Ernst Gelegs 1989 an der Zollstation Berg
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Chronik

Ernst Gelegs: „Hungrig nach Informationen“

Mitte November 1989 protestieren in Prag Hunderttausende für Freiheit und Demokratie. Der ORF hat damals ausführlich über diese historischen Momente berichtet. Ganz vorne dabei war Ernst Gelegs – damals 29 Jahre alt, heute ORF-Korrespondent in Ungarn. Eva Steinkellner-Klein hat ihn zum Interview an den damaligen Schauplätzen getroffen.

Es war der Anfang vom Ende des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei. Am 4. Dezember 1989 konnten die Menschen aus der CSSR erstmals ohne Visum nach Österreich reisen. Zuvor war am ehemaligen Zollamt Berg (Bezirk Bruck an der Leitha) die Grenze zwischen Österreich und der damaligen Tschechoslowakei. ORF-Korrespondent Ernst Gelegs berichtete unter anderem von dort über die Geschehnisse im Nachbarland.

Ernst Gelegs und Eva Steinkellner-Klein an der Grenze
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Vor 30 Jahren berichtete Ernst Gelegs aus Berg, wo am 10. Dezember 1989 zigtausende Menschen beim „Marsch der Freiheit“ von Bratislava nach Hainburg die Staatsgrenze überquerten

noe.ORF.at: Sie waren damals als junger Journalist für den ORF Niederösterreich unterwegs, als der „Eiserne Vorhang“ gefallen ist. War damals für Sie klar, dass das ein historischer Moment war, dass da gerade Geschichte geschrieben wird?

Ernst Gelegs: Nein, das war nicht klar. Das haben wir damals nicht abschätzen können, dass das so eine Riesensache wird. Und vor allem, dass das alles innerhalb von drei Wochen erledigt war.

noe.ORF.at: Wir stehen jetzt auf österreichischem Staatsgebiet. Hinter uns ist tatsächlich die Todeszone verlaufen: Mit Minenfeldern, Stacheldraht, Soldaten und Hunden. Hat man als Journalist gewusst, was sich auf der anderen Seite der Grenze abgespielt hat?

Gelegs: Man hat gewusst, dass die Befestigungsanlagen gefährlich sind, dorthin sind wir gar nicht gegangen. Man wusste aber auch aus Ungarn, dass die Grenze nicht mehr so genau bewacht wurde. Das Geld war nicht mehr vorhanden, die Grenze so hunderprozentig dichtzuhalten, wie sie es noch in den 1970er Jahren war. Es muss nach dem 16. November 1989 gewesen sein: Ein Zollwachebeamter vom Zollamt Berg hat in der Redaktion des Landesstudios Niederösterreich angerufen. Er hat erzählt, dass sie erfahren haben, dass in der Hauptstadt Bratislava bereits seit Stunden demonstriert wird. Da sind wir dann einach hingefahren.

noe.ORF.at: Hatten Sie Angst oder zumindest Respekt vor dem Regime, das so brutal vorgegangen ist?

Gelegs: Ja, eine Riesenangst. Ich hab’ genau gewusst: Das tut nicht gut, jetzt ohne Pass hinüberzufahren. Aber wir waren hungrig nach Informationen.

Ernst Gelegs und Eva Steinkellner-Klein an der Grenze
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Ernst Gelegs und Eva Steinkellner-Klein in Bratislava, nur wenige Kilometer vom Zollamt Berg entfernt

noe.ORF.at: Wir stehen jetzt im Zentrum von Bratislava, der Hauptstadt der Slowakei. Hier haben sich damals die Demonstranten versammelt. Sie waren als einer des Teams des ORF Niederösterreich dabei. Wie war die Stimmung? Hatten Sie das Gefühl, dass das eine Dynamik hat, die sich nicht mehr aufhalten lässt?

Gelegs: Nein, dieses Gefühl hatte ich nicht. Aber ich hatte ein mulmiges und angstvolles Gefühl, weil keine Reisepässe mithatten. Wir sind dort drüben gestanden, und da war diese riesige Menschenmenge, die friedlich demonstriert hat. Wir sind aufgefallen, weil wir eine Kamera mithatten. Wir wussten, dass die Behörden nicht gerne Medien in ihrem Land haben.

noe.ORF.at: Die staatlichen Medien der Slowakei haben damals nicht über die Demonstrationen berichtet. Wie wichtig war der ORF damals als Informationsquelle?

Gelegs: Der ORF war unglaublich wichtig, vor allem für die Menschen in der Slowakei und in Bratislava, denn sie konnten den ORF problemlos empfangen. Die meisten Leute haben damals auch noch Deutsch gesprochen und sich heimlich die „Zeit im Bild“ angesehen.

noe.ORF.at: Die Demonstration wurde von den Sicherheitskräften niedergeprügelt, hunderte Studenten wurden von der Polizei krankenhausreif geschlagen. Der „Eiserne Vorhang“ ist dann dennoch gefallen, viele politische Beobachter sagen, dass das unerwartet kam. War das auch Ihr Eindruck?

Gelegs: Das Tempo war unerwartet. Am 17. November 1989 war das letzte Aufbäumen eines Regimes, das nach und nach erkannt hat, dass seine Zeit vorbei ist. Deswegen haben die Demonstranten auch ihre Schlüsselbünden geschwenkt, weil sie damit einläuten wollten, dass die Zeit der Regierung abgelaufen sei. Gott sei Dank hat die Staatsführung der Tschechoslowakei das auch erkannt, sie haben widerstandslos die Staatskanzleien geräumt.