Der aufgebahrte Kronprinz Rudolf 1889
Josef Szekely
Josef Szekely
Wissenschaft

Kronprinz Rudolf und der „Mythos Mayerling“

Kronprinz Rudolf zählt bis heute zu den rätselhaftesten Mitgliedern des Hauses Habsburg-Lothringen. Am Samstag jährt sich der Todestag des einzigen Sohns von Kaiser Franz Joseph. Vor 132 Jahren erschoss er in Mayerling seine Geliebte Mary Vetsera und beging Suizid.

Kronprinz Rudolf wird von Historikerinnen und Historikern als sensible und psychopathische Persönlichkeit beschrieben. Sein Tod und der seiner Geliebten Mary Vetsera in Rudolfs Jagdschloss in Mayerling (Bezirk Baden) gab seit vielen Jahren Anlass für unzählige Veröffentlichungen, Filme und Fernsehreportagen, der Tatort wurde zu einer Tourismusattraktion ersten Ranges.

Rudolf war vielen zu liberal und zu ungarnfreundlich

Der am 21. August 1858 in Laxenburg (Bezirk Mödling) geborene Kronprinz erhielt schon als Kind auf Anordnung seines kaiserlichen Vaters und dessen Mutter, Erzherzogin Sophie, eine militärische Erziehung. Diese war so rigoros, dass seine Mutter, Kaiserin Elisabeth, sich zum Einschreiten veranlasst sah und ultimativ deren Beendigung verlangte. Ihr Mann gab nach, woraufhin der Kronprinz eine „bürgerliche“ Erziehung genoss, die von großteils liberalen Persönlichkeiten geleitet wurde.

Als junger Mann unternahm Rudolf weite Reisen, beispielsweise nach England und in den Orient. In politischer Hinsicht hatte er eine liberale Einstellung, die ihn in scharfer Opposition zu seinem Vater brachte. Im Gegensatz zu den Deutschliberalen der Monarchie nahm Rudolf eine slawen- und ungarnfreundliche Haltung ein. Deshalb setzten gewisse ungarische Kreise, die sich weitgehend von Österreich emanzipieren wollten, große Hoffnungen in ihn. Hofkreise kritisierten seine Freundschaft mit dem Herausgeber des liberalen „Neuen Wiener Tagblattes“, Moritz Szeps, und mit dem Finanzier Moritz Hirsch. Antisemitische Kreise attackierten ihn als „Judenknecht“.

Morphium, Freundinnen, Alkohol – und dann Mayerling

Seit 1881 war Rudolf mit der belgischen Prinzessin Stefanie, einer Tochter von König Leopold II., vermählt. Sie hatten eine Tochter: Elisabeth Marie, die in ihrem späteren Leben als „rote Erzherzogin“ bekannt wurde. Die Ehe verlief unglücklich, bald gab es Gerüchte über eine bevorstehende Scheidung. Seit 1886 war Rudolf krank: Morphium, zahlreiche Frauenbekanntschaften und auch Alkohol bestimmten sein Leben. Rudolf pflegte eigenwillige Freundschaften – mit dem Fiaker Josef Bratfisch, mit Mizzi Caspar und mit der erst 17-jährigen Baronesse Mary Vetsera. Letztere Freundschaft hatte Gräfin Marie Louise Larisch-Wallersee vermittelt, eine Nichte der Kaiserin.

Kronprinz Rudolf
Sammlung Punkenhof 11
Kronprinz Rudolf

Am 26. Jänner 1889 hatte Rudolf eine Auseinandersetzung mit seinem Vater, der Rudolfs liberale Ansichten und Träume zu dulden nicht bereit war. Einen Tag später übergab er eine Kassette an Gräfin Larisch und verbrachte die Nacht bei Mizzi Caspar. Am 28. Jänner begab sich Rudolf in sein Jagdschloss im Wienerwald.

In der Nacht auf den 30. Jänner kam es dann zu der die ganze Monarchie erschütternden Tragödie von Mayerling. Rudolf erschoss seine Geliebte Mary Vetsera und dann sich selbst. Eingeweiht dürften nur Bratfisch und Kammerdiener Johann Loschek gewesen sein.

Der geschockte Hof versuchte, den wahren Sachverhalt zu vertuschen. Man sprach zunächst von einem Jagdunfall, von Herzschlag sowie von einer Geisteskrankheit des Kronprinzen (eine solche hätte ein christliches Begräbnis zugelassen). Widersprüchliche Meldungen kursierten in der Monarchie und ganz Europa. Rudolfs Mutter Elisabeth trug fortan nur mehr Trauerkleidung, ihren Schmuck verschenkte sie. Ein gemeinsames Begräbnis, wie es sich der Thronfolger gewünscht hatte, gab es jedoch nicht: Der Kaisersohn wurde in der Kaisergruft in Wien bestattet, Mary Vetsera am Friedhof von Heiligenkreuz.

Die vielen „Wahrheiten“ über Mayerling

Hannes Etzlstorfer – Historiker und Kaiserhausexperte – kuratierte in den vergangenen Jahren zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, in Niederösterreich zum Beispiel die Landesausstellung 2013 „Brot und Wein“ (Asparn an der Zaya und Poysdorf) und 2016 auf der Schallaburg „Die 70er. Damals war Zukunft“. Der in Neulengbach (Bezirk St. Pölten) lebende Autor veröffentlichte vor Kurzem das im Kral Verlag erschienene Buch „Kronprinz Rudolf. ‚Alles ist besser als die Wahrheit‘“.

Mary Vetsera
Mayerling, Karmel St. Josef
Baronesse Mary Vetsera

noe.ORF.at: Herr Etzlstorfer, die Liste der bis heute publizierten Bücher über Kronprinz Rudolf sowie über Mary Vetsera und die Tragödie von Mayerling ist lang. Was gibt es da eigentlich noch Neues?

Hannes Etzlstorfer: Ich weiß, dass fast jeder historisch ambitionierte Zeitgenosse seine eigenen Vorstellungen von dieser widersprüchlichen Gestalt der Habsburgerdynastie hat und diese gegen andere Sichtweisen zuweilen sogar verteidigt. Der gewählte Untertitel des Buches, „Alles ist besser als die Wahrheit!“, klingt daher wie eine Provokation, ist aber auf eine Bemerkung Kaiser Franz Josephs zu König Leopold I. von Belgien zurückzuführen, den Vater der unglücklichen Kronprinzessin Stephanie, die ebenso verstört wie ratlos die Tragödie von Mayerling erlebte.

noe.ORF.at: Das Thema Rudolf und der Schauplatz Mayerling sind Ihnen bestens bekannt, denn Sie haben für den Karmel vor ein paar Jahren die Gedenkstätte neu gestaltet.

Etzlstorfer: Ich durfte sie 2014 neu konzipieren, und da ist viel von diesem Wissen in das Buch eingeflossen, was noch in keinem anderem sein konnte: Von den im Juli 2015 im Original wieder aufgetauchten Abschiedsbriefen der Mary Vetsera bis hin zu dem eben erst für Mayerling erworbenen Nachlass von Johann Loschek, den Kammerdiener des Kronprinzen Rudolf und unmittelbaren Zeugen der Bluttat vom 30. Jänner 1889.

Kurator und Autor Hannes Etzlstorfer
Viktor Kabelka
Hannes Etzlstorfer

noe.ORF.at: Warum ist Rudolf als historische Persönlichkeit noch immer so interessant?

Etzlstorfer: Der Grund für die ungebrochene Faszination, die vom Kronprinzen ausgeht, liegt wohl an den vielen Möglichkeiten, sich ihm zu nähern und dabei vielleicht eine neue Facette zu entdecken, die eine Parallele zum Heute erlaubt – egal, ob man ihn als gescheiterten Thronanwärter, als Kirchenkritiker, Feind der Hocharistokratie und zugleich Nutznießer ihrer Privilegien, als Ehemann und Vater sowie als zügellos agierenden und sich dabei verzehrenden Liebhaber, als engagierten, vom Kaiserhaus jedoch verhinderten Wissenschafter, als leidenschaftlichen Jäger und Abenteurer, als arroganten wiewohl auch volksnahen Habsburgersprössling, als verletzlichen, dünnhäutigen und wie auch unberechenbaren und jähzornigen Menschen punzieren möchte.

noe.ORF.at: Ziemlich viel für einen einzelnen Menschen?

Etzlstorfer: Die Vertuschungspolitik am Wiener Hof und die damit ausgelöste Geheimniskrämerei rund um diesen offensichtlichen Doppelselbstmord von Kronprinz Rudolf und seiner Kurzzeitgeliebten Mary Vetsera hat ja offenbar alle sonstigen Leistungen des so vielversprechenden Kaisersohnes zur Nebensache degradiert. Rudolfs Wahrheitsanspruch und Offenheit, die er sowohl von sich selbst, als auch von seiner Umwelt einfordert, steht in krassem Widerspruch zu den Gepflogenheiten am Wiener Hof, der im Sumpf von Intrigen und Standesdünkel unterzugehen droht.

noe.ORF.at: Warum gibt es so viele – fast möchte man sagen, unzählige – Theorien zu Rudolfs frühem Tod in Mayerling?

Etzlstorfer: Begünstigt wurde dieser Legendenwildwuchs rund um den Kronprinzen und seine Geliebte Vetsera durch die Geheimhaltung der Monarchie, wiewohl auch durch Informationen aus sogenannten „bestinformierten Quellen“, ja sogar von „Augenzeugen“. Zu den gängigsten Theorien zählen folgende Versionen:

1. Rudolf habe nicht Selbstmord verübt, sondern sei von einer internationalen Verschwörung ermordet worden. Franzosen und Engländer wollten ihn für einen Putsch gegen Franz Joseph gewinnen, als er ablehnte, sei er umgebracht worden. Rudolf sei demnach ein kaiser- und vatertreues Opfer – sonst nichts. So die Version der letzten österreichischen Kaiserin Zita.

2. Rudolf habe sehr wohl einen Putsch gegen den Vater geplant, worauf die Erzherzöge Karl Ludwig, Albrecht und Wilhelm zwei Offiziere nach Mayerling geschickt hätten. Es sei zum Kampf gekommen, Mary sei durch einen Querschläger getötet, Rudolf hingegen erschlagen worden, da die Munition ausgegangen sei.

3. Rudolf sei in flagranti mit der Frau eines Försters ertappt worden. Dieser Förster namens Bauer habe auf Rudolf geschossen und sich danach erhängt. Als der sterbende Rudolf nach Mayerling gebracht worden sei, habe Mary Selbstmord begangen.

4. Als sich herausstellte, dass die 17-jährige Prinzessin Aglaia Auersperg von Rudolf ein Kind erwarte, sei er von der Familie zur Rede gestellt worden, und es habe ein amerikanisches Duell stattgefunden. Rudolf habe die schwarze Kugel gezogen und musste sich daher innerhalb von sechs Monaten töten. Er habe aber nicht allein sterben wollen, und Mary Vetsera sei ins Spiel gekommen.

5. Rudolf sei von den Brüdern Baltazzi, die ihre Nichte Mary aus Mayerling holen wollten, mit einer Champagnerflasche erschlagen worden. Die Glassplitter seien in Rudolfs zertrümmertem Schädel noch zu sehen.

6. Es sei ein „Sexualunfall“ gewesen.

7. Der Doppelselbstmord sei nur vorgetäuscht gewesen. Die beiden seien dem Kaiserreich entflohen: Mary nach London, Rudolf zuerst nach Russland und dann nach China.

Aufbahrung des toten Kronprinzen Rudolf in der Hofburgkapelle
Sammlung Punkenhof 11
Die Aufbahrung des Kronprinzen in der Hofburgkapelle

noe.ORF.at: Beachtlich! Weshalb wollte Rudolf aus dem Leben scheiden und wie stand er zur doch noch sehr jungen Mary Vetsera?

Etzlstorfer: Die Mayerling-Tragödie wird bis heute auf eine romantisch-sentimentale Liebestodversion verkürzt. Aus heutiger Sicht waren es vor allem seine Schwäche, Verzweiflung und Krankheit (eine venerische Krankheit), die Isolation in der kaiserlichen Familie, am Hof, in der Politik, sowie die zerstörten Hoffnungen auf die Nachfolge auf dem Thron und auf ein friedliches, liberales Europa, die ihm das Leben sinnlos erscheinen ließen. Obgleich sich die Katastrophe vielfach ankündigte, wurde sie von oberster Stelle kleingeredet.

Buchhinweis

Hannes Etzlstorfer: Kronprinz Rudolf. „Alles ist besser als die Wahrheit“. Kral-Verlag, 112 Seiten, 9,90 Euro.

noe.ORF.at: Wie war Rudolfs Verhältnis zur Baronesse Mary Vetsera?

Etzlstorfer: Wer war Mary Vetsera? Nur eine von vielen Affären des Kronprinzen? Ein verwöhntes Kind aus gutem Hause, das – wie sie selber in einem ihrer Abschiedsbriefe schreibt -„der Liebe nicht widerstehen“ konnte? Marie Alexandrine (Mary) Vetsera wird am 19. März 1871 in Wien als drittes von vier Kindern geboren. Ihr Vater ist Diplomat, ihre Mutter Bankierstochter.

Hartnäckig hält sich jedoch das Gerücht, dass Mary Vetsera aus einer Liaison des in Liebessachen umtriebigen Kaisers Franz Joseph mit Helene Vetsera entstamme und somit der Kronprinz ein Halbbruder der Mary gewesen sei. Die Nachwelt reduziert sie auf ihr tragisches Ende in Mayerling, wo sie am 30. Jänner 1889 mit Kronprinz Rudolf in den Tod geht. Und selbst über den Tod hinaus wird ihre letzte Ruhestätte am Heiligenkreuzer Friedhof noch zum Schauplatz von Neugierde und Sensationsgier. Abseits dieser Tragödie liegt hingegen ihr Vorleben bis heute noch vielfach im Dunkeln.

Mayerling fehlen Touristen und Einnahmen

Elf Karmelitinnen leben im Karmel Mayerling und betreuen die Gedenkstätte, die an den tragischen Tod von Kronprinz Rudolf und Mary Vetsera erinnert. Tausende Menschen besuchen jedes Jahr diesen Schicksalsort der Habsburgermonarchie, doch wegen des Lockdowns fehlen derzeit Touristen und Einnahmen.

Schwester Maria Magdalena, die Priorin des Karmel Mayerling: „Es ist für uns sehr schwierig, weil alles ungewiss ist. Wir wissen auch nicht, wie es sich mit den Touristen weiterentwickeln wird" – mehr dazu in Mayerling fehlen Touristen und Einnahmen (noe.ORF.at; 28.1.2021).