Ljuba Avramovic
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Soziales

Sozialhilfenetz fängt nicht jeden auf

Durch die neue Sozialhilfe, die in Niederösterreich am 1. Jänner 2020 in Kraft getreten ist, stehen Personen mit humanitärem Bleiberecht, die nicht arbeiten können, vor dem Nichts. Betroffen sind vor allem kranke und alte Menschen sowie alleinerziehende Mütter.

Ljuba Avramovic wohnt in einer 20-Quadratmeter-Wohnung mitten in Wieselburg (Bezirk Scheibbs). Küche, Bad und WC teilt er sich mit anderen Mietern. Der Serbe ist seit 2006 in Österreich, hatte mehrere Jahre als Koch gearbeitet, später in Gaming (Bezirk Scheibbs) und Wieselburg einen Schnellimbiss geführt, bis er wegen einer Krankheit arbeitsunfähig wurde.

Bis vor gut einem Jahr lebte er von der Mindestsicherung, 920 Euro im Monat, seit Jänner 2020 bekommt er kein Geld mehr. Auch beim Arbeitsmarktservice (AMS) hat er keine Ansprüche, weil seine Beitragszeiten zu kurz waren. Um Wohnung, Essen, Strom und Heizung zu bezahlen, ist der 60-Jährige auf Spenden angewiesen.

„Ich fühle mich ganz schlecht, weil ich immer betteln muss, die Leute anbetteln muss, ‚bitte helfen Sie mir‘, wegen der Wohnung oder um etwas zum Essen. Oft habe ich Hunger, weil ich kein Geld habe, mir etwas zu kaufen. Oder ich koche ganz billige Sachen, die ich mir kaufen konnte, damit ich zu essen habe“, sagt Avramovic.

Vom Anspruchsberechtigten zum Bittsteller geworden

Der 60-Jährige verfügt über das humanitäre Bleiberecht. Dabei handelt es sich um einen Sonderstatus, den der Bund an Flüchtlinge vergibt, die zwar kein Asyl bekommen, aber dennoch als besonders schutzwürdig bzw. gut integriert gelten. Im Modell der Mindestsicherung gab es für diese Personen eine Möglichkeit, Sozialhilfe zu beziehen, obwohl sie nicht zu den anspruchsberechtigten Personen zählen. In der neuen Sozialhilfe gibt es diese Möglichkeit nicht mehr. Herr Avramovic wurde mit der neuen Regelung plötzlich vom Anspruchsberechtigten zum Bittsteller.

Die Caritas unterstützt den 60-Jährigen mit Essensgutscheinen, die Diakonie zahlt mithilfe von Spenden die Miete für die Wohnung, die Stadtgemeinde Wieselburg übernimmt die für ihn so wichtige Krankenversicherung. Auch Wieselburger Vereine engagieren sich. „Man versucht in diesem Fall, so viele soziale Einrichtungen wie möglich an den Tisch zu holen und zu schauen, was kann jeder leisten, um ihm eigentlich Zeit zu verschaffen, in der Hoffnung, dass sich die Gesetzeslage ändert oder dass er eine andere Perspektive bekommt“, sagt Klaus Felgitsch, Sozialberater der Caritas St. Pölten.

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Ljuba Avramovic ist seit Jänner 2020 auf Spenden angewiesen, um die Miete, Essen und Strom bezahlen zu können

Herr Avramovic ist kein Einzelfall. Die Diakonie spricht von bis zu 300 Betroffenen alleine in Niederösterreich. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, denn nicht jeder meldet sich bei einer Einrichtung. „Ich bekomme mit, dass sich hauptsächlich Leute bei mir melden, die nicht arbeiten können, weil sie entweder krank oder alt sind, oder alleinerziehende Frauen, die aufgrund der Kinderbetreuungspflichten nicht arbeiten gehen können und dann im besten Fall von der Familienbeihilfe und vom Unterhalt leben und nicht zusätzlich Sozialhilfe bekommen, sondern irgendwie über die Runden kommen müssen“, sagt Felgitsch.

Sozialministerium sieht „klaren Reformbedarf“

Caritas und Diakonie machen schon seit langem und immer wieder auf das Problem aufmerksam. Das Thema tauchte zudem erst in den vergangenen Tagen wieder auf vielen „Wunschlisten“ auf, die an den neuen Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) addressiert sind. „Eine gute Mindestsicherung statt einer schlechten Sozialhilfe“, wünscht sich die Diakonie, einen „sozialen Comeback-Plan für Österreich“ die Caritas, „es gibt nichts zu warten“, heißt es von der Armutskonferenz.

Armut in Österreich

Knapp 1,2 Millionen Menschen in Österreich waren laut Angaben des Sozialministeriums bereits vor der Pandemie arm, Tendenz steigend. Knapp 60.000 Kinder in Österreich leiden unter „großem Mangel an alltäglich Notwendigem“.

Wenige Tage nach dem Amtsantritt des Ministers stellte noe.ORF.at eine Anfrage, ob eine Reparatur des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes, das im Juni 2019 unter der damaligen ÖVP-FPÖ-Regierung in Kraft getreten war, geplant ist. In einer Stellungnahme heißt es aus dem Ministerium: „Durch die Einführung der Sozialhilfe Neu unter Ministerin Hartinger-Klein wurde das System der Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe massiv umgebaut. Dabei sind Lücken und Härten entstanden, die nunmehr durch die Pandemie noch viel deutlicher zutage treten.“ Man sehe „klaren Reformbedarf“ und wolle „mehr Gestaltungsspielraum für die Länder“, damit diese Personengruppen wieder unterstützt werden können.

Waldhäusl: „Einige wenige Einzelfälle“

Die Sozialreferenten der Länder haben das Problem ebenfalls erkannt und vor etwa einem Monat den Bund einstimmig dazu aufgefordert, das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz zu reparieren. In Niederösterreich ist Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) für das Sozialhilfe-Ausführungsgesetz zuständig. Er bezweifelt, dass es sich um 300 Betroffene im Bundesland handelt, und spricht von „einigen wenigen Einzelfällen“.

„Das ist eine kleine Gruppe“, sagt Waldhäusl. „Die Masse kann am Arbeitsmarkt teilhaben. Ich verlange, dass sie sich daran beteiligen. Humanitäres Bleiberecht heißt nicht durchfüttern bis zum letzten Tag. Wenn jemand nicht arbeiten möchte, ist beim humanitären Bleiberecht auch sichergestellt, dass er Österreich wieder verlassen kann. Für jene Einzelfälle wäre aber Hilfe notwendig.“

Der Bund gibt mit dem Grundsatzgesetz den Rahmen vor, die Länder haben mit ihren jeweiligen Ausführungsgesetzen Gestaltungsspielraum. Eine Sonderlösung für die genannten Härtefälle sei rechtlich nicht möglich, sagt Waldhäusl. Oberösterreich zeigt jedoch, dass es anders geht. Auch dort wurde bereits ein Sozialhilfe-Ausführungsgesetz erlassen. Im Gegensatz zu Niederösterreich erhalten Personen mit humanitärem Bleiberecht, die nicht arbeitsfähig sind, aber auch weiterhin finanzielle Unterstützung. „Wir halten uns an die Gesetze“, sagt Waldhäusl. „Wenn Oberösterreich aus humanitären Gründen eine andere Lösung sucht, dann ist es die Politik von Oberösterreich.“

Avramovic: „Ich bin gefangen“

Ljuba Avramovic steht nun vor der Entscheidung: Er kann in Niederösterreich bleiben, in seinem gewohnten Umfeld, ohne Sozialhilfe und ohne Krankenversicherung, oder nach Wien oder Oberösterreich ziehen. In Wien wurde das Sozialhilfe-Ausführungsgesetz noch nicht erlassen, es gilt nach wie vor das Modell der Mindestsicherung, in dem auch Menschen, die über humanitäres Bleiberecht verfügen und nicht arbeiten können, Sozialhilfe erhalten.

Ein Umzug in ein anderes Bundesland klingt aber einfacher, als er ist. Für eine neue Wohnung ist meist eine Kaution in der Höhe von mehreren Monatsmieten plus eine Maklerprovision fällig. „Ich habe nicht einmal 20 Euro, woher soll ich 1.000 Euro nehmen“, sagt Avramovic. Gleichzeitig ist er sich bewusst: „Die Organisationen haben mir schon so viel mit Spenden geholfen, ich weiß nicht, wie lange sie mir noch helfen können. Ich bin gefangen.“