Coronavirus im Elektronenmikroskop
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„100 Jahre NÖ“

CoV: Was richtig und was falsch gemacht wurde

Vor drei Jahren wird im chinesischen Wuhan erstmals eine mysteriöse Lungenkrankheit registriert. Kurz darauf dominiert sie auch in Österreich den Alltag. Was in der Pandemie richtig gemacht wurde und was nicht, ordnet Epidemiologe Gerald Gartlehner ein.

Mit dem Flugzeug wurden Millionen Schutzmasken, Tausende medizinische Handschuhe sowie Schutzbrillen und Desinfektionsmittel transportiert – so schnell wie möglich, um im Katastrophengebiet eingesetzt zu werden. Das Datum: der 22. Februar 2020. Die Hilfsgüter stammten aus Österreich und ihr Ziel war die chinesische Millionenstadt Wuhan. „Wir leisten als erstes europäisches Land unseren Beitrag, um die Situation vor Ort zu verbessern“, hatte der damalige Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wenige Tage zuvor gesagt – immerhin sei die Lage in Österreich „nach wie vor stabil“. Nachsatz: „Alle involvierten Behörden tun alles, damit das so bleibt.“

Es war eine Aktion, die später bei einigen für eine etwas schiefe Optik sorgen wird. „Es ist Material, das bereits in drei Wochen absolute Mangelware im Land sein wird, und im Falle der Masken bald ‚wertvoller als Gold‘, wie es heißen wird – heute aber gehen 27 Tonnen dieses Materials vom Flughafen Schwechat direkt nach Wuhan“, analysierten Michael Fleischhacker und seine damaligen „Addendum“-Kollegen wenige Monate später in ihrem Buch „Corona: Chronologie einer Entgleisung“.

Nehammer und der Rotkreuzpräsident Gerald Schöpfer übergeben in Schwechat Hilfsgüter für China
BMI / Alexander TUMA
Nehammer und der Rotkreuzpräsident Gerald Schöpfer übergeben in Schwechat Hilfsgüter für China

„Man kann den Politikern gar nichts vorwerfen“

Die Aktion Ende Februar ist ein Symbol dafür, wie die Gefahr durch das sogenannte Neuartige Coronavirus (2019-nCoV) in diesen Wochen unterschätzt wurde – nicht nur in Österreich. „Man kann den Politikern damals wahrscheinlich gar nichts vorwerfen“, sagt heute der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems im Gespräch mit noe.ORF.at. „Weder die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch die Politikerinnen und Politiker wussten damals, was da auf uns zukommt.“

Vor diesem Hintergrund seien die Hilfslieferungen auch kein Fehler gewesen, so Gartlehner: „Das waren Entscheidungen in der damaligen Situation, die im Nachhinein vielleicht nicht richtig, aber damals ganz sicher angebracht waren.“ Immerhin seien die Epidemien davor, etwa Schweine- und Vogelgrippe, an Österreich vorübergegangen – man habe damit gerechnet, dass das beim Coronavirus nicht anders sein würde.

Das Virus erreicht Österreich

Zu dieser Zeit, Ende Februar, traten in ganz Europa Verdachts- und bestätigte Fälle auf, trotz ersten Maßnahmen wie etwa der Streichung von Flügen nach China und Temperaturmessungen an den Flughäfen. In Österreich gab es am 25. Februar, drei Tage nach den Hilfslieferungen, in Tirol die ersten beiden bestätigten Infektionen. Niederösterreich folgte am 28. Februar, als ein Schüler am Erzbischöflichen Gymnasium Hollabrunn positiv getestet wurde.

Gymnasium Hollabrunn
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Am letzten Februartag 2020 rückt die Schule in Hollabrunn in den medialen Fokus

Bereits Anfang des Monats hatte die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten angeboten, gemeinsam zu günstigen Preisen Schutzausrüstung anzukaufen. Dieses Angebot, heißt es in dem „Addendum“-Buch, wurde ausgeschlagen: „‚Warum macht ihr wegen dem Ganzen so einen Wirbel? Das war es, was wir damals aus den Ministerien etlicher Hauptstädte zu hören bekamen‘, erinnert sich ein Teilnehmer dieser Sitzungen, die hinter verschlossenen Türen stattfanden.“

Die 180-Grad-Wende erfolgte erst, als Ärzte in norditalienischen Krankenhäusern Alarm schlugen. Als sich Bilder von überfüllten Spitälern und Leichenhallen in heimischen Medien verbreiteten, setzte auch in weiten Teilen der Bevölkerung ein Umdenken ein, die Stimmungslage reichte von Verunsicherung bis Panik. „Die Bilder aus Norditalien waren extrem alarmierend, weil das norditalienische Gesundheitssystem sich nicht substanziell vom österreichischen unterscheidet“, erinnert sich Epidemiologe Gartlehner. „Dann war klar, dass da etwas sehr Heftiges auf uns zukommen wird. Das konnte dann wirklich niemand mehr verleugnen.“

Ortsschild Ischgl
APA/EXPA/Jakob Gruber
Ischgl in Tirol wurde zum Inbegriff des Coronavirus-Clusters. Die Behauptungen der dortigen Landesregierung, man habe „alles richtig gemacht“, ließ sich nicht halten.

„Größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“

Durchaus heftig waren auch die Reaktionen der österreichischen Politik. Am 16. März begann jener Lockdown, der im Rückblick zum ersten von mehreren werden sollte. Der Präsenzunterricht in Schulen wurde eingestellt, es galten ganztägige Ausgangsbeschränkungen, die meisten Geschäfte mussten geschlossen bleiben. Fast über Nacht wurden Maßnahmen verhängt, wie sie in Österreich bis dato unbekannt waren. Spitzenpolitikerinnen und -politiker im Bund und im Land sprachen von der „größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“.

Der Lockdown in Niederösterreich

Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) war in einer Spezialsendung von „NÖ heute“ zu Gast und sprach über die enormen Herausforderungen, die auf das Bundesland zukamen.

Von einer Zeit der „völligen Überforderung“ spricht heute Epidemiologe Gartlehner, der zu diesem Zeitpunkt wie auch viele andere Fachleute nicht in die Entscheidungsstrukturen eingebunden war: „Man wusste, es gibt ein Expertengremium im Bundeskanzleramt, es wusste aber niemand, wer da eigentlich drinnen ist.“ Erst im Lauf der Zeit seien die Entscheidungen von außen nachvollziehbarer geworden, „aber am Beginn gab es viel Intransparenz, wer wen berät und wie die Entscheidungen getroffen werden“.

Dennoch sei der erste Lockdown im Großen und Ganzen auch rückblickend gerechtfertigt gewesen, erklärt der Forscher: „Das war die Notbremse, weil man nicht mehr anders wusste und nicht mehr anders konnte.“

Wenig Spielraum für Bundesländer

Große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gab es zu dieser Zeit nicht. Die wesentlichen Maßnahmen wurden bundesweit vorgegeben. Lediglich in der Ausführung gab es Spielraum, etwa bei der Organisation der Spitäler, der Kontaktnachverfolgung von Infizierten, bei der Ausweitung der Testkapazitäten und der Kommunikationspolitik.

Ein Beispiel war auch die Kontrolle der Ausgangsbeschränkungen, wie es in der „Addendum“-Analyse heißt: „Während in Niederösterreich zwischen 16. März und 3. Juni nur 2.461 Anzeigen wegen Übertretungen aufgrund von Verordnungen nach dem Epidemiegesetz und dem COVID-19-Maßnahmengesetz verhängt werden, sind es in Tirol 4.615, in Wien gar 12.333.“

Polizisten kontrollieren Passanten auf 2-G
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Für die Polizei war die Durchsetzung der Pandemie-Maßnahmen in der angespannten gesellschaftlichen Lage ein Drahtseilakt

Zusätzlich wurden auch in den Landeshauptstädten Hilfspakete geschnürt, die die Unterstützungsleistungen des Bundes ergänzen sollten. Das Land Niederösterreich etwa übernahm Haftungen für kleine und mittlere Unternehmen und zahlte Förderungen an Kulturbetriebe aus.

„Man hat geglaubt, das ist vorbei“

Ein „Licht am Ende des Tunnels“ sah der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bereits im Sommer, nachdem der Lockdown schrittweise aufgehoben worden war. Er meinte damit freilich die Fortschritte bei der Entwicklung der Impfstoffe – doch die Dramatik der weiteren Wellen wurde massiv unterschätzt.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 16.12.2022

„Man hat geglaubt, das ist jetzt vorbei, aber die Realität war völlig anders“, so Gartlehner. Man habe die Fähigkeit des Virus zur Mutation in dieser Phase nicht erkannt – von politischen Versäumnissen im Sommer 2020 will der Epidemiologe aber nicht sprechen: „Wir haben es mit einem hoch ansteckenden Virus zu tun und die Leute stecken sich in der kalten Jahreszeit einfach damit an – egal, wie man sich im Sommer verhält.“

„Game Changer“ Impfung?

Mit großem medialen Getöse wurde in diesem ersten Pandemiejahr auf die erste Impfung hingearbeitet und tatsächlich gelang aus wissenschaftlicher Sicht Beeindruckendes: In Rekordzeit entwickelten Pharmafirmen wie BioNTech, Moderna und AstraZeneca Impfstoffe, die das Risiko eines Spitalsaufenthalts drastisch reduzieren konnten.

Impfstoff-Lieferung mit Blaulicht

Kurz vor dem Jahreswechsel, im Dezember 2020, kamen die ersten Dosen des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs in Österreich an. Empfangen wurde der Transport von Politik und Medien.

„Für mich ist die Impfung deshalb noch immer ein Game Changer“, sagt Epidemiologe Gartlehner, „es gab aber überzogene Versprechungen“. Man habe nie erwarten können, dass eine Impfung gegen das Coronavirus zu völliger Immunität führe, man sich damit folglich nicht mehr anstecken könne.

Erste Impfungen im Caritas-Heim
Franz Gleiß
Die erste Impfung in Niederösterreich wurde am 27. Dezember 2020 in einem Pflegeheim durchgeführt

„Manche Politiker haben das als Chance gesehen“

Der Forscher der Donau-Uni ortet generell große Mängel in der politischen Kommunikation: „Zu Beginn hat das die Politik völlig an sich gerissen, mit allen Widersprüchen, die da entstanden sind.“ So habe die Glaubwürdigkeit schon bald gelitten – besser wäre aus seiner Sicht eine zentrale wissenschaftliche Person gewesen, ähnlich wie Christian Drosten in Deutschland oder Anthony Fauci in den USA.

„Ich denke, manche Politiker haben das als Chance gesehen, vermehrt in Medien auftreten und sich ein gewisses Profil schaffen zu können“, vermutet Gartlehner, „aber im Endeffekt hat es nicht gut funktioniert und dazu geführt, dass die Bevölkerung eher skeptischer gegenüber den Maßnahmen wurde“.

Eine globale Pandemie wird zunehmend regional

Je weiter die Pandemie voranschritt, desto unterschiedlicher wurde deren Bekämpfung in den einzelnen Bundesländern gehandhabt. Ein sichtbares Zeichen dafür war im Herbst 2020 die neu eingeführte „Corona-Ampel“, je nach Infektionsgeschehen mit unterschiedlichen Maßnahmen gekoppelt – wobei deren Erfolg im Rückblick überschaubar blieb.

Ein Alleinstellungsmerkmal bot allerdings schon bald die einzige Millionenstadt Österreichs. Wien verhängte strengere Maßnahmen als die übrigen Bundesländer. Durch die enge Verknüpfung ergaben sich dadurch auch für das Flächenbundesland Niederösterreich Herausforderungen, nicht zuletzt beim Testregime. Lokale und regionale Schritte, etwa mit Zugangsbeschränkungen auf Bezirksebene, hätten laut Gartlehner in Niederösterreich im Großen und Ganzen gut funktioniert.

Gartlehner: Pandemie offenbarte Mängel

Allerdings: „Insgesamt betrachtet ist Österreich im Vergleich zur Schweiz, zu Deutschland und zu anderen mitteleuropäischen Ländern nicht sehr gut durch die Pandemie gekommen.“ Der Rückgang der Lebenserwartung sei hierzulande deutlicher aufgefallen, aber das ist laut Gartlehner „weniger ein Zeichen, dass die Pandemie schlecht bewältigt wurde, sondern ein Zeichen, dass das österreichische Gesundheitssystem als Gesamtes nicht optimal funktioniert“.

Landesklinikum Melk
ORF/Veronika Berger
In Niederösterreich wurde das Landesklinikum Melk zu einem Zentrum der Covid-Behandlung

Ein klassisches Versäumnis ist für ihn eine Überbelegung von Krankenhäusern: „Viele Personen in den Spitälern, vor allem ältere Personen, waren eigentlich nicht spitalspflichtig, sie hatten nur nicht die entsprechende Pflege.“ Dieses Problem sei in Österreich schon seit Jahrzehnten bekannt und nun offen zutage getreten – „denn Spitäler sind für ältere Personen extrem risikoreich, weil es dort mitunter tödliche Krankenhauskeime gibt“.

Außerdem hätten strikte Schulschließungen über Monate hinweg unter jungen Menschen große Kollateralschäden angerichtet, kritisiert der Wissenschafter: „Das müsste man sich wesentlich detaillierter ansehen. Waren diese Schulschließungen wirklich notwendig oder hat man im Endeffekt mehr Schaden als Nutzen verursacht?“

Eine Pandemie ohne Lerneffekt?

Generell sei es für ihn „völlig unverständlich“, dass der „österreichische Weg“ im Kampf gegen das Virus nun nicht wissenschaftlich analysiert und aufgearbeitet werde – „nicht um Schuld zuzuweisen und Fehler hervorzuheben, sondern einfach, um für die Zukunft zu lernen“. Andere Länder wie etwa die Schweiz könnten hier als Beispiel dienen. Forschungsteams aus dem Ausland evaluieren dort die gesetzten Maßnahmen, von denen sie selbst nicht direkt betroffen waren.

In Österreich sei das bislang hingegen kein Thema gewesen, so der Forscher: „Das ist meiner Ansicht nach unverständlich und auch unverantwortlich der Bevölkerung gegenüber, die unter den Pandemiemaßnahmen gelitten hat.“