Wissenschaft

Christian Rapp: „Wie unter dem Brennglas“

Vor 75 Jahren ist in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Für Christian Rapp, den Wissenschaftlichen Leiter des Hauses der Geschichte in St. Pölten, hat Niederösterreich innerhalb weniger Wochen im Frühjahr 1945 Krieg, Naziterror und Besatzung in all seinen Facetten erlebt.

noe.ORF.at: Obwohl es am 27. April 1945 die Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs und eine provisorische Staatsregierung gab, ging das sinnlose Morden der Nationalsozialisten weiter. Es kam zu einer ganzen Reihe von Endphaseverbrechen, etwa bei der Gemeinde Hofamt Priel (Bezirk Melk), wo noch am 2. Mai 228 jüdische Zwangsarbeiter getötet wurden. Warum hat das Regime noch einmal um sich geschlagen?

Christian Rapp: Es wurden nicht nur bei Hofamt Priel Juden ermordet, sondern noch viele andere, etwa bei den Todesmärschen, die noch Ende April und Anfang Mai durchgeführt wurden. Es hat noch reguläre Kampfhandlungen gegeben, etwa im Semmeringgebiet. Niederösterreich hat den Krieg in diesen Monaten noch in all seinen grauenhaften Facetten erlebt.

Gerade bei diesen Endphaseverbrechen war man oft auf Erzählungen von Zeitzeugen angewiesen. Diese wurden ja in Wirklichkeit sehr lokal entschieden, von einzelnen Personen. Die Muster sind aber sehr ähnlich: Immer wieder kam es dazu, dass man Juden und Jüdinnen in einer Baracke eingesperrt und diese dann angezündet hat, oder dass man auf einmal eine Gruppe irgendwo hintreibt und sie erschießt. Diese Verbrechen sind heute so schwer begreiflich.

Christian Rapp im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein
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Eva Steinkeller-Klein im Gespräch mit Christian Rapp im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich in St. Pölten

Aber es ist ganz wichtig, sich daran zu erinnern, auch weil sie so lange verschwiegen wurden. Man hat erst in den letzten zehn, 15 Jahren damit begonnen, diese Verbrechen zu dokumentieren. Vieles ist verdrängt worden, man weiß zum Teil nicht einmal mehr, wo die Leichen sind. Oft wurde auch niemand zur Verantwortung gezogen.

Der 27. April 1945 war ein sehr wichtiges Datum, vor allem aus politischer Sicht. Aber für die meisten Menschen war diese Unabhängigkeitserklärung eine Information, die sie gar nicht bekommen haben, die in ihrer Lebenswirklichkeit auch keine Rolle gespielt hat.

noe.ORF.at: Niederösterreich war sowjetisches Besatzungsgebiet. Wie war das Verhältnis zur Bevölkerung? Waren die sowjetischen Soldaten mehr verhasst als die anderen Besatzungsmächte?

Rapp: Es gab wahrscheinlich in Österreich schon immer eine tief sitzende Skepsis gegenüber den Slawen und den Russen, auch schon aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Aber die Nationalsozialisten haben diese Skepsis weiter geschürt. Tatsächlich hatten die Menschen damals eine Furcht vor den Soldaten, und die war nicht ganz unbegründet. Aber man muss unterscheiden: Die kämpfenden Truppen, die Ende März 1945 über die Bucklige Welt einmarschiert sind, wollten rasch weiterziehen. Diese Soldaten wollten nach Wien.

Was wirklich problematisch war, das war die Nachhut. Diese Truppen haben viele Verbrechen verübt. Es ist zu Vergewaltigungen und brutalen Übergriffen gekommen, vor allem, bevor die Militärs eine Kommandostruktur entwickelt haben. Danach wurden diese Verbrechen durchaus verfolgt. Aber wir haben tatsächlich allein in Niederösterreich und Wien mehr als 80.000 Meldungen von Frauen in Krankenhäusern. Dazu kommt, dass viele Frauen aus Scham geschwiegen haben. Vor allem im ländlichen Bereich fühlten sich viele Frauen durch eine Vergewaltigung entehrt. Da wurde sehr viel tabuisiert. Es gibt sicher noch einmal so viele Frauen, die sich hätten melden können, weil sie Ähnliches erlebt haben.

noe.ORF.at: Die Besatzungszeit lässt sich aber nicht nur auf diese Verbrechen reduzieren. Viele Zeitzeugen erzählen, dass die sowjetischen Soldaten beispielsweise zu Kindern ganz besonders freundlich waren.

Rapp: Ja, Kinder wurden absolut verschont, das berichten viele Zeitzeugen. Es gibt darüber hinaus auch Berichte, dass die Soldaten versucht haben, mit der Bevölkerung zu kooperieren und an ihrem Leben teilzunehmen. Soldaten waren beispielsweise bei Fronleichnamsprozessionen, es wurden Feste und Tänze ausgerichtet. Und sie haben auch durch symbolische Aktionen – wie etwa die Wiedererrichtung der Brücke in Krems – versucht, Stimmung zu für die bevorstehende Wahl zu machen.

Christian Rapp
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Christian Rapp: „Vieles im Jahr 1945 war vom reinen Überleben geprägt“

noe.ORF.at: In Niederösterreich hat sich in diesen letzten Monaten des Weltkriegs vieles im Kleinen ereignet, was im Großen, in ganz Österreich, der Fall war.

Rapp: Ja, das ist sicher richtig. Wir haben mit Wiener Neustadt jene Stadt, die am meisten zerstört worden ist, mit der Rüstungsindustrie war das im Krieg sicher ein Brennpunkt. Es gab viele Nebenlager des Konzentrationslagers Mauthausen, dann auch diese Todesmärsche im April und im Mai 1945. Aber auch nicht zu vergessen ist das Niederösterreichische Landhaus in der Herrengasse, wo im Herbst 1945 ganz entscheidend wird, dass dieses politische Projekt von Staatskanzler Karl Renner nicht nur eine von den Sowjets unterstützte ostösterreichische Angelegenheit wird, sondern von allen Bundesländern mitgetragen wird.

noe.ORF.at: Es eine Zeit der Parallelen: Einerseits gibt es noch Kriegshandlungen und es sind Besatzungsmächte im Land, aber andererseits war es auch eine Zeit des Aufbruchs. Wie ist es der Bevölkerung damals ergangen?

Rapp: Wenn man das Jahr 1945 nimmt, dann war vieles vom reinen Überleben geprägt. Es war auch die Frage, wer und wo: Auf einem Bauernhof am Land beispielsweise war es anders als in der Stadt. Es ist immer wieder interessant, wenn man sich anschaut, was in kleinen Ortschaften passiert ist. Denn man hat einander ja gekannt, und auf einmal musste der alte Nazi-Bürgermeister gehen. Es mussten alle Nationalsozialisten, die bei der Partei waren, registriert werden, und es ging auch um die Frage, ob diese Personen überhaupt wählen dürfen. Wie geht man damit um? Wie hat man sich verhalten? Es gab ja auch Nationalsozialisten, die sich zumindest erkennbar nichts zuschulden haben kommen lassen. Das war eine ganz schwierige Situation.

Aber mit dem Frieden war zunächst einmal klar: Jetzt ist dieser grauenhafte Krieg zu Ende, jetzt gibt es die Chance, etwas Neues zu machen. Es dauert aber noch, bis die Zuversicht wächst. Es kam dann ja auch noch der strenge Winter 1946/47. Ich würde sagen, es dauert noch bis 1946 oder auch 1947, bis sich abzeichnet, dass es bergauf gehen könnte.