Heimschließungen: Die Ereignisse im Überblick

Nach der Schließung von drei Kinder- und Jugendwohnheimen der Therapeutischen Gemeinschaften ist die Staatsanwaltschaft am Zug. Die Causa ist umstritten und es sind viele Fragen offen. noe.ORF.at gibt einen Überblick über die Ereignisse.

Rund um die Vorgänge in den Heimen der Therapeutischen Gemeinschaften (TG) herrscht weiter Rätselraten. Während frühere Ermittlungen eingestellt wurden, weil sich Verdachtsmomente nicht erhärtet hatten, stellte eine vom Land Niederösterreich im Dezember 2017 eingesetzte Sonderkommission vor einer Woche nicht näher definierte „gravierende Missstände“ fest. Drei Heime wurden daraufhin von der Behörde geräumt, die Therapeutischen Gemeinschaften mussten Insolvenz anmelden. Was steckt hinter den Vorwürfen? noe.ORF.at gibt Einblicke in eine mittlerweile sehr komplexe Causa.

Worum geht es in der Causa rund um die Heimschließungen?

In der Causa geht es um schwere Vorwürfe körperlicher und seelischer Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen, die in den Heimen der Therapeutischen Gemeinschaften untergebracht waren. In einem Bescheid, aufgrund dessen die Heime in Niederösterreich geräumt wurden, ist von psychischer und physischer Gewalt die Rede, außerdem soll es zu unzulässiger Bedarfsmedikation ohne ärztliche Versorgung gekommen sein.

Chronologie Therapeutische Gemeinschaften TG Heime

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Gegen die Therapeutischen Gemeinschaften gab es bereits zu einem früheren Zeitpunkt Vorwürfe, diese hatten sich jedoch nicht erhärtet

Die TG ist eine private Non-Profit-Organisation, die einen Vertrag mit dem Land Niederösterreich hatte. Sie kümmerte sich vor allem um Kinder und Jugendliche, die aus schwierigen Verhältnissen stammen und aufgrund von sozialen oder psychischen Schwierigkeiten besonders betreut werden müssen. Bereits in den Jahren 2016 und 2017 ging die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt diversen Vorwürfen gegen die TG nach. Weil sich der Verdacht aber nicht erhärtete, wurden die Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft im Mai 2017 eingestellt.

Warum wurden die Heime dann geschlossen?

Grund waren neuerliche Vorwürfe gegen die Therapeutischen Gemeinschaften, die unter anderem von einem ehemaligen Betreuer erhoben wurden. Laut einem damaligen Bericht des Nachrichtenmagazins „profil“ soll es zu Selbstmordversuchen, Sexualdelikten, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Diebstählen gekommen sein. Seitens der TG wies man das bis zuletzt entschieden zurück. Die Kinder und Jugendlichen seien schwer traumatisiert, daher käme es immer wieder zu psychischen Ausnahmezuständen, die allerdings sofort gemeldet würden.

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Der in der Landesregierung für Kinderheime zuständige Franz Schnabl (SPÖ) richtete Anfang Dezember eine Sonderkommission ein

Um sämtlichen Vorwürfen nachzugehen, richtete der zuständige Landesrat und designierte Landeshauptfrau-Stellvertreter Franz Schnabl (SPÖ) Anfang Dezember eine Sonderkommission - bestehend aus vier Mitgliedern - ein. Am 7. März 2018 wurden drei Heime in Jaidhof (Bezirk Krems), Ebenfurth (Bezirk Wr. Neustadt) und in Sitzendorf an der Schmida (Bezirk Hollabrunn) aufgrund von „gravierenden Missständen“ geräumt. So soll es eine personelle Unterbesetzung gegeben haben, gleichzeitig hätten die Qualifikationen der Mitarbeiter nicht den Vorgaben entsprochen. Seitens der Sonderkommission hieß es, dass bei einer weiteren Betreuung durch die TG „eine akute Gefährdung des Kindeswohles nicht auszuschließen gewesen“ sei.

Welche „gravierenden Missstände“ wurden seitens der Sonderkommission festgestellt?

Die Missstände wurden mit Verweis auf den „Schutz aller Beteiligten“ bis heute nicht näher erläutert. Bei den Vorwürfen gehe es um allfällige strafrechtliche Handlungen sowie um den höchstpersönlichen Lebensbereich, weshalb der Endbericht der Sonderkommission nie veröffentlicht wurde.

Seitens der Sonderkommission wurde aber darauf verwiesen, dass im Zuge der Erhebungen Tausende Seiten an Dokumenten gesichtet wurden. Außerdem wurden Gespräche mit 54 Personen geführt sowie sechs Besichtigungen gemacht. Gleichzeitig seien bei einer Hotline, die für etwaige Beschwerden eingerichtet worden war, 25 Hinweise eingegangen. Die Ergebnisse der Sonderkommission wurden bei der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt zur Anzeige gebracht. Ebenso eingegangen ist dort eine Anzeige von NEOS wegen des Verdachts des Fördermissbrauchs und der Veruntreuung sowie - bereits Anfang Dezember - eine Sachverhaltsdarstellung der Grünen.

Was sagt die Staatsanwaltschaft zu den Vorwürfen?

Laut Erich Habitzl, dem Sprecher der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, werden die Vorwürfe derzeit geprüft. Im Gegensatz zu den bereits eingestellten Ermittlungen soll es sich bei den Anzeigen des Landes Niederösterreich sowie von NEOS weitgehend um neue Vorwürfe handeln. Nach der Prüfung der Vorwürfe soll entschieden werden, ob und in welchem Umfang Ermittlungen eingeleitet werden.

Bereits weitgehend geprüft wurde die eingebrachte Sachverhaltsdarstellung der Grünen. 15 von 16 Vorwürfen seien inzwischen verworfen worden. Diese seien ident mit jenen Vorwürfen, die bereits im Zuge von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen überprüft wurden. Damals ging es um den Verdacht des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger Personen. Dieser richtete sich gegen zwei Mitarbeiter der TG. Die Vorwürfe wurden nach Auskunft des Landes 2016 zur Anzeige gebracht, die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt stellte die Ermittlungen im Mai 2017 ein.

Offen ist von der Sachverhaltsdarstellung der Grünen daher lediglich ein einziger Vorwurf, der aufgrund der territorialen Zuständigkeit an die Staatsanwaltschaft Krems abgetreten wurde. Die Ermittlungen in diesem Punkt sind nach wie vor im Laufen. Um welchen Vorwurf es sich konkret handelt, wird seitens der Staatsanwaltschaft Krems nicht bekanntgegeben. Auch die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt gibt zu den dort zur Anzeige gebrachten Vorwürfen keine Stellungnahme ab.

Es soll auch ein Mordkomplott gegeben haben. Was steckt dahinter?

Ein Verdächtiger soll im Jänner 2018 mit einem Messer bewaffnet um das Haus des TG-Geschäftsführers Hermann Radler in Ebenfurth geschlichen sein. Seitens der Staatsanwaltschaft hieß es damals, dass „es den Plan gegeben haben dürfte, eine Person zu überfallen, dessen Auto zu rauben und eventuell diese Person zu töten“. Weil ein mutmaßlicher Komplize des Beschuldigten den Geschäftsführer rechtzeitig informiert haben soll, konnte der Verdächtige von der Polizei überwältigt und festgenommen werden.

Laut Staatsanwaltschafts-Sprecher Habitzl laufen die Ermittlungen noch. Dabei geht es um den Verdacht eines verbrecherischen Komplotts sowie um den Verdacht des Mordversuchs. Ein Jugendlicher, der damals festgenommen wurde, sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft.

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Neben den festgestellten Missständen ermittelt die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt auch wegen eines möglichen Mordversuchs

Wie geht es nach der Schließung mit den Heimen der Therapeutischen Gemeinschaften weiter und was ist mit den Kindern passiert?

Nachdem das Land Niederösterreich die Verträge mit den Therapeutischen Gemeinschaften aufgelöst hatte, mussten die TG inzwischen Insolvenz anmelden. Seitens der TG heißt es, dass man den „Zahlungsverpflichtungen nach der übereilten, sofortigen Schließung der TG-Einrichtungen in Niederösterreich nicht mehr nachkommen“ könne. Laut Gründer und Geschäftsführer Hermann Radler sei den TG Unrecht angetan worden. Er spricht von einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ der Behörden, mit der die „Rechte der Kinder“ mit Füßen getreten worden seien.

Laut den TG sind von der Insolvenz 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen. 50 von ihnen wurden am Donnerstag gekündigt. Um die weiteren Fälle muss sich der vom Gericht zu bestellende Masseverwalter kümmern. Dabei handle es sich um Mitarbeiterinnen, die aufgrund von Karenzen oder auch Schwangerschaften einen erhöhten Kündigungsschutz hätten.

Insgesamt waren in den drei geräumten Heimen 16 Kinder und Jugendliche untergebracht. Sie wurden im Auftrag der Behörde in andere Unterkünften gebracht, dabei soll es sich größtenteils um Landeseinrichtungen sowie um eine private Einrichtung handeln. In einer Stellungnahme aus dem Büro des designierten Landeshauptfrau-Stellvertreters Franz Schnabl hieß es, dass man die Verantwortung für jene Kinder und Jugendlichen habe, „die – aus unterschiedlichsten Gründen – leider nicht zu Hause aufwachsen können“. Für alle Kinder seien jedenfalls adäquate Unterkünfte gefunden worden.

Es gibt auch scharfe Kritik an den Ergebnissen der Sonderkommission. Was wird kritisiert und von wem?

Neben dem Geschäftsführer der Therapeutischen Gemeinschaften gibt es auch innerhalb der SPÖ scharfe Kritik an der Sonderkommission. Diese wurde ja vom zuständigen Landesrat Franz Schnabl (SPÖ) einberufen. Für Alfredo Rosenmaier, Klubobmann der SPÖ und Bürgermeister von Ebenfurth, wo eines der Jugendheime geschlossen wurde, sind die Vorwürfe der Sonderkommission unverständlich. „Ich kann die Anschuldigungen, die seitens der Sonderkommission erhoben werden, überhaupt nicht nachvollziehen. Psychische oder physische Tyrannei ist mir niemals, nicht einmal im Ansatz, aufgefallen“, so Rosenmaier.

Alfredo Rosenmaier SPÖ

Herbert Käfer

SPÖ-Klubobmann und Bürgermeister Alfredo Rosenmaier übt scharfe Kritik an der von seinem Parteikollegen Schnabl eingerichteten Sonderkommission. Die Vorwürfe seien nicht nachvollziehbar

Rosenmaier übt auch Kritik an Rechtsanwältin Simone Metz, die von Schnabl mit der Leitung der Sonderkommission beauftragt wurde. Sie habe kurz vor ihrer Tätigkeit für die Sonderkommission noch einen ehemaligen Jugendleiter der TG vertreten, der diverse Vorwürfe gegen die Therapeutischen Gemeinschaften öffentlich machte. Zu dieser Kritik der etwaigen Unvereinbarkeit, die auch seitens der TG vorgebracht worden war, sagte Metz, dass die Namen ihrer Klienten der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegen würden. Sie hätte ihre Aufgabe für die Kommission objektiv und unabhängig wahrgenommen.

Im Büro Schnabls verwies man darauf, dass für die Behörde bei derartigen Entscheidungen das Kindeswohl im Vordergrund stehe. Rosenmaier sei nicht in die Erhebungen der Sonderkommission eingebunden gewesen. Auf Basis der von der Kommission aufgezeigten Verfehlungen sei zu handeln gewesen.

Was hat es mit der Studie auf sich, die 2016 veröffentlicht wurde und den TG damals noch ein gutes Zeugnis ausstellte?

Die Studie wurde unter Federführung der Expertin Silke Birgitta Gahleitner durchgeführt. Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und zuständig für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention. Sie und ihr Team führten - damals noch an der Donau-Universität Krems - von 2014 bis 2016 eine umfassende Studie über die Heime der Therapeutischen Gemeinschaften durch. Dabei wurden Interviews mit den Jugendlichen geführt, die Arbeit der Betreuer begleitet und die Umstände der Unterbringung beleuchtet. Laut Gahleitner ging die Studie in einem ersten Schritt auf ein EU-Projekt zurück, später hat es auch einen Forschungsauftrag der Therapeutischen Gemeinschaften gegeben.

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Expertin Silke Birgitta Gahleitner kam in ihrer 2016 veröffentlichten Studie zu einem gänzlich anderen Ergebnis als die Sonderkommission

Gahleitner kam in ihrer ausführlichen Evaluierung zu dem Schluss, dass die Ergebnisse auf eine „überdurchschnittliche Qualität der Einrichtung“ hinweisen würden. So hätten die Jugendlichen immer wieder auf die gute Beziehungsqualität sowie die gute und soziale Einbettung in der Einrichtung hingewiesen. „Aufgrund dieser Ergebnisse ist es für mich eigentlich überhaupt nicht vorstellbar, dass die Einrichtung in so kurzer Zeit seit dieser Evaluation auf ein Niveau gesunken sein soll, welches eine so massive Herausnahme von den dort wohnenden Kindern rechtfertigt“, so Gahleitner, die sich über die derzeitigen Vorgänge „zutiefst erschüttert“ zeigte. Sie hoffe auf eine umfassende Aufklärung.

Aus dem Büro des zuständigen designierten Landeshauptfrau-Stellvertreters Schnabl verwies man darauf, dass die im Raum stehende Studie zu einem früheren Zeitpunkt erstellt wurde. „Bei den Untersuchungen der Sonderkommission handelt es sich hingegen um Erkenntnisse zum heutigen Zeitpunkt“, so das Argument. Das Vorgehen sieht man aufgrund der festgestellten Missstände jedenfalls gerechtfertigt.

Was ist - kurz zusammengefasst - also jetzt noch offen?

Offen sind die Erhebungen der Staatsanwaltschaften Krems und Wiener Neustadt. In Krems ist eine Ermittlung anhängig, die von den Grünen ins Laufen gebracht wurde. Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt wiederum beschäftigt sich derzeit mit der Anzeige aufgrund der Ergebnisse der Sonderkommission sowie einer Anzeige von NEOS. Beide Anzeigen werden derzeit geprüft, unklar ist noch, ob die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleiten wird.

Ebenfalls offen ist, welche konkreten Vorwürfe derart gravierend waren, dass sie eine sofortige Schließung der Heime rechtfertigen. Seitens des Landes wird mit „Gefahr in Verzug“ argumentiert. Die festgestellten Missstände wurden mit Verweis auf den Schutz der Opfer bis heute nicht veröffentlicht.

Was die Insolvenz der Therapeutischen Gemeinschaften betrifft, so landet der Fall bei einem Masseverwalter. Dieser muss das vorhandene Vermögen sowie die Ansprüche diverser Gläubiger bzw. der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammentragen. Danach muss er entscheiden, ob und inwieweit die Heime der TG fortgeführt werden können, oder ob die TG in den Konkurs geschickt werden.

Thomas Puchinger, noe.ORF.at

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