GEPA-06011468148 – BISCHOFSHOFEN,AUSTRIA,06.JAN.14 – SKI NORDISCH, SKISPRINGEN – FIS Weltcup der Herren, Vierschanzen-Tournee, Siegerehrung. Bild zeigt den Jubel von Thomas Diethart (AUT). Keywords: Gesamtsieg, Trophaee. Foto: GEPA pictures/ Felix Roittner
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„100 Jahre NÖ“

Fast aus dem Nichts zum Tournee-Sieger

Thomas Diethart gelingt 2014 eine Überraschung in der Sportgeschichte. Ohne jemals einen Bewerb gewonnen zu haben, triumphiert der Niederösterreicher bei der Vierschanzentournee. Danach sollte er eine Achterbahn der Gefühle durchleben.

30.000 Menschen im Hexenkessel der Paul-Außerleitner-Schanze von Bischofshofen (Salzburg), fast 1,5 Millionen Menschen vor dem Fernseher – und alle blicken am 6. Jänner 2014 kurz vor 18.00 Uhr nur auf einen Mann: „Shootingstar“ Thomas Diethart, der sich zum prestigeträchtigen Saisonhöhepunkt der Skispringer in der Form seines Lebens befindet.

Trotz tosenden Jubels und eines Rot-Weiß-Roten-Fahnenmeers im Stadion bleibt der 21-Jährige „cool“. Nach seinem Sprung auf 138,5 Meter im ersten Durchgang segelt Diethart beim zweiten Mal auf 140 Meter – ein Sprung für die Geschichtsbücher. Diethart feiert damit nicht nur seinen zweiten Weltcup-Sieg, sondern krönte sich als erster Niederösterreicher zum Sieger der Vierschanzentournee.

„Es ist so geil, ein Wahnsinn"

Und das, obwohl der gebürtige Michelhausner (Bezirk Tulln) gerade erst den Sprung in den Weltcup geschafft hatte. „Es ist so geil, ich habe den Sprung so gut getroffen. Es ist echt ein Wahnsinn“, sagte der Senkrechtstarter unter den ÖSV-Adlern nach seinem Sieg. „Ich habe das so genossen oben. Es war schon beim Thomas (Morgenstern, Anm.) eine geile Stimmung“, so Diethart weiter.

Ein Überflieger rockt die Vierschanzentournee

Den Grundstein für diesen Tourneewahnsinn legte Diethart, der sich erst im letzten Moment für die Tournee qualifiziert hatte, in Oberstdorf (Deutschland), wo er erstmals in seiner Karriere mit Platz drei auf das Podest sprang. „Ich habe von oben runtergeschaut, habe die Menge an Leuten gesehen, und das beflügelt einfach“, so der Shootingstar direkt nach dem Karrierehoch.

Doch es ging noch besser. Drei Tage später gewann Diethart bei seinem erst sechsten Weltcup-Springen das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen (Deutschland), die zweite Station der Tournee: „Momentan funktioniert bei mir eigentlich alles. Was ich mir vornehme, ziehe ich durch.“

Das Tullnerfeld im „Didl“-Fieber

Dieser unerwartete Erfolg löste in seiner Heimat Michelhausen eine Welle der Euphorie aus. Der ganze Ort lag plötzlich im „Didl“-Fieber. Vor fast jedem Geschäft stand ein Plakat, mit dem der Überflieger aus dem Flachland angefeuert wurde. „Mittlerweile ist es so, wenn man aus dem Gemeindeamt rausgeht, dass jeder Zweite, der dich anspricht, von irgendeinem Medium ist“, sagte Bürgermeister Rudolf Friewald (ÖVP) damals im Interview.

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ORF
Die Michelhausener freuen sich 2014 über den Erfolgslauf von „ihrem“ Thomas Diethart

Auch die Medien stürmten in diesen Tagen den kleinen Ort im Tullnerfeld. „Nicht nur beschränkt auf Österreich, sondern auch aus Bayern. Jeder fragt: Wie hat das funktionieren können? Da ist es flach. Wo habt ihr einen Berg? Wir haben zwar einen leichten Berg, aber auch der reicht nicht für eine Skisprungschanze“, so Friewald.

Fan-Reise und Public Viewing

Nach einem fünften Platz in Innsbruck (Tirol) – der dritten Station – kam Diethart als Tournee-Führender nach Bischofshofen – ebenso wie Dutzende Fans aus Michelhausen, um dabei zu sein, wenn „ihr“ Thomas Sportgeschichte schreibt. Auf der Sportanlage Rust in Michelhausen wurde eine große Videoleinwand aufgebaut, damit der ganze Ort das große Finale der Tournee mitverfolgen konnte.

Das Tullnerfeld im „Didl“-Fieber

Nach dem Sprung auf 140 Meter brachen sowohl im Tullnerfeld als auch im Zielraum in Bischofshofen alle Dämme – vor allem bei Dietharts Eltern, die am Fuße der Schanze fest die Daumen drückten. „Dem Papa geht es jetzt sicher schlechter als mir“, lächelte der frisch gebackene Tournee-Sieger. „Er muss sich sicher beruhigen. Er freut sich einfach total.“

Diethart erfüllt sich Kindheitstraum

Bis er diesen Erfolg realisieren könne, werde es noch eine Zeit lang dauern, sagte Diethart im Interview mit noe.ORF.at nach der Siegerehrung. „Es ist ein Wahnsinn, für mich ist ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen“, vor allem weil die Leistungsdichte im Sport sehr hoch sei. „Da sieht man, wie schnell es beim Skispringen gehen kann. Ich habe gewusst, je lockerer ich bin, umso eher kann ich es schaffen. Es ist voll aufgegangen.“

APA16332824-2 – 06012014 – BISCHOFSHOFEN – …STERREICH: ZU APA-TEXT SI – Thomas Diethart (AUT) nach seinem Sprung im Rahmen der 62. Vierschanzentournee am Montag, 6. JŠnner 2014, auf der Paul Ausserleitner-Schanze in Bischofshofen. APA-FOTO: GEORG HOCHMUTH
APA
Mit dem Erfolg bei der Vierschanzentournee erfüllte sich Diethart einen Kindheitstraum

Diesem kometenhaften Aufstieg zollten auch die arrivierten Skispringer Respekt. „Thomas ist ein absolut würdiger Sieger“, sagte Teamkollege Thomas Morgenstern, der hinter Diethart Zweiter wurde. „Er hat alle Qualitäten bewiesen“, betonte der Schweizer Simon Ammann, neben Morgenstern der größte Konkurrent Dietharts in der Gesamtwertung. „Es ist doch eine Geschichte, dass es auch Junge schaffen, gerade in einem so starken Team wie Österreich den Sprung nach vorne zu schaffen", so Diethart.

Der 21-Jährige aus Michelhausen durfte sich nicht nur über die Siegertrophäe – einen goldenen Adler – freuen, sondern über 20.000 Schweizer Franken (16.248,27 Euro) für den Titel. Er war damit der erste Tournee-Debütant seit dem Norweger Anders Jacobsen 2006/07, der gleich die Gesamtwertung gewonnen hatte.

Vom Unbekannten zum Sensationsmann

Dabei war Diethart noch drei Wochen zuvor ein unbeschriebenes Blatt. Er selbst beschrieb sich als sehr ruhigen, aber auch flippigen Typen. Diese Nerven aus Stahl trugen ihn wohl zum Sensationserfolg bei der 62. Vierschanzentournee. Sein Vater wollte ihn ursprünglich zum alpinen Skilauf bringen. Immerhin liegt seine Heimatgemeinde Michelhausen auf nur 195 Metern Seehöhe, die nächste Sprungschanze ist zwei Autostunden entfernt.

2008: Eine Nachwuchshoffnung mit großen Zielen

Unterstützt von seinem Vater lernte Thomas Diethart schließlich im oberösterreichischen Hinzenbach das Skisprung-ABC. Jedes Wochenende pendelten sie dorthin zum Training. Um Geld zu sparen, übernachteten die Dietharts manchmal sogar in einem Kämmerchen unter der Schanze.

„Schon im Kindergarten immer auf Bäumen“

Dass ein Flachländer einen derartigen Höhenflug hinlegt, damit rechneten wohl nur die wenigsten. Die ehemalige Kindergartenpädagogin von Thomas Diethart erinnerte sich im Interview 2014 aber an seine Kindheit und sagte: „Er war ein richtiges Bewegungstalent. Schon als Kleiner, mit drei Jahren, war er ganz oben auf der Sprossenwand, wo mir manches Mal schon das Herz stehen geblieben ist.“

„Didl“, wie ihn seine Freunde nennen, hatte eine enorme Sprungkraft. Das sagte bereits der heutige Cheftrainer der norwegischen Skisprung-Nationalmannschaft, Alexander Stöckl, in der Skischule Stams (Tirol) über seinen Schützling.

APA17069514 – 18022014 – KRASNAJA POLJANA – RUSSLAND: OLYMPISCHE WINTERSPIELE SOTSCHI 2014 – (v.l.) Michael Haybšck, Thomas Morgenstern, Thomas Diethart und Gregor Schlierenzauer am Dienstag, 18. Februar 2014, anl. der Siegerehrung des Skispringen-Mannschaftsbewerbs auf der Gro§schanze in Sotschi. APA-FOTO: HELMUT FOHRINGER
HELMUT FOHRINGER
Nach dem Tourneesieg holte Diethart (3.v.l.) mit seinen Teamkollegen Michael Hayböck, Thomas Morgenstern und Gregor Schlierenzauer Silber bei den Olympischen Spielen

Nachbar Walter Wirth erlebte die ersten Hüpfversuche hautnah mit. „Mit seinem Papa hat er vor dem Haus trainiert. Auf dem Gehsteig haben sie Absprungtrainings gemacht – und das über Stunden und Tage." Damit die Nachwuchshoffnung in Michelhausen trainieren konnte, baute Dietharts Vater eine Minirampe aus Holz. All diese Bemühungen machten sich spätestens am Dreikönigstag 2014 bezahlt.

Auf Höhenflug folgt tiefer Fall

Nach der Tournee belegte Diethart beim Mannschaftsspringen in Zakopane (Polen) Platz drei mit dem Team und erreichte damit seine erste Mannschafts-Podestplatzierung im Weltcup. Bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi (Russland) erreichte er im Teambewerb mit Thomas Morgenstern, Gregor Schlierenzauer und Michael Hayböck Olympia-Silber, auf der Normalschanze den vierten Platz. Im Gesamtweltcup landete er auf Platz acht.

Doch mitten im Höhenflug folgte der tiefe Fall: Zunächst verlor er wegen schlechter sportlicher Leistungen seinen Platz im ÖSV-Weltcup-Kader, es folgte der „Abstieg“ in den zweitklassigen Kontinental-Cup. Die Saison 2014/15 war aus sportlicher Sicht ein Jahr zum Vergessen. Der Tiefpunkt war Ende Februar 2016 ein schwerer Sturz beim Springen im deutschen Brotterode.

2015: Auf den Höhenflug folgt der tiefe Absturz

Der erste Sturz

Der 24-Jährige erwischte nach Angaben der ÖSV-Trainer nach dem Absprung eine Windböe und stürzte den Aufsprunghang der Großschanze hinunter. Diethart, der kurz bewusstlos war, wurde mit dem Helikopter ins Spital geflogen. Der Niederösterreicher musste vorerst zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, immerhin zog er sich schwere Gesichtsverletzungen sowie Prellungen an der Wirbelsäule, der Lunge und der Niere zu.

Den Humor verlor Diethart trotzdem nicht. In den sozialen Medien postete er ein Foto von sich und schrieb, „dass ich wie nach einem Boxkampf gegen die Klitschko-Brüder aussehe. Das stimmt ja auch und ich sehe nicht so aus, also ob ich den Kampf gewonnen hätte“, sagte Diethart damals in einem ORF-Interview. Bei seinen Eltern sei das aber „nicht so gut“ angekommen. Mittlerweile könne er „beide Augen schon wieder öffnen“, schildert er im Interview 2016, die Schmerzen seien noch vorhanden.

100 Jahre NÖ 2014 Thomas Diethart Skispringen ÖSV
Privat/Facebook
„You should have seen the other guy", schreibt Diethart zu diesem Bild nach seinem schweren Sturz 2016

Nach diesem Sturz war die Saison beendet. Danach war es für den 25-Jährigen mental sehr schwierig, sich zu überwinden. Nach seiner Genesung startete er lediglich mehrmals im drittklassigen FIS-Cup. Nach und nach bekämpfte er dieses Problem, arbeitete fieberhaft an der Rückkehr in das Weltcupteam und zeigte schließlich wieder steigende Leistungen.

Der zweite Sturz

Doch in dieser Phase folgte erneut ein schwerer Sturz beim Training in Ramsau (Steiermark). Der 25-Jährige erlitt eine schwere Gehirnerschütterung mit leichter Einblutung ins Gehirn, eine Lungenquetschung, starke Abschürfungen sowie eine Rissquetschwunde im Gesicht. „Es besteht aber zum Glück keine Lebensgefahr“, hieß es vom ÖSV. Knochenbrüche wurden keine festgestellt.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 21.11.2022

Beim Absprung habe es Diethart "den linken Ski verrissen, dann ist er mit voller Wucht auf den Vorbau gekracht“, erklärte Florian Kotlaba, Pressesprecher beim Österreichischen Skiverband, damals gegenüber noe.ORF.at. Die Bedingungen seien optimal gewesen, der Sturz auf einen Fehler des Athleten zurückzuführen. „Der Grund liegt bei ihm selbst, es waren keine äußeren Umstände Schuld. So etwas passiert leider im Sport.“

„Dritter Versuch – es schmerzt noch immer"

Nach diesem schweren Sturz postete der Skispringer ein Bild seines schwergezeichneten Gesichts. „Dritter Versuch – es schmerzt noch immer. Vielleicht sollte ich etwas Anderes versuchen“, schrieb der ehemalige Sieger der Vierschanzentournee. Die Aussage deuteten manche damals als Hinweis auf ein Karriereende.

Dieses folgte schließlich im April 2018, als Thomas Diethart überraschend seinen Rücktritt verkündete. Über die Sozialen Medien wandte sich der Sportler an seine Fans. „Das wars. Danke an alle, die mich unterstützt haben, ganz besonders an meine Familie, Freunde, Teamkollegen, Trainer und Sponsoren. Ich werde das Gefühl zu fliegen wirklich vermissen.“ Der Michelhausener begann seine Trainerlaufbahn.

Diethart wagt Comeback

Doch ganz wollte oder konnte er den aktiven Profisport nicht bleiben lassen. Im Frühjahr 2021 kündigte er ein Comeback an. Sein Ziel: Nach den schweren Stürzen und mentalen Problemen wollte er wieder zurück an die Weltspitze kommen. Die Liebe zum Skispringen sei bei ihm nie erloschen, auch wenn er sie nun an Nachwuchsspringer weitergebe.

2021: Thomas Diethart wagt ein Comeback

„In den drei Jahren, in denen ich bisher als Trainer tätig war, haben mich die Kinder im Verein öfters einmal ein wenig genervt, mit ihnen wieder einmal zu springen, wo ich mich dann doch überreden habe lassen und gesehen habe, dass es sehr viel Spaß macht und es ist wieder viel leichter, als es zum Ende meiner Karriere war“, erzählte der Profisportler 2021.

Ärztliche Freigabe

Deshalb wollte er es nun noch einmal probieren. Der ÖSV ermöglichte ihm das Training in Innsbruck. Im August stellte sich Diethart beim drittklassigen FIS-Cup-Wettbewerb in Einsiedeln (Schweiz) erstmals wieder der internationalen Konkurrenz und gewann dabei auf Anhieb das Springen.

Die Platzierungen seien auf dem Weg zurück aber zweitrangig, meint Diethart. Oberstes Ziel sei es „in erster Linie einmal Spaß zu haben, den ich jetzt wieder habe, und ich glaube schon, dass, so wie ich jetzt wieder hineingestartet bin, einiges möglich ist“, gab sich der ehemalige Weltcup-Sieger optimistisch. Über den Kontinentalcup wollte er sich zurück in den Weltcup kämpfen.

Diethart Comeback Skispringen Sport
ORF
Seine Liebe zum Skispringen ist nie erloschen, zuletzt gab er sie an Nachwuchssportler weiter

Trainer statt Springer

Doch kurz vor Jahresende 2021 brach er seinen Comebackversuch ab und wurde Co-Trainer der ÖSV-Skispringerinnen rund um Seriensiegerin Sara Marita Kramer. „Für mich war mein Comeback im Sommer wichtig, um mit dem Skispringen als Aktiver wirklich abschließen zu können. Außerdem war es ein Lernprozess. Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit mit den Skispringerinnen.“

Seine Erfahrung soll der ehemalige Überflieger nun an die Skispringerinnen weitergeben. Immerhin habe er in seiner Kariere „alles dabei gehabt“, wie Diethart selbst sagt, „vom schnellen Erfolg bis zum schnellen Misserfolg und mich von schweren Stürzen zurückzukämpfen.“ Trotz allem zählt der Senkrechtstarter aus dem Flachland seit 2014 zu den rot-weiß-roten Skisprunghelden.