Tatort Gerasdorf
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Chronik

Auftragsmord: Erinnerungen an Fall Israilow

Die Bluttat in Gerasdorf erinnert an den Mord an Umar Israilow. Laut Polizei war es ein Auftragsmord des tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsam Kadyrow. Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger schließt nicht aus, dass es in diesem Fall auch so gewesen sein könnte.

Das im Zusammenhang mit der Bluttat in Gerasdorf bei Wien (Bezirk Korneuburg) an Mamichan U. alias Martin B. (43) vom Samstagabend festgenommene Duo schweigt. Für die Polizei sei die Motivlage weiterhin offen, betonte Roland Scherscher, Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) Niederösterreich, am Montag auf APA-Anfrage – mehr dazu in Bluttat: Opfer mehrfach vorbestraft (noe.ORF.at; 6.7.020). Es könnte ein Streit ebenso vorliegen wie eine politische Handlung, sagte Scherscher. Auch der Politikwissenschaftler Schmidinger von der Universität Wien schließt das nicht aus.

noe.ORF.at: Herr Schmidinger, wie ist dieser Fall nun einzuordnen?

Thomas Schmidinger: Die Tat erinnert sehr stark an den Mord an Umar Israilow 2009. Es ist ja nicht der erste Fall, wo ein tschetschenischer Regimekritiker ermordet worden ist. Damals haben auch die Behörden festgestellt, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Kadyrow, der prorussische Diktator in Tschetschenien, dahinter steckt. Allerdings hat man die Hintermänner nie dafür belangen können. Das heißt jetzt nicht, dass es jetzt dasselbe ist. Aber es ist bekannt, dass der prorussische tschetschenische Diktator hier in Europa Netzwerke hat, die seine repressive Politik weitertragen und die gegen Regimekritiker vorgehen.

noe.ORF.at: Sollte das eine Warnung an alle anderen Regimekritiker sein?

Schmidinger: Solche Mordtaten sind immer auch an ein Publikum gerichtet. Das ist immer auch eine Einschüchterungstaktik gegen die gesamte Community, und es verunsichert natürlich und führt dazu, dass sich Leute zurückziehen und unter Pseudonymen publizieren. Dass es zu einem Verstummen der Regimekritiker kommt, ist allerdings nicht anzunehmen.

Thomas Schmidinger
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Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger im „NÖ heute“-Interview

noe.ORF.at: Wie kann man sich so ein Netzwerk von Tschetschenien ausgehend bis nach Westeuropa vorstellen?

Schmidinger: Es ist gewissermaßen eine Erweiterung der kriminellen Netzwerke, die es auch in Russland gibt. Die Anhänger und Schlägerbanden von Kadyrow haben auch innerhalb Russlands und außerhalb Tschetscheniens immer wieder die „dreckige Arbeit“ für das Regime erledigt. Das wurde in den letzten Jahren auch nach Mittel- und Westeuropa erweitert. Das ist nichts Neues, das ist eine Tätigkeit einer Art geheimdienstlichen Struktur.

Das Problem ist, dass westeuropäische Staaten durch das Ignorieren dieser Strukturen dazu beigetragen haben, dass das möglich ist. In Österreich gab es 2009 bzw. nach dem Mord an Umar Israilow, als es das Gerichtsurteil gab, mehrere Regierungsstellen, die sich wegen eines Wordings koordiniert haben, um Russland nicht zu verärgern. Solange man Angst hat, Russland zu verärgern, wird es kein konsequentes Aufrollen der Strukturen geben.

noe.ORF.at: Orten Sie ein Versagen seitens der Behörden bzw. der Politik? Haben sich das Opfer und der mutmaßliche Täter unter dem Deckmantel des politischen Asyls in Österreich eingeschlichen?

Schmidinger: Das haben einige, weil es eine der wenigen Möglichkeiten ist, in Österreich einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Aber das Regime in Tschetschenien versteht es immer wieder, Leute, die tatsächlich Exilanten waren, gewissermaßen zu kaufen oder zu erpressen, in dem man mit Gewalt gegen Verwandte in Tschetschenien droht. Also es kann durchaus auch sein, dass diese Person nicht eingeschleust, sondern so massiv unter Druck gesetzt wurde, dass sie, obwohl sie Asylgründe hatte, hier zum Instrument des Regimes wurde. Generell muss man das aber von Fall zu Fall prüfen, ob hier ein Versagen der Behörden bzw. der Politik vorliegt.