Gugging: Mehr NS-Opfer als gedacht

Mit dem „Anschluss“ ist auch die Heilanstalt in Maria Gugging (Bezirk Wien-Umgebung) in die Hände der Nationalsozialisten gefallen. Patienten wurden ermordet oder für Experimente missbraucht. Neue Forschungen zeigen: Die Zahl der Opfer war viel höher als bisher angenommen

Herwig Czech

Herwig Czech

Herwig Czech erstellte eine Studie zu den von den Nazis in der Nervenheilanstalt Gugging begangenen Medizinverbrechen

Die erste gegen Menschen mit psychischen Krankheiten oder geistigen Behinderungen gerichtete Etappe bildete auch in Gugging die „Aktion T4“: Zwischen November 1940 und Mai 1941 wurden 675 Menschen aus der Anstalt Gugging in das in der Nähe von Linz gelegene Schloss Hartheim transportiert und dort vergast. Darunter waren 116 Kinder und Jugendliche unter 17 Jahre - ein im Vergleich zu anderen Einrichtungen ungewöhnlich hoher Prozentsatz, wie der Historiker Herwig Czech im APA-Gespräch sagte. Czech ist Forscher am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW). 2007 wurde Czech vom Exekutivausschuss beauftragt, eine Studie zu den von den Nazis in der Nervenheilanstalt Gugging begangenen Medizinverbrechen zu erstellen.

Präsentation der Ergebnisse am IST

„Schloss Hartheim und die anderen Vernichtungszentren der ‚Aktion T4‘ waren die ersten Institutionen, die der massenhaften, serienmäßigen Vernichtung von Menschen dienten. Die für die Schoah typische Verbindung von bürokratischer Arbeitsteilung, industrieller Tötungsmethode und wissenschaftlicher Legitimation ist hier bereits idealtypisch vorgezeichnet“, so der Historiker. Er wurde von dem heute auf dem Gelände ansässigen IST Austria mit der Aufarbeitung der Geschichte der Anstalt beauftragt und präsentiert seine Ergebnisse in der ersten IST-Commemoration-Lecture am Dienstagabend.

Kunstwerk von Dorothee Golz

memorialgugging.at

Das Memorial Gugging ist ein Mahnmal auf dem Campus des IST Austria. Dorothee Golz entwarf dieses Objekt für einen Wettbewerb.

Demnach ist die Opferzahl deutlich höher als gedacht. Ab 1941 verlagerten sich die als „Euthanasie“ verharmlosten Morde an Patienten in die Anstalt selbst. Aber nicht nur diese Morde, auch Tode durch Hunger und Vernachlässigung wurden bisher unterschätzt. Schon ab Herbst 1939 sind im Vergleich zum normalen Jahresdurchschnitt deutlich höhere Sterberaten in der Anstalt nachzuweisen: Von einer Sterberate von 4,7 Prozent im Jahr 1937 kletterte die Rate schon im Dezember 1939 auf 23 Prozent, im Dezember 1941 waren es 44 Prozent. Nach den Berechnungen des Historikers kam es damit bis 1946 zu zusätzlich rund 1.420 Todesfällen - nicht eingerechnet dabei jene Patienten, die in andere Anstalten überführt wurden und dort ums Leben kamen.

Patienten vor Publikum getötet

477 Tote ließen sich allerdings direkt mit zwei Ärzten verknüpfen, so Czech: Der medizinische Leiter der Tötungsanstalt Hartheim, Rudolf Lonauer, besuchte Gugging von 27. März bis 8. April 1943: In diesen Wochen kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Sterbefälle, es scheinen 112 Todesfälle auf, bei denen Lonauer als behandelnder Arzt vermerkt ist. Lonauer ermordete seine Patienten - in der Mehrzahl Frauen - mit einer Überdosis an Medikamenten, so das Ergebnis der Studie.

Veranstaltungshinweis

Die Veranstaltung beginnt am Dienstag um 17.00 Uhr in der Raiffeisen Lecture Hall des IST Austria. Czech wird einen etwa einstündigen Vortrag halten, anschließend ist ein Empfang geplant.

Ähnlich der Fall des Leiters von Gugging, Emil Gelny: Er ist bei 365 Todesfällen als behandelnder Arzt eingetragen. Gelny nutzte die Patienten der Anstalt aber auch für seine Experimente, die er etwa bei einem Treffen von Dutzenden Psychiatern vorführte. „Vor versammeltem Publikum tötete er mit Hilfe seines umgebauten Elektroschockapparates einen Patienten, um die Effizienz seiner Erfindung zu demonstrieren“, schilderte Czech.

Ebenfalls einen großen Teil der Datenbank machen jene Patienten aus, die in andere Anstalten überstellt wurden: Ohne die „T4“-Transporte ereilte 491 Gugginger Insassen dieses Schicksal - sie kamen vor allem in die Pflegeanstalt Am Steinhof sowie nach Meseritz-Obrawalde und Mauer-Öhling. Wie tödlich das sein konnte, zeigt die Analyse der Kinderanstalt: Von 428 überstellten Kindern und Jugendlichen verstarben 160 in den Zielanstalten (u. a. „Am Spiegelgrund“), 49 wurden später entlassen, 71 der Spiegelgrund-Kinder überlebten.

Das Schicksal der weiteren Kinder ist bis heute nicht geklärt. Verknüpft man diese Zahlen mit den Morden im Zuge der „Aktion T4“, kamen von 720 Patienten unter 17 Jahre mindestens 316 - und damit beinahe 44 Prozent - ums Leben. „In Anbetracht des jugendlichen Alters der Patienten ist das außerordentlich hoch“, so Czech.

Über 6.000 Eintragungen in Datenbank

Mit der systematischen Vernichtung befasste sich Czech schon 2008, inzwischen umfasst seine Datenbank knapp 6.000 Eintragungen zu Patienten der Anstalt sowie zu 757 Insassen der Kinderanstalt. Ziel war eine vollständige Erfassung aller Patienten zwischen 1937 und 1946. „Das wurde bisher noch bei keiner größeren psychiatrischen Anstalt gemacht“, meinte der Historiker. Den Untersuchungszeitraum über 1945 hinaus begründete er damit, dass in derlei Einrichtungen die Auswirkungen der NS-Zeit noch lange nach Kriegsende spürbar gewesen seien.

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