Traiskirchen 2015
APA/HANS KLAUS TECHT
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„100 Jahre NÖ“

2015: Als Österreich ge- und überfordert war

Die Flüchtlingskrise 2015 bleibt als staatlicher Kontrollverlust im kollektiven Gedächtnis, aber auch als Zeit der Hilfsbereitschaft. Christian Konrad, damals Flüchtlingskoordinator, erinnert sich an Licht- und Schattenseiten – und erklärt, was sich geändert hat.

Der 27. August 2015 war ein spätsommerlich warmer Donnerstag. Das offizielle Wien hatte sich seit Wochen akribisch auf diesen Tag vorbereitet. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und Außenminister Sebastian Kurz (beide ÖVP) luden zum großen Westbalkan-Gipfel.

Zugesagt hatten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, die Staatschefs von Serbien und Albanien, Aleksandar Vucic und Edi Rama, sowie Außen- und Wirtschaftsminister des Kosovo, von Montenegro, (Nord-)Mazedonien und Bosnien und Herzegowina. Dominiert wurde das Treffen von jenem Thema, das seit Monaten die Nachrichtenlage beherrschte: dem zunehmenden Strom an Flüchtlingen und Migranten auf dem Weg nach Europa.

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Westbalkankonferenz am 27. August 2015
APA/GEORG HOCHMUTH
Kanzler Werner Faymann (Mitte rechts) trat als Gastgeber auf, eingeladen waren u.a. Angela Merkel (Mitte links), Federica Mogherini sowie Aleksandar Vucic
Westbalkankonferenz am 27. August 2015
APA/GEORG HOCHMUTH
Die Stimmung war gut – bis die Konferenz am frühen Nachmittag von einem anderen Thema überschattet wurde

Darum kümmerte sich an diesem Donnerstag auch Christian Konrad, ehemaliger Raiffeisen-Boss und einer der am besten vernetzten Menschen der Republik. Im ORF-„Sommergespräch“ war der Niederösterreicher nur drei Tage zuvor von Vizekanzler Mitterlehner als neuer Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung präsentiert worden.

Den ersten öffentlichen Schritt setzte er an ebenjenem 27. August, allerdings 20 Kilometer südlich von Wien. Immerhin stand Traiskirchen (Bezirk Baden) zu dieser Zeit ebenfalls seit Monaten im Mittelpunkt der Medienberichterstattung. Die Flüchtlings-Erstaufnahmestelle des Bundes platzte längst aus allen Nähten.

Ein Lkw verändert die europäische Asylpolitik

Am frühen Nachmittag läuteten sowohl beim diplomatischen Treffen in Wien als auch beim Besuch in Traiskirchen die Telefone. Von einem Moment zum anderen rückte das 600 Millionen Euro schwere Infrastrukturpaket, das auf der Westbalkan-Konferenz beschlossen wurde, ebenso in den Hintergrund wie die Bürgermeister-Vernetzungstreffen, die Flüchtlingskoordinator Konrad für die nächsten Wochen ankündigte. Plötzlich blickte die halbe Welt auf einen Geflügeltransporter, der in der Nähe von Parndorf auf dem burgenländischen Teil der Ostautobahn (A4) abgestellt war. Darin seien Tote entdeckt worden, gab die Polizei bekannt. 71 Tote.

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Flüchtlingstragödie im Burgenland
APA/HERBERT P. OCZERET
In einer Pannenbucht auf der A4 wurde am 27. August der Kühllaster entdeckt
Flüchtlingstragödie im Burgenland
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Darin befanden sich 71 Flüchtlinge, die auf der Fahrt in Ungarn auf engstem Raum erstickt waren
Doskozil nach der Flüchtlingstragödie im Burgenland
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Noch am selben Tag informierte Hans Peter Doskozil, der damalige burgenländische Landespolizeidirektor, über den aktuellen Ermittlungsstand

Tödliche Zwischenfälle von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa waren zu diesem Zeitpunkt nichts Neues. Immer wieder waren auf dem Mittelmeer Schlepperboote gesunken, oft kamen dabei Dutzende Menschen ums Leben. Sogar an diesem 27. August ereignete sich ein derartiges Unglück vor der Küste Libyens, mindestens 30 Menschen starben. Doch zu drastischen Schritten der europäischen Politik hatte all das bisher nicht geführt. Das alles hatte sich aber auch weit entfernt vom burgenländischen Parndorf abgespielt.

Schwenk von der Mittelmeer- zur Balkanroute

Seit dem Ausbruch des Krieges in Syrien 2011 waren zunehmend Menschen aus dieser Region Richtung Europa gekommen, meist über die Mittelmeer-Route von Nordafrika aus. Seit Anfang 2015 hatten sich die Migrationsbewegungen auf die Westbalkan-Route verlagert, die von der Türkei über Griechenland bis nach Österreich, Deutschland und Schweden führte, schreiben die „Presse“-Redakteure Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak 2017 im Buch „Flucht – Wie der Staat die Kontrolle verlor“.

Wenige Tage nach dem Fund des Kühllasters schließlich eskalierte die Lage. In Ungarn machten sich tausende Flüchtlinge gleichzeitig auf den Weg Richtung Österreich bzw. Deutschland. Ein humanitärer Notstand war absehbar, in Wien und Berlin wurde in Krisensitzungen beschlossen, die Grenzen zu öffnen. Gleichzeitig versuchte jedes Land, die Flüchtlinge ins nächste weiterzutransportieren. Die Bilanz des Krisenjahres 2015: gut eine Million Menschen, die nach Europa gekommen sind, und alleine in Österreich knapp 90.000 Asylanträge.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 25.11.2022

Der Schwenk von Italien Richtung Balkan hatte sich schon zuvor auf das größte Erstaufnahmelager Österreichs in Traiskirchen ausgewirkt. Um ein Vielfaches war die Institution nun überbelegt. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR hatte im Juli eine „dramatische Situation“ festgestellt und einen sofortigen Aufnahmestopp gefordert. Immer mehr Menschen würden keinen Platz mehr finden und müssten auf der Straße schlafen – das UNHCR sprach von 2.200 obdachlosen Männern, Frauen und Kindern. Dieser Zustand sei „untragbar, gefährlich und menschenunwürdig“, warnte die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen.

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Traiskirchen im Sommer 2015
APA/HELMUT FOHRINGER
Traiskirchen stand in den Jahren 2014 und 2015 immer wieder im Fokus. Bereits 2014 hatte Landeshauptmann Pröll (ÖVP) kurzzeitig einen Aufnahmestopp verhängt.
Traiskirchen im Sommer 2015
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Im Frühjahr 2015 wurde der Aufnahmestopp aufgehoben, nun gab es ein neues Sicherheitskonzept. Im Frühsommer kamen immer mehr Flüchtlinge über die Westbalkanroute, in Traiskirchen spitzte sich die Situation deshalb noch mehr zu.
Traiskirchen im Sommer 2015
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Neben Zeltlagern in anderen Teilen des Landes wurden auch hier auf dem Areal der Erstaufnahmestelle zusätzliche Zelte aufgestellt
Traiskirchen im Sommer 2015
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Die Maßnahme sollte den gestiegenen Bedarf decken,…
Traiskirchen im Sommer 2015
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…doch auch die Zelte waren binnen kürzester Zeit voll
Traiskirchen im Sommer 2015
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Wenige Wochen später, Ende Juli, schlug das UNHCR Alarm
Traiskirchen im Sommer 2015
APA/HELMUT FOHRINGER
Bemängelt wurde die hohe Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Traiskirchen
Traiskirchen im Sommer 2015
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Polizei und Lagerverwaltung waren längst an den Grenzen ihrer Belastbarkeit angekommen
Traiskirchen im Sommer 2015
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Wer keinen Platz mehr fand oder nicht einmal mehr registriert werden konnte, musste in kleinen Zelten innerhalb oder außerhalb des Geländes…
Traiskirchen im Sommer 2015
APA/HELMUT FOHRINGER
…oder unter freiem Himmel schlafen
Traiskirchen im Sommer 2015
APA/EINSATZDOKU.AT
Zahlreiche Sachspenden wurden in jenen Tagen von Freiwilligen nach Traiskirchen gebracht
Traiskirchen im Sommer 2015
APA/HELMUT FOHRINGER
Die Organisation dieser Spenden funktionierte allerdings nicht immer

Konrad: „Traiskirchen war hoffnungslos überlastet“

Zwar wurde Anfang August tatsächlich ein neuerlicher Aufnahmestopp verhängt, doch auch Flüchtlingskoordinator Konrad machte bei seinem Besuch etliche Wochen später, am 27. August, ähnliche Erfahrungen wie das UNHCR. 4.900 Menschen befanden sich an diesem Tag in der „Erstaufnahmestelle Ost“, davon 1.600 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. „Traiskirchen war hoffnungslos überlastet“, erinnert er sich gut sieben Jahre später im Gespräch mit noe.ORF.at. „Die Leute haben in Zweimannzelten geschlafen, zum Teil im Park. Als der Platz nicht mehr ausgereicht hat, haben sie in den benachbarten Weingärten genächtigt.“

Auf der einen Seite habe es viele freiwillige Helfer und Spender gegeben, doch diese hätten das Areal der Aufnahmestelle nicht betreten dürfen, „deshalb haben sie die Hilfsgüter über den Zaun geworfen“. Zudem sei die medizinische Versorgung bei weitem nicht ausreichend gewesen. Als Sofortmaßnahme ließ Konrad gemeinsam mit seinem Mitstreiter Ferry Maier ein zusätzliches Rotkreuzzelt aufstellen – gegen den Willen und die Bedenken der Beamten des Innenministeriums.

Diese hätten argumentiert, für das mobile Feldspital mit etwa 40 Betten, das die Flüchtlingskoordinatoren für notwendig erachteten, brauche man allerhand Bewilligungen, schreibt Maier in seinem 2017 erschienen Buch „Willkommen in Österreich?“. „Man hatte geradezu den Eindruck, sie wollten das abwehren, weil ohnehin alles bestens sei. Das hat uns angesichts der medizinischen Versorgung im Lager schwer schockiert“ und sei eine erste Kostprobe davon gewesen, „wie engagiert manche Beamte in derartigen Situationen agieren“.

Christian Konrad während seiner Zeit als Flüchtlingskoordinator
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Konrad und Maier (linke Seite in der Mitte) bei einem Asylgipfel der Bundesregierung

Die Mühlen der Bürokratie

Generell berichtet auch Konrad von Überforderung und zahllosen bürokratischen Hürden bei seinem Versuch der Krisenbewältigung. Eine Reihe von notwendigen Maßnahmen sei daran gescheitert, „dass die Verantwortung bei Beamten lag, die auf so eine außergewöhnliche Situation nicht vorbereitet waren – und ein gewisses Maß an Gedankenlosigkeit hat dabei auch eine Rolle gespielt“, so der damalige Regierungsbeauftragte.

Der Beamtenschaft seien die externen Regierungsbeauftragten unangenehm gewesen, berichtet Maier in seinem Buch: „Wir hatten den Eindruck, dass viele Beamte ziemlich passiv agierten, sie wollten offenbar nicht verantwortlich gemacht werden können. Sie fürchteten sich wohl vor Anzeigen wegen Amtsmissbrauchs, Untreue oder vor Amtshaftungsklagen.“

Unterstützung von außen nicht willkommen

Diese Einstellung habe sich nicht zuletzt bei Initiativen aus der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft gezeigt. „Wir hatten zum Beispiel das Angebot von pensionierten Botschaftern und Sektionschefs, Spitzenbeamten, Ministerialräten“, erzählt Konrad. „Diese 15 oder 16 Herren haben gesagt, sie würden gerne freiberuflich oder unentgeltlich bei der Abwicklung der Asylverfahren mitarbeiten.“ Sie seien ja bereits juristisch vorgebildet gewesen, konnten Fremdsprachen und hätten nur eine kurze Einweisung benötigt. „Das ist nicht gegangen. Da hätte man Strukturen ändern müssen und das war alles nicht möglich.“

Sehr ähnlich seien die Angebote zweier großer Anwaltskanzleien aufgenommen bzw. abgelehnt worden. Diese hätten ihre Mitarbeiter für ein halbes oder ganzes Jahr zur Verfügung gestellt, um den Stau an Asylanträgen abzuarbeiten. „Formaljuristisch nicht möglich“, so Konrad, etwa wegen des Amtsgeheimnisses. Mehrfach hätten ihm Beamte von ihren Sorgen erzählt, wegen unkonventioneller Entscheidungen in späteren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen unter Druck zu geraten. Im Zweifel seien sie deshalb auf Nummer sicher gegangen.

Die „Presse“-Journalisten sehen in ihrem Buch neben den möglichen rechtlichen Konsequenzen noch einen weiteren Grund für die Zurückhaltung: „Die Experten im Haus sind nämlich der Meinung, dass schnelle Asylverfahren anziehend auf weitere Flüchtlinge wirken. Auch wenn sie das niemals öffentlich sagen würden.“

Ministerium: „Gibt hier keinen Spielraum“

Den Vorwurf, Beamte hätten während der Krise zu bürokratisch reagiert, weist das Innenministerium auf Anfrage zurück. „Beamte sind dazu verpflichtet, nach geltenden Gesetzen zu handeln. Es gibt hier auch keinen Spielraum, weil man ansonsten einen Amtsmissbrauch begehen würde“, heißt es in einer Stellungnahme. Für Beamtinnen und Beamte gebe es auch keinen Grund bzw. Nutzen, Verfahren zu verzögern.

De facto habe es unüberwindbare rechtliche Hürden bei der Annahme von Hilfsangeboten gegeben: „Tatsache ist, dass das Führen von Asylverfahren eine staatliche Aufgabe ist, die gerichtlicher Kontrolle unterliegt und die nicht an andere Personen bzw. Organisationen abgetreten werden kann.“ Einige der vorgeschlagenen Verbesserungen in Traiskirchen, etwa zusätzliche Zelte, seien an der Stadtgemeinde gescheitert – die 1,5-Prozent-Quote sei dort bereits erfüllt, das Durchgriffsrecht also nicht anwendbar gewesen.

Unbestritten bleibt, dass die Krise die zuständige Behörde über ihre personellen Belastungsgrenzen gebracht hat. Deshalb sei über einen längeren Zeitraum Personal aufgenommen worden. „Dass die damalige Maßnahme wirkungsvoll war, zeigt sich daran, dass es seither keinen derartige Verzögerungen bei der Bearbeitung von Asylanträgen mehr gab“, heißt es in dem Statement des Innenministeriums gegenüber noe.ORF.at.

„Privatpersonen haben Hauptarbeit geleistet“

Besser als jenes der Behörden hat Konrad das Engagement der Zivilgesellschaft sowie zahlreicher Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Erinnerung. Auf beide war er angewiesen, als es um die Schaffung von Quartieren ging.

„Nicht die Beamten haben da die Hauptarbeit geleistet, sondern Privatpersonen“, betont der frühere Manager, „und zwar Studenten, Pensionisten, Lehrer, Hausfrauen, oft auch Witwen. Es war eine Freude, zu sehen, wie groß die Hilfsbereitschaft ist.“ Überall im Land organisierten sich die Helferinnen und Helfer, nicht zuletzt in Städten und Ortschaften in Niederösterreich. Sie kümmerten sich in einem ersten Schritt um die Quartierbereitstellung, in einem zweiten aber auch um Maßnahmen zur Integration ins Alltagsleben der Gemeinde.

Christian Konrad während seiner Zeit als Flüchtlingskoordinator
APA/HERBERT NEUBAUER
Konrad (3.v.l.) bei der Präsentation einer Hilfskampagne für Asylwerberinnen und -werber

Bei den erwähnten Bürgermeisterkonferenzen wurden zudem die Kommunalpolitiker vernetzt, um Erfahrungen und Probleme zu besprechen. So sollten jene Sorgen abgebaut werden, die unbegründet waren. Die Zahl der österreichischen Gemeinden, die Flüchtlinge beherbergten, stieg binnen eines Vierteljahres von einem auf zwei Drittel.

Wirksame Drohkulisse gegenüber Bürgermeistern

Es gab allerdings ein wesentliches Element, mit dem diese „freiwillige“ Aufnahmebereitschaft der Gemeinden erhöht wurde: das sogenannte Durchgriffsrecht des Bundes. Die lange umstrittene Maßnahme, die Anfang Oktober 2015 in Kraft trat, legte eine maximale Flüchtlingsquote von 1,5 Prozent der Bevölkerung fest. Bis zu diesem Wert konnte der Bund Flüchtlinge zuweisen und Quartiere schaffen. In der Praxis reichte laut Konrad in aller Regel die Drohung damit.

Der Kraftakt gelang weitgehend – nicht zuletzt deshalb, weil Österreich den allergrößten Teil der Flüchtlinge früher oder später nach Deutschland weiterleitete. Immer wieder führte das zu diplomatischen Spannungen zwischen den Nachbarländern, nachgezeichnet im Buch „Flucht – Wie der Staat die Kontrolle verlor“. So beschränkte Deutschland etwa über Nacht und ohne Absprache die Zahl der Flüchtlinge, die die Grenzen passieren durften. Österreich errichtete im Gegenzug in Gehdistanz zur deutschen grünen Grenze „Transitlager“. Zudem wurden laut „Presse“-Recherchen kaum Registrierungen vorgenommen, um Rückführungen aus Deutschland nach Österreich nach Möglichkeit zu verhindern.

Den Vorwurf, bewusst Transitquartiere in Grenznähe geschaffen zu haben, weist das Innenministerium gegenüber noe.ORF.at ebenfalls zurück. Dies hätte maximal einige hundert Asylwerber begünstigt – angesichts der großen Tageskontingente mit tausenden Personen, die Deutschland gewährte, habe es keinen Grund für eine derartige Maßnahme gegeben. Der zweite Vorwurf, Flüchtlinge bewusst nicht zu registrieren, wird vom Ministerium auf Anfrage weder bestätigt noch dementiert.

Geschlossene Routen und eingefädelte Deals

Klar ist: Im Jahresverlauf 2016 sank die Zahl der Neuankömmlinge. Umstritten bleibt, warum. Die einen führen die diplomatische Initiative von Außenminister Kurz zur Schließung der Balkanroute an, die anderen Merkels Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Das eine sorgte für „hässliche Bilder“ an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland, das andere für einen Deal mit einem Autokraten inklusive Milliardenzahlungen aus der EU.

Idomeni
AFP/LOUISA GOULIAMAKI
Das griechische Flüchtlingscamp in Idomeni direkt an der mazedonischen Grenze wurde zum Symbol der Grenzschließungen auf der Balkanroute

Für Christian Konrad war die Zeit als Flüchtlingskoordinator nach einem Jahr vorbei. Mit seiner direkten und manchmal polternden Art sowie seiner betont christlich-sozialen Einstellung hatte er sich in diesen Monaten nicht nur Freunde gemacht, auch innerhalb des konservativen Lagers. Sein Angebot, anstelle der bisherigen Aufgabe jene eines Integrationsbeauftragten zu übernehmen, wurde von der Regierung ausgeschlagen.

Neuerliche Bilder von Flüchtlingszelten

Heute, sieben Jahre nach der Krise, erinnern Bilder von Zeltstädten wieder an die Zustände von damals. Der Bund habe allerdings „seine ‚Hausaufgaben‘ gemacht“, betont das Innenministerium in der Stellungnahme. So sei in der Zwischenzeit die Bundesbetreuungsagentur (BBU) gegründet worden, „die derzeit bundesweit 27 Quartiere betreibt, die zum Teil aus damaligen alten Verträgen übernommen wurden“. Aus dem „Puffer“ seien in den vergangenen eineinhalb Jahren 13 stillgelegte Standorte reaktiviert, vier weitere seien neu eröffnet worden.

Als größter Unterschied zu damals gilt beim Ministerium, dass es heute kein Durchgriffsrecht des Bundes mehr gibt. „Wenn die Länder die vereinbarten Übernahmequoten nicht erfüllen, verbleiben Menschen, die bereits in Landeszuständigkeit sind, dennoch in Bundesbetreuungseinrichtungen.“ Klar sei aber auch, dass jedes System irgendwann überlastet sei, heißt es in der Stellungnahme. Beziehe man jene Menschen mit ein, die heuer aus der Ukraine nach Österreich geflüchtet sind, komme man 2022 auf voraussichtlich 200.000 Personen.

„Problem vom Grunde her noch nicht angegangen“

Christian Konrad bewertet die Situation anders, etliche Schwierigkeiten aus dem Jahr 2015 seien heute noch nicht gelöst. Positiv sieht zwar auch er die Schaffung der BBU – doch „insgesamt glaube ich, dass dieses Problem vom Grunde her nach wie vor nicht angegangen ist“.

Vielmehr müssten auch in ruhigeren Zeiten noch mehr Ressourcen zur Bewältigung von Flüchtlingsbewegungen bereitgehalten werden, „auch auf die Gefahr hin, dass diese nicht immer voll ausgelastet sind“. Man müsse noch mehr vorsorgen, um nicht wieder überrascht und überfordert zu sein, so der ehemalige Flüchtlingskoordinator: „Unter einer strategischen Planung verstehe ich etwas anderes als das, was bisher passiert ist.“