Frauenmorde: „Es geht um Machtausübung“

In Österreich sind heuer bereits fünf Frauen getötet worden, vier davon in Niederösterreich. „Bei diesen Taten geht es um Machtausübung“, sagt Psychiater Reinhard Haller. „Die Täter machen das im Prinzip in aller Öffentlichkeit.“

In Tulln wurde erst am Montag eine Frau von ihrem Ehemann auf einem Parkplatz eines Supermarktes erstochen. In Wiener Neustadt war am 13. Jänner die Leiche einer 16-Jährigen in einem Park gefunden worden, tatverdächtig ist ihr Ex-Freund. In Krumbach (Bezirk Wiener Neustadt) wurde am 9. Jänner eine Frau vor ihrem Wohnhaus getötet, in Amstetten kam es am 8. Jänner zu einer tödlichen Attacke auf eine Frau.

Zwei Mal war die Tatwaffe ein Messer bzw. in einem Fall ein Dolch, jedes Mal war der Tatverdächtige ein Mann und jedes Mal stand er in einem Naheverhältnis zum Opfer. „Es steckt weniger Verzweiflung oder Neid dahinter als das Gefühl der Rache und Machtausübung“, sagt der Psychiater und Gerichtssachverständige Reinhard Haller im „Niederösterreich heute“-Interview.

noe.ORF.at: Das neue Jahr ist erst etwas mehr als drei Wochen alt. Trotzdem sind im neuen Jahr schon fünf Frauen getötet worden. Ist das Zufall oder gibt es hier so etwas wie Nachahmung?

Reinhard Haller: Es fällt mir schwer, hier nur an einen Zufall oder an eine statistische Abweichung zu denken. Ich glaube schon, dass diese Delikte, weil sie sehr spezifisch sind, einiges mit Nachahmung zu tun haben.

noe.ORF.at: Was geht in jemandem vor, der einen anderen tötet?

Haller: Bei diesen Taten ist das besondere, dass es um Machtausübung geht. Die Täter bringen jemand anderen um - aus der Nähe mit einem Messer. Sie flüchten nicht, sie versuchen nicht, die Tat zu verbergen, sie bringen sich auch selbst nicht um. Sie machen das im Prinzip in aller Öffentlichkeit. Es hat sehr viel mit Demonstration zu tun. Dahinter stecken weniger Verzweiflung, Neid oder solche Gefühle, als jene der Rache und Machtausübung.

noe.ORF.at: Können Menschen wie Sie und ich auch zum Mörder werden?

Haller: Das ist eine sehr oft gestellte Frage. Ich glaube das nicht. Warum? Mord ist ein strafrechtlicher Begriff. Das setzt einen Plan, einen bösen Willen voraus. Und ich glaube nicht, dass jeder Mensch dazu in der Lage ist. Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch irgendwann einmal zum Töter werden kann - in einer Notwehrsituation, in einem heftigen Affekt oder in einem Vollrausch. Das halte ich für möglich, dass diese Schwelle zum Töten eines anderen überschritten werden kann. Aber ich glaube nicht, dass in jedem Menschen ein Mörder steckt.

Reinhard Haller

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ORF-NÖ-Reporter Gernot Rohrhofer im Gespräch mit Psychiater Reinhard Haller

noe.ORF.at: Greift man heute schneller oder ungenierter zu einem Messer oder zu einer Schusswaffe?

Haller: Wir können in der internationalen Entwicklung der Kriminalität tatsächlich beobachten, dass die Taten immer motivarmer werden. Das heißt, aus Nichtigkeiten, Kleinigkeiten oder Kränkungen heraus kommt es zu überschießenden Reaktionen. Und es ist tatsächlich so, dass Menschen viel eher zu Waffen greifen. Hier zu jenen, die immer vorhanden sind - also das Messer.

noe.ORF.at: Würden Waffenverbote etwas bringen?

Haller: Was Schusswaffen betrifft sehr wohl. In den USA haben wir viel, viel mehr Tote durch Schusswaffen - sowohl Selbstmorde, als auch Tötungen, als auch Unfälle. Aber Sie werden bezüglich Messer, denke ich mir, keinen Erfolg haben, weil es ein Alltagsgegenstand ist, der im Prinzip in jedem Raum vorhanden ist.

noe.ORF.at: Welche Rolle spielt bei all diesen Taten denn die Kultur, die Sozialisierung?

Haller: Das hat schon einen gewissen Einfluss. Und zwar geht es hier immer um Verletzungen des Ehrbegriffes. Männer fühlen sich in ihrer Ehre gezwickt, wenn irgendjemand etwas anderes tut - wenn die Frauen sich nicht so verhalten, wie sie das möchten, wenn sie eigenständige Entscheidungen treffen. Und dann wird gleich mit einer maximalen Reaktion, mit einer heftigen Aggressionshandlung, oder auch mit einer Tötung geantwortet. Das ist etwas, das von der Kultur geprägt ist. Im EU-Raum spielt der Ehrbegriff keine so große Rolle mehr. In anderen Ländern ist er sehr hoch angesiedelt.

noe.ORF.at: Welche Länder waren das zum Beispiel?

Haller: Das sind vor allem Länder aus dem islamischen Kulturkreis, Staaten des Mittleren Osten. Dort ist es tatsächlich so, dass es viel mehr Ehrenmorde gibt. Nach einer Berechnung der Weltgesundheitsorganisation gibt es weltweit noch mehr als 10.000 Ehrenmorde. Betroffen davon sind fast ausschließlich Frauen.

Reinhard Haller Psychiater Gerichtsgutachter Frauenmorde

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„Taten werden immer motivarmer“, sagt Psychiater Reinhard Haller

noe.ORF.at: Der Verdächtige in Tulln hatte Bewährungshilfe bekommen, auch ein Anti-Gewalttraining. Das hat aufgrund einer Sprachbarriere aber nicht stattfinden können. Und er ist auch zu einer Psychotherapie geschickt worden. Trotzdem ist seine Frau jetzt tot. Gehen all diese Maßnahmen ins Leere?

Haller: Ich glaube nicht, dass man das absolut sagen kann, dass alle ins Leere gehen. Aber sie bringen auch nicht die hundertprozentige Lösung. Es ist sehr schwierig bei zwischenmenschlichen Delikten, die sich irgendwann einmal ereignen, wo man also nicht vorausplanen kann, wann eine Risikokonstellation entsteht - das kann am Abend sein, das kann in der Früh sein - präventive Maßnahmen zu setzen. Aber bei den bereits identifizierten Tätern, wie bei jenem in Tulln, ist es tatsächlich so, dass man natürliche jede Maßnahme, die man hat, zur Anwendung bringen muss. Das ist zum Beispiel Empathie-Training, das ist Anti-Gewalttraining, aber das bringt auch keinen hundertprozentigen Erfolg.

noe.ORF.at: Wie kann sich eine Frau vor diesen Taten schützen?

Haller: Kurzfristige Lösungen wird es nicht geben, deshalb ist es erforderlich, dass man möglichst viele Maßnahmen anwendet. In einem so komplexen Geschehen wie einer Tötung genügt nicht eine einzige. Es müssen sehr viele sein. Hier ist auch die Politik gefordert, möglichst viel zuzulassen, nicht alles zu kritisieren und abzuwehren. Mittelfristig wird es nur eine Änderung sein, wenn es zu einem respektvolleren Verhalten kommt. Wir leben in unserer Gesellschaft tatsächlich in einer Wertschätzungskrise, die besonders die Frauen betrifft. Das müsste wieder anders werden.

noe.ORF.at: Wo sehen Sie hier Versäumnisse in der Politik?

Haller: Ich weiß nicht, ob es die Politik ist, aber es ist allgemein eine gewisse Entwicklung, dass der wertschätzende Umgang miteinander nicht mehr stattfindet, man seine Emotionen zurückhält, Gefühle digitalisiert, die Hasssprache mehr pflegt, Menschen nur daran beurteilt, ob sie einen wirtschaftlichen Nutzen bringen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Das müsste darin gründen und dazu führen, dass man Schwachen und Kindern, Frauen, alten Menschen mit viel mehr Wertschätzung entgegentritt und, dass man es auch erträgt, wenn die sich anders entscheiden, als man das selbst gerne möchte.

Das Interview mit Reinhard Haller führte Gernot Rohrhofer, noe.ORF.at

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