Wahllokal 1945
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Wissenschaft

1945: Die erste freie Wahl nach dem Krieg

Am 25. November 1945, also vor 75 Jahren, hat in Österreich die erste Nationalratswahl nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattgefunden. An diesem Tag wurden auch erstmals in der Zweiten Republik in allen Bundesländern die jeweiligen Landtage gewählt.

Es ist der 25. November 1945: Der Zweite Weltkrieg war erst vor etwa sieben Monaten zu Ende gegangen, ein halbes Jahr vor diesem Herbstsonntag wurde die Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs unterzeichnet, am 27. April 1945 hatte die Provisorische Staatsregierung unter Staatskanzler Karl Renner (SPÖ) ihre Tätigkeit aufgenommen.

Doch das Land lag noch immer in Trümmern, erst Schritt für Schritt wurde wieder alles aufgebaut, man lebte mit den Alliierten im Lande. „So langsam hat die ‚Normalität‘ begonnen“, sagt Christian Rapp, Wissenschaftlicher Leiter des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich in St. Pölten. Es sei in diesen Tagen aber auch der Beginn des Nürnberger Prozesses gewesen. „Durch die Berichterstattung darüber haben die Menschen erst eine Vorstellung von den Verbrechen der Nazis bekommen.“

Rapp: „Man hatte das Gefühl, Weichen stellen zu können“

Freie Wahlen waren damals für viele Menschen eine ganz neue Erfahrung, erläutert Rapp: „Für die Menschen war diese Wahl eine Hoffnung. Sie haben auch eine Chance darin gesehen, man hat sehr überzeugt gewählt. Viele durften und konnten davor gar nicht wählen. Menschen, die schon über 30 Jahre alt waren, hatten in ihrem ganzen Leben noch nie gewählt, weil sie in einer Diktatur groß geworden sind.“

Diese Wahl sei auch sehr stark von den Frauen geprägt gewesen, denn mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigten waren Frauen. „Man hat das Gefühl gehabt, dass man mit dieser Wahl Weichen stellen konnte, für das Land und für einen selber“, so Rapp.

Eminger: „Eine neue Ära begann“

Die Nationalrats- und die Landtagswahlen hatten damals im November vor 75 Jahren einen hohen Stellenwert, weil sie für die Bevölkerung nach 13 Jahren wieder der erste demokratische Wahlgang waren, so Stefan Eminger, Leiter der Zeitgeschichteabteilung am Niederösterreichischen Landesarchiv. „Man hat damals gezeigt, dass mit der Zweiten Republik wieder eine neue Ära beginnt. Es wusste zwar niemand, wie es weitergeht, aber es war eine Art Selbstbehauptung, die man mit diesem Wahlgang gesetzt hat.“

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60 Prozent der Wahlberechtigten waren Frauen, die Wahlbeteiligung bei der Nationalratswahl lag bei 93,3 Prozent

Wichtig sei auch gewesen, dass die junge Republik mit der Nationalratswahl und den am selben Tag stattfindenden neun Landtagswahlen „ein demokratisches Zeichen“ setzen wollte, „vor allem gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht“ (Eminger). „Und nach der Länderkonferenz vom September 1945 natürlich auch gegenüber den Westmächten“, so Rapp.

Absolute Mehrheit für die ÖVP im Bund und im Land

Für die Nationalratswahl waren etwas weniger als 3,5 Millionen Österreicherinnen und Österreicher wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag bei 93,27 Prozent. Die ÖVP unter Leopold Figl ging als Sieger aus der Wahl hervor und erreichte eine absolute Mandatsmehrheit (49,8 Prozent der Stimmen, 85 Mandate). Zweiter mit 44,6 Prozent der Stimmen und 76 Sitzen wurde die SPÖ unter Staatskanzler Renner. Die KPÖ blieb deutlich hinter den Erwartungen zurück, sie erhielt 5,4 Prozent, was vier Mandate ergab. Die Demokratische Partei Österreichs (DPÖ) kam auf einen Stimmenanteil von 0,2 Prozent.

In Niederösterreich traten am 25. November 1945 drei Parteien zur Landtagswahl an: ÖVP, SPÖ und KPÖ. Nicht wahlberechtigt waren damals etwa 80.000 Menschen wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Das Ergebnis: Die ÖVP erreichte mit 32 Mandaten (54,5 Prozent) die absolute Mehrheit, die SPÖ kam auf 22 Sitze (40,4 Prozent), die KPÖ auf zwei (5,2 Prozent).

Für die Sowjets ist nach der Wahl „Eiszeit eingekehrt“

Christian Rapp vom Haus der Geschichte: „Man sagt immer, der KPÖ sei angerechnet worden, was die sowjetische Besatzungsmacht in Niederösterreich an Übergriffen verübt hat, also Überfälle, Plünderungen und Vergewaltigungen. Andererseits muss man sagen, dass die KPÖ im Vergleich zu den anderen Bundesländern, wo es keine sowjetische Besatzung gegeben hat, bessere Ergebnisse erzielte: acht Prozent in Wien, vier Prozent in Niederösterreich, in den anderen Bundesländern nur ein bis zwei Prozent.“

Zeitung „Das kleine Volksblatt“
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Die ÖVP holte am 25. November 1945 in sieben Bundesländern die absolute Mandatsmehrheit, der SPÖ gelang dies nur in der Bundeshauptstadt Wien, in Kärnten hatte die SPÖ die relative Mehrheit

Stefan Eminger vom Landesarchiv in Sankt Pölten ergänzt: „Die KPÖ hat sich in Niederösterreich ein besseres Ergebnis erhofft, auch auf Bundesebene. Die Sowjets waren enttäuscht und verärgert. Dieses Wahlergebnis hatte auch Folgen, was das Verhältnis zwischen Landesregierung und Landesverwaltung zur sowjetischen Besatzungsmacht betraf. Hier ist sozusagen Eiszeit eingekehrt.“

„Die KPÖ hat sicherlich mit mehr Stimmen gerechnet“, sagt auch Christian Rapp vom Haus der Geschichte in St. Pölten. „Die KPÖ konnte in der Tat für sich beanspruchen, Hauptträgerin des Widerstands gegen die Nazis gewesen zu sein. Sie hat sich als die antifaschistische Partei schlechthin betrachtet.“ Sie habe auch über ein in vielen Bereichen extrem modernes Programm verfügt, „sprach vor allem die Frauen an und verlangte Gleichberechtigung sowie ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘, also Losungen, bei denen die anderen Parteien wesentlich zurückhaltender waren.“

Zehn Jahre Einfluss und Gewinn durch die USIA

Natürlich habe die KPÖ Unterstützung durch die sowjetische Besatzungsmacht erhalten, etwa durch forcierten Straßen- und Brückenbau, doch „man hat das sehr inkonsequent betrieben. Und es gibt auch geradezu ‚tragische Fälle‘ wie etwa in Ternitz. Dort haben in den letzten Kriegstagen Widerstandskämpfer verhindert, dass die SS das Stahlwerk in die Luft sprengt, aber zu Jahresende 1945 wurde das Werk von den Sowjets demontiert“, erzählt Christian Rapp als Beispiel.

Bereits vor den Wahlen hatte die Sowjetunion als Hauptgeschädigte des Zweiten Weltkriegs die Erdölindustrie in Niederösterreich und die Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft in ihren Besitz übergeführt. „Mitte 1946 übernahm sie das gesamte ehemalige deutsche Eigentum in Niederösterreich und kontrollierte über die sogenannte USIA (‚Verwaltung der sowjetischen Vermögenswerte in Österreich‘) etwa 30 Prozent der gesamten Industriekapazität des Landes. In diesen Betrieben arbeitete zeitweilig mehr als ein Viertel der niederösterreichischen Industriebeschäftigten. Verbunden damit war die kommunistische Durchdringung dieses Industriekomplexes, dessen Belegschaft bei den gewalttätigen Protesten gegen das vierte Lohn- und Preisabkommen 1950 (Oktoberstreik) eine zentrale Rolle spielte“, schreiben Stefan Eminger und Klaus-Dieter Mulley in dem Standardwerk „Ein Land im Zeitraffer. Niederösterreich seit 1848“.

Josef Reither wird erster Landeshauptmann nach 1945

Die erste Sitzung des neuen Landtags fand am 12. Dezember 1945 im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse statt. Zum Landeshauptmann von Niederösterreich wurde Josef Reither gewählt. Der 65-jährige Landwirt aus dem Tullnerfeld war bereits von 1933 bis 1938 Landeshauptmann. Während der NS-Zeit war er mehrere Jahre in Konzentrationslagern inhaftiert. Er blieb bis zur Landtagswahl 1949 Landeshauptmann, ein Jahr später verstarb er.