Enquete über Dezentralisierung im Bundesrat
ORF/Reinhard Linke
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Politik

Enquete: Mehr Chancen für ländlichen Raum

Der Bundesrat hat sich am Mittwoch in einer Enquete mit dem Titel „Nah am Menschen“ mit den Chancen der Dezentralisierung beschäftigt. Der ländliche Raum müsse als attraktiver Lebensraum erhalten bleiben. Bei der Tagung wurde auch ein Blick über die Staatsgrenzen gemacht.

In Frankreich gebe es eine zunehmende Spannung zwischen den Bewohnern der dynamischen städtischen Zentren, wo sich 90 Prozent der qualifizierten Arbeitsplätze befinden, und der Bevölkerung im ländlichen und suburbanen Raum, die überwiegend der unteren Mittelschicht zuzuordnen ist. Hinter der Bewegung der Gelbwesten stehe vor allem die Angst der Bevölkerung auf dem Lande, bei den staatlichen Infrastrukturleistungen zu kurz zu kommen, sagte Stefan Seidendorf, stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg (Deutschland).

„Spanisches Lappland“: Acht Einwohner pro km²

Auch in Spanien werden Debatten über die Chancen und Lebensverhältnisse im ländlichen Raum geführt. Spanien sei heute von einer Landflucht geprägt, die nicht nur die ländlichen Regionen, sondern auch die regionalen städtischen Zentren betrifft, betonte Mario Kölling von der Spanischen Nationalen Fernuniversität in Madrid, und sprach in diesem Zusammenhang vom sogenannten spanischen Lappland, wo nur noch weniger als acht Einwohner pro Quadratkilometer leben. Verschärft werde die Situation noch dadurch, dass im Gefolge des demografischen Wandels die Zahl der Gesamtbevölkerung des Landes sinkt.

Die Bevölkerung in den nordischen Ländern delegiere die Verantwortung gern von unten nach oben, sagte Rudolf Hermann, Nordeuropa-Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“, daraus resultiere ein relativ hoher Zentralisierungsgrad der politischen Systeme.

Der nordische Gesellschaftsentwurf des egalitären Staates habe als zentrale Forderung, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Wohnort Zugang zu gleichwertigen Leistungen des Sozialstaats haben sollen. Dies führe in der Praxis aber dazu, dass Zentralregierungen in den Hauptstädten aus einer urbanen Blase heraus agieren, in der die Bedürfnisse der Landregionen unter den Tisch fallen, gab Hermann zu bedenken. Landgemeinden seien oft räumlich stark isoliert, was wiederum eine starke Landflucht zur Folge hat.

Bader: „Verlagerung von Bundesdienststellen prüfen“

Karl Bader (ÖVP), Initiator der Enquete, Bundesratspräsident und Bürgermeister von Rohrbach an der Gölsen (Bezirk Lilienfeld), warnte vor einer Vernachlässigung ländlicher Gebiete. Den ländlichen Raum als attraktiven Lebensraum zu erhalten und jungen Menschen vor Ort Perspektiven anzubieten, sei eine der zentralen Aufgaben der Politik in den nächsten Jahren. Die Abwanderung, insbesondere von jungen Frauen, wirke sich negativ auf das gesamte Sozial- und Wirtschaftsgefüge im ländlichen Raum aus.

Damit Menschen im ländlichen Raum bessere Zukunftsperspektiven haben, brauche es eine taugliche Infrastruktur, gute Arbeitsplätze, zeitgemäße Bildungsangebote und eine gute Gesundheitsversorgung, so Bader. Der Präsident des Bundesrates schlug vor, Bundesbehörden in den Regionen anzusiedeln: Dadurch könnten mehrere tausend qualifizierte Arbeitsplätze in den ländlichen Raum bzw. die Bundesländer gebracht werden. Es werde heuer noch eine entsprechende Gesetzesinitiative geben, die eine Prüfpflicht bei der Errichtung von neuen Bundesdienststellen vorsieht.

Wilfing: „500 Arbeitsplätze in periphere Regionen“

Digitalisierung und Dezentralisierung werden in den kommenden Jahren immer stärker an Bedeutung gewinnen, unterstrich der Präsident des Niederösterreichischen Landtages, Karl Wilfing (ÖVP). Sie stellten wichtige Instrumente dar, um insbesondere die ländlichen Regionen zu stärken und um sie für Bürgerinnen und Bürger attraktiver zu gestalten.

Mit der Dezentralisierungsoffensive werde das Ziel verfolgt, den Bediensteten wohnortnahe Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, so Wilfing: „Damit werden gleichzeitig die Regionen gestärkt und eine bürgernahe und effiziente Verwaltung direkt vor Ort gewährleistet.“ In den kommenden Jahren sollen insgesamt 500 Arbeitsplätze dauerhaft oder tageweise in periphere Regionen verlagert werden, bis heute wurden schon mehr als 130 Telearbeitsplätze geschaffen.

BR-Enquete zum Thema „Nah an den Menschen. Bereit für die Zukunft. – Chancen der Dezentralisierung"
Parlamentsdirektion/Thomas Topf
Bei der Enquete im Bundesrat wurde auch ein Blick über Österreichs Grenzen hinaus geworfen

Österreichs Einwohnerzahl wächst ständig

Die demographischen Prozesse innerhalb Österreichs laufen regional sehr unterschiedlich ab, betonte Stephan Marik-Lebeck von der Statistik Austria in seinem Beitrag zum demographischen Wandel in Österreich. Der Gegensatz zwischen Ballungsräumen und peripheren Gebieten werde anhand der unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur sichtbar. Während sich die jüngere Bevölkerung in den Städten konzentriere und die Bevölkerungsdichte durch internationale Zuwanderung steige, verbleibe die ältere Bevölkerung überproportional in Abwanderungsgebieten.

Seit dem Jahr 2000 ist Österreichs Einwohnerzahl um ungefähr 800.000 Personen gestiegen, der Großteil davon aufgrund von Zuzügen nach Österreich. Zusätzlich gab es um 40.000 Geburten mehr als Sterbefälle, informierte der Experte der Statistik Austria.

Nicht nur Zuzüge aus dem Ausland, auch Gesellschaftswanderungen innerhalb Österreichs wirken sich auf die Zusammensetzung der Bevölkerung aus. Daran seien bestimmte Bevölkerungsgruppen signifikant beteiligt. Einerseits ziehe es junge Erwachsene für die Bildung in größere Städte, andererseits gebe es eine Suburbanisierung bei Familiengründungen, außerdem wirken sich Ruhestandswanderungen in die Herkunftsbezirke markant aus.