Barbara Prainsack
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„Ganz Persönlich“

„Wir müssen die Armut abschaffen“

Die Solidarität in der Gesellschaft ist nach einem Jahr Pandemie ungebrochen hoch, die ungerechte Verteilung der Lasten aber auch – das zeigen zwei aktuelle Studien. noe.ORF.at im Gespräch mit Studienleiterin Barbara Prainsack.

Wie verändert die Pandemie die Gesellschaft? Dieser Frage geht die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack aktuell in zwei Studien nach. Für das „Austrian Corona Panel Project“ sowie für die multinationale Studie „SolPan“ forscht Prainsack mit Kolleginnen und Kollegen zur Meinung der österreichischen Bevölkerung über das Virus, zu Auswirkungen und zur Solidarität in Zeiten der Pandemie. Dabei wirft sie unter anderem einen Blick auf soziale Randgruppen und ungleiche Verteilung, denn die Studien zeigen: Wir sind unterschiedlich stark von dieser Krise betroffen.

„Wir müssen die Armut abschaffen“, ist im Gespräch mit noe.ORF.at ihre Schlussfolgerung aus den gewonnenen Erkenntnissen. Um welche Menschen wir uns Sorgen machen müssen, warum manche Corona-Maßnahmen eher mitgetragen werden als andere und was die Wissenschafterin selbst aus dieser Krise mitnimmt, schildert sie im Interview.

noe.orf.at: „Zurück zur Normalität“, diesen Satz hören wir sehr oft in Zeiten wie diesen. Aber ist das wirklich so erstrebenswert?

Barbara Prainsack: Unsere Studien zeigen, dass sich viele Menschen eine Rückkehr in den Alltag wünschen, aber viele nicht genau den gleichen wollen, aus dem sie rausgekommen sind. Weil der Alltag für viele auch sehr von Stress bestimmt war und gar keine Zeit war, inne zu halten. In unseren Studien zeigt sich, so geht es auch Menschen, die es in der Krise besonders schwer hatten. Was nicht heißt, dass sie sich wünschen, dass es so bleibt. Die Menschen wünschen sich die Rückkehr zu einem Alltag, in dem man den Kopf etwas entspannen kann, nicht jeden Schritt immer durchdenken muss, aber der Wegfall vom sinnlosen Hin- und Herlaufen, der wird durchaus positiv gesehen.

Barbara Prainsack im Gespräch mit Eva Steinkellner
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„Eine wichtige Motivation, sich an Regeln zu halten, ist nach wie vor der Schutz der anderen“, sagt Barbara Prainsack im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein

noe.orf.at: Jetzt sind wir in der fast paradoxen Situation, dass aus epidemiologischer Sicht viel härtere Maßnahmen sinnvoll wären, aber gleichzeitig halten sich viele nicht mehr an die Maßnahmen. Was ist da passiert?

Prainsack: Das lässt sich nicht pauschalieren. Wir sehen in unserer Studie, dass die Maskenpflicht und das Abstandhalten sehr gut eingehalten werden. Es gibt andere Regeln, die schlechter eingehalten werden, das stimmt absolut. Es ist aber nicht so, dass die Leute sagen, mir ist die Krise jetzt wurscht. Es gibt natürlich einige wenige, die sagen, Corona ist nur eine Grippe, das sind ungefähr 16 Prozent, aber es gibt viel mehr, denen das gar nicht wurscht ist, die aber nicht glauben, dass das Maßnahmenpaket effektiv ist. Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie sich nicht abquälen wollen, wenn es anderen immer leichter gemacht wird. Klassisches Beispiel: Wenn man sich einen Skipass leisten kann und ein Auto hat, kann man Skifahren, und ich, so sagen dann die Leute, darf meine Mutter im Nachbardorf nicht sehen. Da bricht sie dann weg, die Bereitschaft zur Einhaltung.

noe.orf.at: Aber sie haben in ihren Studien auch herausgefunden, dass Solidarität nach wie vor eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielt.

Prainsack: Ja, eine wichtige Motivation, sich an Regeln zu halten, ist nach wie vor der Schutz der anderen, zum Beispiel beim Impfen. Man spricht von Impfdränglern, aber die Motivation sich impfen zu lassen ist oft auch, dass man für andere keine Gefahr mehr sein möchte.

noe.orf.at: Bleiben wir gleich beim Impfen. Man hat den Eindruck, die anfängliche Impfskepsis hat sich in einen Impfneid umgewandelt.

Prainsack: Es gibt beides und es gab am Anfang auch beides. Ich denke, dass wir die Impfskepsis am Anfang etwas überinterpretiert haben. Viele Leute möchten beispielsweise auch noch zuwarten. Die Tatsache, dass es am Anfang so eine Konkurrenz gab, zwischen den Ländern und den Pharmafirmen, hat viele Leute dazu bewogen, zu denken, dass muss auf Kosten der Qualität gegangen sein. Das hat sich jetzt verändert, weil es viel mehr Aufklärung gibt. Und der Umstand, dass sich Bürgermeister und andere beim Impfen vorgedrängt haben, hat den Impfstoff für manche Leute noch wichtiger und besser erscheinen lassen, sodass sie sich jetzt auch impfen lassen. Ganz spannend übrigens: Die Coronaimpfung hat etwas mit der Impfbereitschaft gemacht.

noe.orf.at: Könnte der Effekt am Ende der Krise sein, dass die Impfskepsis nachlassen wird?

Prainsack: Ich würde mit einem vorsichtigen ‚Ja‘ antworten. Ich gehe davon aus, dass es diese Tendenz gibt, in Richtung positiver Einstellung beim Impfen. Ich glaube aber nicht, dass es die wirklichen Impfgegner überzeugt.

Barbara Prainsack
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Die Pandemie verschärft ökonomische und soziale Ungleichheiten massiv. „Was uns überrascht hat, ist, wie schnell das gegangen ist“, so Prainsack.

noe.orf.at: Die Krise trifft uns alle unterschiedlich, arm versus reich, Frauen trifft sie anders als Männer, Gesunde anders als Kranke – was macht denn das mit einer Gesellschaft, wenn die Ungleichheit wächst?

Prainsack: Nichts Positives. Was uns überrascht hat, ist, wie schnell das gegangen ist. Es zeigt sich eine Verstärkung der bereits existierenden ökonomischen und sozialen Ungleichheiten und das ist für eine Gesellschaft moralisch und politisch gefährlich. Wir müssen massiv in die Armutsprävention gehen und Armut abschaffen. Das klingt jetzt sehr hausbacken, aber das ist wahrscheinlich die wichtigste Lektion überhaupt und wir dürfen die Klimakrise nicht vergessen. Dadurch, dass jetzt viele Menschen mehr Verbindung mit der Natur haben, auch in der Stadt, ist ihr Bewusstsein gestiegen, auch wenn sie in der Prioritätensetzung etwas nach hinten gerutscht ist. Das bedeutet nicht, dass es den Menschen egal ist. Es bedeutet nur, dass die Lösung der Klimakrise nichts ist, womit sie sich tagtäglich beschäftigen können.

noe.orf.at: Das schwierige an dieser Pandemie ist, dass es keinen Bösewicht gibt. Man kann niemandem die Schuld in die Schuhe schieben. Wohin richtet sich die Wut oder der Frust der Leute?

Prainsack: Das ist ein total wichtiges Thema. Es tut allen weh und niemand ist schuldig. Dieser Frust zeigt sich beispielsweise in Verschwörungstheorien. Das sind so Erzählungen, die die Komplexität reduzieren. Dann ist eine Gruppe von Menschen schuld, und wenn man denen das Handwerk legt, dann ist alles gelöst. Andere richten ihre Wut gegen sich selbst. Und manche werden gegen ihre Mitmenschen aggressiv. Das merkt man ja teilweise an sich selbst. Auch ich ermahne mich manchmal, toleranter zu sein, es gelingt mir nicht immer. Die Verhaltensmuster der Menschen werden verstärkt. Es ist schwierig damit umzugehen, weil die Batterien ja schon leer sind.

noe.orf.at: Was hat die Krise denn mit Ihrem Leben gemacht?

Prainsack: Ich gehöre schon zu denen, die das Zeitgefühl verloren haben. Ich habe es in vielerlei Hinsicht nicht so schwer wie andere, weil ich meinen Job nicht verloren habe und keine Einkommenseinbußen habe. Aber ich möchte eigentlich nicht so wie vorher viele Dinge einfach tun, weil sie auf meiner Liste stehen. Ich möchte mir bewusster überlegen, was wichtig ist. Ich weiß nicht, ob mir das gelingt, aber das wünsche ich mir.

noe.orf.at: Was war die größte Überraschung bei den beiden Studien?

Prainsack: Ich wurde davon überrascht, wer die einsamsten Menschen sind. Es sind nämlich die jungen Frauen. Alle um mich herum haben gedacht, es sind die älteren, alleinlebenden Menschen, die es jetzt übrigens auch sind und um die man sich besondere Sorgen machen sollte. Wenn man allein lebt, nach einem Jahr Lockdown und Beschränkungen, dann kommt da schon auch was zusammen an Isolation. Aber am Anfang waren es die jungen Frauen.

Und das Zweite, was mich überrascht hat, war, wie schnell es ging, dass Menschen, die eh schon benachteiligt waren, weiter benachteiligt wurden. Das heißt, Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss, die schneller ihre Jobs verloren haben, oder auch Einkommenseinbußen unter denen, die ohnehin schon weniger Geld hatten, auch unter Jungen. Es ist einfach sehr, sehr schnell gegangen.

noe.orf.at: Was Hoffnung geben könnte ist, dass in der Vergangenheit Seuchen den Fortschritt beschleunigt haben. Haben Sie diese Hoffnung auch jetzt?

Prainsack: Das sehen wir schon. Wir sehen, dass Dinge, die schon lange gefordert wurden und lange unmöglich waren, jetzt funktionieren, zum Beispiel Rezepte über E-Mail zu schicken. Oder: meine 98-jährige Schwiegermutter facetimed. Aber Fortschritt lässt auch immer bestimmte Leute zurück, und das ist jetzt die Aufgabe in der nächsten Phase, dass wir uns das anschauen: Wie können wir den technologischen Fortschritt gestalten, sodass alle teilhaben können?