Spielendes Kind im Autismus-Zentrum
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Soziales

Erstes Zentrum für autistische Kinder

Bei immer mehr Kindern wird Autismus diagnostiziert. Schätzungen zufolge ist jedes 100. Kind betroffen. In St. Pölten ist am Mittwoch das erste Autismuszentrum Niederösterreichs eröffnet worden. In seiner jetzigen Form ist es auch österreichweit einzigartig.

Das Ambulatorium Sonnenschein platzte aus allen Nähten. Das neue Autismuszentrum gleich gegenüber bietet jetzt Platz für Kinder mit besonders schweren Erkrankungsformen. Lautes Gedränge auf dem Bahnhof, unbekannte Situationen, einkaufen in einem neuen Supermarkt – was für viele Kinder ein Abenteuer ist, wird für autistische Kinder schnell zur Belastungsprobe. Denn Reize zu filtern fällt ihnen schwer, erklärt Sonja Gobara, die ärztliche Leiterin des neuen Autismuszentrums in St. Pölten. Das mache soziale Interaktion schwierig: „Bevor die Kinder zu uns kommen, sind sie hyperaktiv, nehmen keinen Blickkontakt auf und können nicht mitteilen, was sie möchten.“ Zum Teil würden diese Kinder auch von ihren Eltern nicht verstanden.

Im Autismuszentrum bekommen Kinder medizinische und psychologische Hilfe. Auch Angebote wie Ergotherapie und Logopädie helfen den Kindern bei der Bewältigung ihres oft überfordernden Alltags. Die St. Pöltnerin Alsina Zinnorova kam drei Jahre lang mit ihrem heute siebenjährigen Sohn zu Therapien. Er wurde dadurch ruhiger und lernte hier zu sprechen. Für sie war das „ein enorm großer Schritt“. Jetzt könne er sich in ganzen Sätzen ausdrücken. „Mittlerweile geht er in die erste Klasse. Er liest, schreibt, zählt, kann die Farben und besucht mit anderen Kindern ganz normal die Volksschule“, erzählt Zinnorova.

Spielzeug im Autismus-Zentrum
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Auch Musikinstrumente werden im Zentrum für die Therapie eingesetzt

Symptome von Autismus:

Mögliche Indikatoren können sein, dass Kinder weder körperlich noch mit Blicken versuchen, Kontakt zu ihren Eltern zu suchen. Tendenziell weisen sie Entwicklungsverzögerungen auf, auch Schlafstörungen treten bei autistischen Kindern vermehrt auf. Außerdem reagieren sie bereits sehr früh aggressiv und gestresst auf unerwartete und veränderte Situationen. Ein Großteil der autistischen Kinder ist motorisch auffallend unruhig. Begleitet werden die Symptome beispielsweise durch eine Häufung von Angststörungen, Ticks oder Zwängen.

Behandlungskosten werden übernommen

Autistische Kinder fordern ihre Eltern nicht nur in der Erziehung, sondern oft auch finanziell. Viele Therapien sind teuer. Die Kinder im Autismuszentrum bekommen hochfrequente Behandlungen. Ihre Eltern kommen mit ihnen zwei- bis dreimal pro Woche über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren. Im Autismuszentrum Sonnenschein werden alle anfallenden Kosten von der Sozialversicherung und vom Land übernommen. Landeshauptfrau Mikl-Leitner (ÖVP) sprach bei der Eröffnung von einer „Selbstverständlichkeit“, denn „wenn man als Familie eine so große Herausforderung zu stemmen hat, dann muss die Behandlung gratis sein“.

Genutzt werden kann das österreichweit einzigartige Angebot derzeit nur von Familien im Zentralraum Niederösterreichs. Es gebe Familien, die nur aus diesem Grund übersiedeln würden, erzählt Leiterin Gobara. „Man kann sich also vorstellen, wie hoch der Leidensdruck dieser Familien ist.“ Gerade erst eröffnet, wird bereits am nächsten Ziel gearbeitet: an der Ausweitung der Angebote für viele weitere Kinder – beispielsweise in Form von kostenloser Beratung in Kindergärten. Denn je früher autistische Kinder erkannt werden, desto höher sind ihre Chancen, später ein selbstständiges Leben führen zu können.

Möglichst früher Behandlungsbeginn sinnvoll

Denn bis Autismus bei Kindern diagnostiziert wird, haben betroffene Kinder und deren Eltern oft einen schwierigen und langen Weg hinter sich. Nicht selten sind Schulprobleme der Grund für eine Zuweisung. Zu diesem Zeitpunkt sind aber bereits sechs Entwicklungsjahre verlorengegangen, so der auf Autismus spezialisierte Kinder- und Jugendpsychiater Christian Popow. Autisten, die in ihrer Kindheit keine Therapien bekommen hätten, würden „fast zu hundert Prozent nicht arbeiten können“, so Popow.

Dennoch sei die Krankheit „kein Schicksal“. Man könne einem großen Teil autistischer Kinder helfen, „und man kann versuchen, ihnen die Funktionen, die aufgrund einer Vernetzungsstörung im Gehirn entstanden ist, in den Griff zu bekommen“. Vorausgesetzt, die genetisch bedingte Erkrankung des Nervensystems wird möglichst früh diagnostiziert. Laut Gobara liege ein optimaler Behandlungsbeginn im Alter von etwa 18 Monaten vor. „Aus Erfahrung wissen wir, dass Eltern sehr früh ahnen, dass ihr Kind eine Form von Autismus haben könnte, meistens schon nach dem ersten Lebensjahr.“ Woran es dann aber oft mangelt, sind die entsprechenden Diagnosen.