Die Leiche verbrannte Fritzl im Ofen.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 31.10.2022

Modrige Kuscheltiere aus dem Verlies

Staatsanwältin Christiane Burkheiser erinnert sich, wie sie den Geschworenen modrige Kuscheltiere aus dem Verlies gereicht und dessen geringe Raumhöhe an der Gerichtssaaltüre demonstriert hatte. „Man konnte sich bei einer Raumhöhe von 1,74 Metern nicht einmal strecken, eine Dusche gab es erst später, aber die war auf einer Höhe von 1,20 Metern, versuchen Sie da einmal zu duschen.“

Während des Prozesses wurde auch klar: Das Drama begann schon 30 Jahre davor. Fritzl tätigte erste sexuelle Übergriffe bereits an seiner damals elfjährigen Tochter. Gerichtspsychiaterin Kastner kam zur Überzeugung: der Angeklagte sei schuldfähig, er habe alles genau geplant. Den Geschworenen und dem Angeklagten wurde per Video die elfstündige Einvernahme der Opfer vorgespielt. Wie sich später herausstellte war die Tochter auch persönlich im Gerichtssaal anwesend. Daraufhin bekannte sich Fritzl in allen Punkten schuldig.

2009: Josef Fritzl in allen Anklagepunkten schuldig

Am 19. März 2009 wurde der damals 73-Jährige rechtskräftig zu lebenslanger Haft und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt. Die Geschworenen sprachen ihn in allen Anklagepunkten einstimmig schuldig. Fritzl nahm das Urteil an. Dass auch die Opfer, also die Kinder aus dem Verlies, bei der Urteilsverkündung im Saal anwesend waren, bleibt bis heute eine unbestätigte Vermutung unter Journalisten.

Keller wurde zubetoniert

Der fragwürdige „Ausflugstourismus“ zu dem Haus in Amstetten hielt noch einige Zeit an. Der Keller wurde 2013 zubetoniert und das Objekt, in dem sich heute Wohnungen befinden, Ende 2016 verkauft. „Wie wir uns für dieses Haus über eine Immobilienzeitung interessiert haben, haben wir am Anfang nicht gewusst, welches Haus das ist“, erklärte der neue Eigentümer, ein örtlicher Unternehmer.

Fritzl-Haus Amstetten
ORF.at/Roland Winkler
Das Haus war jahrelang Ziel von „Ausflugstouristen“, das Verlies wurde 2013 zugemauert

Fritzl verbüßt seine Haftstrafe in der Justizanstalt Krems-Stein. Seine Opfer wird der Fall wohl ein Leben lang begleiten. Dass Fritzls Tochter die 24-jährige Gefangenschaft überhaupt überlebt hat, sei nur auf ihren starken Willen zurückzuführen, sagt die Gerichtspsychiaterin. „Das ist ja das Unglaubliche. Sie hat sich nie wirklich gefügt und immer versucht, aus dem Herauszukommen. Ich glaube, eine gebrochene Frau wäre da drinnen gestorben.“

Ein neues Leben

Die Opfer sollen unter neuer Identität in einem benachbarten Bundesland leben. Bislang ist es ihnen gelungen, von den Medien völlig unentdeckt zu bleiben. Wie es ihnen geht, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Auch deshalb sagt Ermittler Fellner heute, dass die Causa – mit Blick auf die Opferrechte – damals „wirklich sehr gut, ausgezeichnet“ abgelaufen sei.

Doch sowohl Fellner als auch seine Kollegen habe der Fall jedenfalls nachhaltig geprägt: „Ich hoffe, dass ich so etwas nie wieder erleben werde oder wir in Österreich noch einmal so etwas aufklären müssen, aber Garantie gibt es natürlich keine.“