Paulus Hochgatterer
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„GANZ PERSÖNLICH“

Hochgatterer: „Die lost generation ist Unsinn“

„Die schaffen das“, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Paulus Hochgatterer über die junge Generation, die in der CoV-Krise groß wird. Der 59-Jährige ist Primar am Klinikum Tulln und Autor zahlreicher erfolgreicher Bücher. Über das Coronavirus will er nicht schreiben.

noe.ORF.at: Herr Hochgatterer, wächst durch die Coronavirus-Krise eine traumatisierte Generation heran?

Paulus Hochgatterer: Das glaube ich überhaupt nicht. Wir sehen momentan beides: Wir sehen Kinder und Jugendliche mit guten adaptiven Möglichkeiten, mit ihrem Repertoire an Anpassungsmöglichkeiten, das manchmal sehr, sehr eindrucksvoll ist und die Anpassungsmechanismen von uns Erwachsenen ja bei weitem übertrifft. Aber wir sehen auf der anderen Seite natürlich Kinder und Jugendliche samt ihren Familien, die mit ihren psychischen Anpassungs- und Abwehrmechanismen beträchtlich überfordert sind.

noe.ORF.at: Einige Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilungen, etwa im AKH Wien, melden einen massiven Andrang. Wie ist das bei Ihnen in Tulln?

Hochgatterer: Es ist bei uns nicht anders. Der Anpressdruck von außen ist in den letzten Monaten ziemlich gestiegen. Es zeigt sich, dass nach einem Jahr Corona und nach mehreren Lockdowns die Resilienzfaktoren in den Familien und bei den Kindern zum Teil zumindest versagen. Das sind dann die Kinder, die vermehrt zu uns kommen.

noe.ORF.at: Was sind die größten Probleme?

Hochgatterer: Es brechen zunehmend die Kontroll- und Stützfaktoren weg. Ich illustriere das am liebsten anhand der magersüchtigen Mädchen und Jungs, die zu uns kommen. Bisher – unter Nicht-Corona-Bedingungen – ist es so, wenn ein Kind, meistens sind es Mädchen, beträchtlich Gewicht verliert, dass irgendjemand da ist, der zu dem Mädchen sagt: Was ist los, geht‘s dir schlecht?

Momentan sind wir in einer Situation, wo diese Möglichkeiten ganz massiv reduziert sind. Die Freunde sind nicht da. Es ist niemand da, der diese Mädchen leibhaftig sieht, und daher findet das nicht statt. Diese Mädchen sind dann angewiesen auf die Einflüsse der Influencerinnen und Influencer im Internet – und die sind gerade in diesem Kontext nicht immer förderlich.

Neben den Essstörungen ist es der große Bereich der depressiven Verstimmungen. Also Kinder, die sich zurückziehen, die ihre Vitalität verlieren, die traurig und isoliert sind und die dann in diesem durch Corona mitverursachten Tunnel manchmal keine andere Perspektive haben, als zu finden, dass das Leben eh keinen Sinn hat.

Paulus Hochgatterer (r.) und Eva Steinkellner-Klein
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„Das ist eine Generation, die eine spezifische Erfahrung gemacht hat, in gewisser Weise werden sie klüger sein, als wir es waren“, sagt Paulus Hochgatterer im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein

noe.ORF.at: Die Belastungen sind also teilweise erheblich. Aber ich höre doch auch eine gewisse Zuversicht heraus, oder?

Hochgatterer: In Bezug auf die Kinder und Jugendlichen, mit denen ich es zu tun habe, bin ich absolut optimistisch. Die schaffen das. Die Rede von der „lost generation“, die da heranwächst, halte ich für unsinnig und für extrem unkonstruktiv.

Das ist keine verlorene Generation. Das ist eine Generation, die eine spezifische Erfahrung gemacht hat, diese Erfahrung werden diese Kinder und Jugendlichen in ihrem Leben einbauen. In gewisser Weise werden sie klüger sein, als wir es waren.

Das wäre ja so, als würden wir von unserer Eltern- und Großelterngeneration von einer „lost generation“ sprechen, weil sie die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gemacht haben. Meine Eltern sind auch einige Zeit nicht in die Schule gegangen – ohne Soziale Medien –, haben dann maturiert und ihre Berufsausbildungen gemacht. Sie waren mitnichten eine verlorene Generation.

noe.ORF.at: Die Krise ist ja nicht für alle gleich schlimm. Manche Eltern müssen mit großem finanziellem Druck kämpfen und geben diesen mitunter an die Kinder weiter. Wieviel halten denn Kinder aus?

Hochgatterer: Kinder halten insgesamt erstaunlich viel aus. Das ist eine Beobachtung, die man nicht nur in der Corona-Pandemie macht. Aber wenn dann die Druckfaktoren von außen ein bestimmtes Maß überschreiten, dann werden die Kinder symptomatisch. Das heißt, wenn besonders wenig Geld da ist, wenn der Vater arbeitslos ist, wenn die Mutter Tabletten nimmt, weil sie nicht mehr anders kann, dann sind das Konstellationen, die die Kinder überfordern.

noe.ORF.at: Was sind Alarmsignale bei den Kindern und Jugendlichen?

Hochgatterer: Das ist momentan wirklich heikel. Üblicherweise sagt man auf so eine Frage, wenn die Kinder ihre Sozialkontakte reduzieren, keine Freunde mehr treffen und sich nur mehr ins Zimmer zurückziehen, dann muss man aufpassen. Jetzt ist es bei vielen Kindern so, dass sie keine Freunde mehr treffen, weil es nicht geht, weil sie nicht dürfen. Daher ist das eine schwierige Frage.

Aber die Regel gilt nach wie vor: Wenn man den Eindruck hat, dass das psychische Repertoire eines Kindes verarmt, die Tochter oder der Sohn nur mehr im Zimmer sitzt und nur mehr auf die Decke oder auf den Bildschirm schaut, dann sollte man unbedingt nachfragen: Was ist los mit dir? Muss ich mir Sorgen machen? Wie geht es dir?

noe.ORF.at: Gerade in der Krise verbringen viele Kinder und Jugendliche viel mehr Zeit mit dem Handy oder dem Tablet. Plädieren Sie da für mehr Strenge oder für mehr Gelassenheit?

Hochgatterer: Jetzt für mehr Strenge zu plädieren, wäre ein bisschen dumm. Denn wir erleben nun, dass die elektronischen Medien die Sache retten. Die Sozialkontakte, die wir physisch nicht mehr stattfinden lassen können, die finden mithilfe der modernen Kommunikationstechnologie statt – und das soll auch so sein. Natürlich soll man das eigene kritische Bewusstsein nicht ausschalten. Es gibt in den Sozialen Medien Einflüsse, die wir alle nicht gut finden, aber es gibt ganz viele konstruktive, lustige und gesund-erhaltende Sozialkontakte.

Paulus Hochgatterer
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Seit mehr als 30 Jahren schreibt Paulus Hochgatterer Bücher, die regelmäßig in den Bestsellerlisten zu finden sind, zuletzt erschienen etwa „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ und „Fliege fort, fliege fort“

noe.ORF.at: Wie war eigentlich Ihre Kindheit?

Hochgatterer: Zunächst einmal coronafrei (lacht). Ich bin am Land, im Mostviertel, aufgewachsen. Natürlich verklärt man das im Alter, aber ich habe meine Kindheit als sehr frei in Erinnerung. Gleichzeitig gab es die Sicherheit eines Regelwerkes, das schon auch Anwendung gefunden hat.

Ich war der Sohn eines Lehrers, der auf der einen Seite gewusst hat, was der Vater von ihm erwartet, auf der anderen Seite die Freiheit hatte, beispielsweise schwarzfischen zu gehen und tagelang und wochenlang durch die Wälder und die Felder zu streifen.

noe.ORF.at: Es war in ja in den 1960er- und 1970er-Jahren schon rauer. Da sind möglicherweise auch die Watschen geflogen?

Hochgatterer: Ja, es war rauer. Bei mir zu Hause sind die Watschen nicht geflogen, aber in der Schule schon. Ich bin Jahrgang 1961. Da gab es das Gewaltverbot in der schulischen Erziehung noch nicht, das heißt, es gab körperliche Reglementierungen in der Schule. Das sind Erinnerungen, die noch immer sehr präsent sind, die mich geprägt haben und die vielleicht auch einen kleinen Anteil daran haben, dass ich Kinderpsychiater bin.

noe.ORF.at: Sie sind ja nicht nur Primar der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tulln, sondern auch Schriftsteller. Warum haben Sie angefangen, Bücher zu schreiben?

Hochgatterer: Das Bedürfnis zu schreiben war schon früh da. Klischeehaft kann man sagen, ich habe einen Vater gehabt, der Deutschlehrer war und es ist mir auch nichts anderes übriggeblieben, als zu schreiben.

Ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich eine Kindheit hatte, die erfüllt war von Geschichten. Ich hatte Eltern, die gerne erzählt haben, ich hatte Onkeln und Tanten, die gerne erzählt haben. Ich habe das geliebt. Während meiner Schulzeit sind dann meine eigenen Geschichten entstanden.

noe.ORF.at: Werden Sie über Corona schreiben?

Hochgatterer: Heute sage ich nein, aber ob ich in einem Jahr das Gefühl haben werde, dass einem eh nichts anderes übrigbleibt, als auch über Corona zu schreiben, das weiß ich nicht. (lacht)

noe.ORF.at: Sie sind Vater eines erwachsenen Sohnes. Ist man als Kinderpsychiater, als Experte quasi für die Kinderseele, der bessere Vater?

Hochgatterer (lacht): Nein, gar nicht. Die gute Nachricht ist, man ist einfach Vater, ganz wurscht, ob man Lehrer, Kameramann oder Journalist ist, man ist Vater, wenn man einen Sohn hat – und das ist gut so.

noe.ORF.at: Haben Sie eigentlich als Psychiater das Bedürfnis oder den Automatismus, ihr Gegenüber zu analysieren?

Hochgatterer: Nein, überhaupt nicht. Wenn man sich als Psychiater mit jemanden ins Kaffeehaus setzt, dann geht es darum, eine angenehme Zeit zu haben und nicht, den anderen zu durchschauen.