Margareta Gsandtner
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Wissenschaft

Herbst ’45: „Damals war ich 16 Jahre alt“

1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende, es gibt keine Ostmark mehr, im Herbst wird die Regierung Renner von der Länderkonferenz anerkannt. Eine damals 16-Jährige hat ihre Erlebnisse in ihrem Tagebuch notiert: Margareta Gsandtner aus Tulbing (Bezirk Tulln).

noe.ORF.at: Frau Gsandtner, wie haben Sie den April 1945 erlebt, als in Österreich noch Krieg herrschte, es aber gleichzeitig bereits die Zweite Republik unter Staatskanzler Karl Renner gab?

Margareta Gsandtner: Wir haben am Riederberg in einer Siedlung mitten im Wald gewohnt. Dort haben wir auch das erste Mal Russen gesehen, wie sie auf Pferden vorbeigeritten sind. Dann hörten wir, dass auch auf der Hauptstraße Russen unterwegs waren.

Die ersten Russen, die zu uns kamen, hat der Nachbar geschickt. Er war Schneidermeister. Die Russen hatten einen Ballen Stoff für Uniformen gestohlen. Der Schneider meinte, er sei schon zu alt, er könne ihnen keine Uniformen anfertigen. So schickte er sie zu uns, denn meine Mama, meine Tante und ich waren auch Schneiderinnen. Also machten wir den Russen neue Uniformen. Dafür verpflegten sie uns. Sie stahlen bei einem anderen Nachbarn Hühner, einer von ihnen kochte und so hatten wir zu essen. Sie brannten sehr viel Schnaps, jeden Tag fünf Liter. Und sie gaben uns auch Stamperl mit Schnaps zu trinken.

noe.ORF.at: Welche Erinnerungen haben Sie an die Russen, die bei Ihnen im Haus gewohnt haben?

Gsandtner: Nachdem sie den Stoff für neue Uniformen gebracht hatten, quartierten sie sich auch gleich bei uns ein. Sie schliefen in unserer Wohnung, wir mussten auf den Dachboden und im Heu schlafen. Eine Woche lang waren sie da, dann waren wir mit den Uniformen fertig. Ich weiß heute gar nicht mehr, ob es drei oder vier Russen waren. Sie ließen ihre alten Uniformen bei uns. Damals war es ohnehin eine armselige Zeit, daher wusch meine Mama die schmutzigen Uniformen, und mein Papa trug sie bei der Arbeit.

Margareta Gsandtner Tagebuch
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Aus dem Tagebuch Margareta Gsandtners

noe.ORF.at: Wie haben Sie den Krieg und die Zerstörung erlebt?

Gsandtner: Zerstörung bekamen wir hier am Riederberg nicht mit. Ich ging aber in Wien in der Hütteldorfer Straße zur Schule, dort mussten wir bei Fliegeralarm immer in den Keller gehen. Einmal hörten wir einen Kracher und fielen fast von den Sesseln. Nur zwei oder drei Häuser von der Schule entfernt war eine Bombe niedergegangen.

noe.ORF.at: In Wien herrschte noch Krieg, als Karl Renner am 27. April 1945 bereits die Zweite Republik ausrief. Haben Sie das alles am Riederberg mitbekommen?

Gsandtner: Nein, höchstens durch das Radio. An das kann ich mich aber nicht mehr erinnern.

noe.ORF.at: Woher wussten Sie dann, dass der Krieg zu Ende war?

Gsandtner: Als die Russen kamen, wussten wir, dass keine deutschen Soldaten mehr kommen. Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg für uns aus.

noe.ORF.at: War es für Sie und Ihre Familie eine große Freude zu wissen, dass der Krieg vorbei ist?

Gsandtner: Ja, freilich. Wenn der Krieg aus ist, freut man sich, das ist klar. Nur kein Krieg.

Margareta Gsandtner Tagebuch
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„Grete am Riederberg 1944“: Margareta Gsandtner ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs

noe.ORF.at: Wie haben Sie den ersten Sommer unter russischer Besatzung erlebt?

Gsandtner: Es gab hier ein Gasthaus, in dem sich Russen einquartiert hatten. Sie sagten den Menschen, man könne sich etwas zu essen holen. Sie schlachteten Pferde und gaben den Ortsbewohnern das Fleisch. Es war alles kostenlos, sie verlangten nichts dafür. Und sie verteilten Bohnen, Erbsen und Linsen. Die Leute holten sich ihr Essen von ihnen, denn wir hatten ja noch die Lebensmittelmarken, aber mehr bekamen wir nicht.

noe.ORF.at: Sie waren damals 16 Jahre alt. Es gab ja immer wieder Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten. Wie waren Sie zu Ihnen?

Gsandtner: Ich bin da gut rausgekommen, mir hat keiner etwas getan. Mein Vater konnte nämlich Russisch, weil er während des Ersten Weltkrieges vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war. Einer der Russen sagte zu meinem Vater, er wolle sich nur einmal zu mir ins Bett legen, er würde mir eh nichts tun. Mein Vater antwortete, das komme nicht in Frage. Der Russe gab keine Ruhe und sagte, er würde Schmalz und Mehl bringen. Mein Vater erwiderte, das brauchen wir nicht, das kommt nicht in Frage. Doch der Soldat fragte immer wieder, und einmal begann mein Vater zu weinen, weil er solche Angst hatte. Er bekam einen Weinkrampf, erst dann hörte der Russe auf zu fragen.

Margareta Gsandtner
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„Wenn der Krieg aus ist, freut man sich, das ist klar“

noe.ORF.at: Wie reagierten die Menschen, als sie wussten, dass der Krieg aus ist und das Land nun unter sowjetischer Besatzung steht?

Gsandtner: Einmal in der Nacht, es war im Jahr 1945, klopfte es an der Eingangstür. Meine Mutter öffnete, zwei Russen verlangten nach Wasser. Meine Mutter wollte ihnen Wasser geben. Die beiden traten ins Haus, meine Mutter bekam solche Angst, dass sie aus dem Fenster springen wollte. Einer der beiden Russen sah dies und riss sie herunter. Der andere setzte schon die Pistole an. Da kam mein Vater herein und gab einem der beiden einen Fußtritt. Die Russen verließen das Haus, nahmen aber das Geld meiner Eltern aus der Kassa.

Wir bekamen nach dem Vorfall mit den zwei Russen Angst und wollten im Herbst und im Winter nicht in unserem Haus bleiben. Mein Vater ging zum Bürgermeister und fragte, ob es eine freie Wohnung gäbe. Aus einer war gerade jemand ausgezogen, dort konnten wir eine Nacht verbringen. Dann teilte er uns eine andere Wohnung zu, die eigentlich nur ein einziger großer Raum war. Dort lebten wir zwei Monate.

noe.ORF.at: Nach dem Krieg hofften ja viele, dass Niederösterreich Wien „ernähren“ würde.

Gsandtner: Ja, da kamen die Hamsterer und haben auf den Feldern nach etwas zu essen gesucht, Erdäpfel zum Beispiel. Aber wir hatten das Glück, mein Vater baute Gemüse und Obst an, das war ein Zuschuss für uns.

noe.ORF.at: Warum haben Sie im Jahr 1945 ein Tagebuch geführt?

Gsandtner: Ich habe schon vor 1945 meine Erlebnisse in ein Tagebuch geschrieben, das habe ich aber nicht mehr. Aber bei diesen Ereignissen des Jahres 1945 dachte ich mir, das ist interessant, das kann ich aufschreiben.