Vom tristen Image zur gefragten Zuzugsgemeinde

Die berühmte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ machte Gramatneusiedl (Bezirk Bruck/Leitha) in den 1930er Jahren bekannt. Heute ist der Ort eine gefragte und innovative Zuzugsgemeinde im Großraum Wiens.

Die ehemals florierende Textilfabrik, die dem Gramatneusiedler Ortsteil Marienthal seinen Namen gab, führte im 20. Jahrhundert zu einem regelrechten Zuzug in die zugehörige Arbeitersiedlung. Als die Fabrik vor knapp 100 Jahren geschlossen wurde, verloren beinahe alle Bewohner Marienthals auf einen Schlag ihre Arbeit.

Der Zuzug fand ein jähes Ende, lediglich Wissenschafter verschlug es in die Gegend kollektiver Arbeitslosigkeit. Ein sozialwissenschaftliches Team rund um Marie Jahoda, ihrem Ehemann Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel untersuchte in der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ die Auswirkungen langanhaltender Arbeitslosigkeit. Die Studie zählt heute zu den Klassikern der Soziologie und empirischen Sozialforschung und rückte Marienthal ins internationale Rampenlicht.

Gramatneusiedl

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Museum, Denkmäler, Kunstwerke und Publikationen erinnern heute an die Arbeitslosen der 1930er Jahre

Von den Textilzeiten und der darauffolgenden Arbeitslosigkeit zeugen heute ein kleines Museum am ehemaligen Fabriksareal sowie Denkmäler und Kunstobjekte in ganz Gramatneusiedl. Das triste Image gehört mittlerweile aber der Vergangenheit an.

Heute ist Gramatneusiedl wieder eine gefragte Zuzugsgemeinde im Großraum Wien. Der Ort beheimatet einen Knotenpunktbahnhof zwischen der slowakischen Hauptstadt Bratislava und Wien, der täglich hunderte Pendler anlockt. Dass der Altersschnitt der 3.000-Einwohnergemeinde wieder sinkt, zeigt unter anderem der siebengruppige Kindergarten, der heuer um zwei weitere Gruppen ausgebaut wird.

Handy-App ersetzt Weg zum Gemeindeamt

Zudem gibt es in der Marktgemeinde heute digitale Angebote. Wer in Gramatneusiedl eine defekte Straßenlaterne entdeckt, sich täglich über dasselbe Schlagloch ärgert oder einen von seiner Halterung abgerissenen Mistkübel entdeckt, greift beispielsweise immer öfter zum Handy oder Computer statt zum Telefonhörer. Der persönliche Weg zum Gemeindeamt bleibt wichtigen Erledigungen vorbehalten.

In Gramatneusiedl setzt man auf eine Website namens buergermeldungen.com. Wer einen Mangel im Gemeindegebiet feststellt, kann etwa über die entsprechende App am Smartphone eine Meldung an die Gemeinde abschicken. Diese enthält für die Gemeindebediensteten neben dem genauen Standort auch eine kurze Beschreibung des Schadens. Wer möchte, kann auch Fotos machen und mitschicken. Bürgermeisterin Erika Sikora (SPÖ) spricht von „Schadensmeldungen in Echtzeit“.

17.01.19 Im Blickpunkt Gramatneusiedl Handy App Bürgermeldungen

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Wer Schäden in der Gemeinde entdeckt, kann via App die Reparatur anfordern

Vorteile für Einwohner und Gemeinde

Nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger sei das moderne Kommunikationssystem eine Verbesserung, sagt Bürgermeisterin Sikora, sondern auch die Gemeindeverwaltung habe sich vereinfacht: „Viele Augen sehen einfach mehr. Wenn Schäden auftreten, welche die Bürger früher bemerken als wir, können wir viel schneller reagieren. Außerdem übernimmt das Programm einige Schritte automatisch.“

Je nachdem, um welchen Schaden es sich handelt, wird die jeweilige Meldung nicht nur aufs Gemeindeamt, sondern parallel auch zum Bauhofteam oder an den zuständigen Elektriker geschickt. Das hat den Vorteil, dass Mängel auch dann registriert und behoben werden können, wenn das Gemeindeamt zu diesem Zeitpunkt geschlossen ist.

Der Pensionist Karl Solar verwendet das Onlinetool seit einigen Wochen: „Die Gemeinde hat nicht 24 Stunden am Tag geöffnet, da ist das einfach praktisch. Manche ältere Einwohner, die keinen Computer haben, gehen nach wie aufs Gemeindeamt. Für sie ändert sich ja nichts, aber für die anderen ist es besser. Im Normalfall ist alles auch binnen zwei oder spätestens drei Tagen behoben.“

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In Gramatneusiedl werden Defekte einfach per App gemeldet

Das Programm, das sowohl am Smartphone als auch am Computer funktioniert, wird gut angenommen, die Liste der Meldungen wird immer länger. Die Nachrichten sind für alle Nutzerinnen und Nutzer sichtbar, sodass Mehrfachnennungen desselben Schadens seltener werden. „Früher ist es häufiger vorgekommen, dass mehrere Menschen wegen derselben Situation angerufen haben. Mit dem Programm sieht man auf einen Blick, ob schon jemand vor mir denselben Mangel festgestellt hat“, erklärt Sikora. Jede Meldung ist auch mit einem Status versehen, sodass Nutzerinnen und Nutzer verfolgen können, welcher Schaden in der Zwischenzeit behoben wurde und welche Meldungen sich noch in Bearbeitung befinden.

Digitales Zutrittssystem zum Altstoffzentrum

Gramatneusiedl führte als österreichweit erste Gemeinde ein elektronisches Zutrittssystem zum Altstoffsammelzentrum ein. Mit der entsprechenden Freischaltung auf der E-Card können die Einwohnerinnen und Einwohner des Ortes von Montag bis Samstag Sperrmüll, Grünschnitt und Müll entsorgen und sind nicht länger an die spärlichen Öffnungszeiten an einzelnen Samstagen gebunden.

Das Service wird von fast allen Einwohnerinnen und Einwohnern Gramatneusiedls genutzt, wie beim Lokalaugenschein von noe.ORF.at deutlich wird. Kaum verlässt ein Auto den Altstoffsammelplatz, rollt der nächste Pkw heran. Manfred Graf ist regelmäßig hier anzutreffen: „Müll fällt dauernd an. Es ist einfach gut, wenn ich ihn nicht bis zum nächsten Termin in ferner Zukunft daheim lagern muss, sondern jederzeit damit herkommen kann.“

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Wer die E-Card freigeschaltet hat, hat jederzeit Zutritt zum Altstoffzentrum

Auch das Foyer des Gemeindeamtes ist rund um die Uhr mit der E-Card zugänglich. Dort wurde ein Kasten mit versperrbaren Schließfächern aufgestellt, wo die Bewohnerinnen und Bewohner Gegenstände hinterlegen oder abholen können. „Wir merken besonders bei den jungen Familien, die nach Gramatneusiedl ziehen und zur Arbeitsstätte pendeln, dass sie sich schwerer tun, ihre Erledigungen zu den Gemeindeöffnungszeiten zu machen. Solche Neuerungen werden daher immer mehr erforderlich werden“, so die Bürgermeisterin.

Veronika Berger, noe.ORF.at

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