„Ganz persönlich“

Klimek: „Im Herbst droht vierte Welle“

Der Lockdown hat die Zahlen nach unten gedrückt, Öffnungsschritte sind vertretbar, sagt der Komplexitätsforscher Peter Klimek von der MedUni Wien. Er erwartet einen einigermaßen normalen Sommer, im Herbst dürfte sich die Lage wieder zuspitzen.

Eine neuerliche, aber kleinere Welle im Herbst sei so gut wie fix, sagt Peter Klimek. Er ist assoziierter Professor an der Medizinischen Universität Wien und Fakultätsmitglied des Complexity Science Hub Wien (CSH). Klimek, geboren 1982, promovierte 2010 zum Doktor der Physik und habilitierte sich 2018 in Computerwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Modelle, Prognosen und komplexe Systeme.

noe.ORF.at: Herr Klimek, ist die dritte Welle gebrochen?

Peter Klimek: Sie hat zumindest ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Durch den Lockdown in der Ostregion sind die Zahlen nachhaltig zurückgegangen und die Intensivstationen sind schon langsam entlastet. Auch nach dem Ende des Lockdowns werden die Maßnahmen nachwirken. Anders ist die Situation im Westen Österreichs. Da sieht man, dass die Zahlen ein Plateau erreicht haben. Wir gehen davon aus, dass es mit dem Impffortschritt und mit der Saisonalität auch dort zu einer Entspannung kommt. Wir hoffen, dass sich dort keine starke Dynamik nach oben entwickelt.

noe.ORF.at: Wie wird denn unser Sommer? So wie letztes Jahr?

Klimek: Das sollte schon eine realistische Option sein. Die entscheidenden Faktoren sind, dass wir mit den Öffnungsschritten nicht übermütig werden, ein neuerliches Ansteigen riskieren und den Spielraum für Öffnungsschritte wieder einengen. Aber jetzt scheint die Impfung Fahrt aufzunehmen. Außerdem fällt das Leben mit der Pandemie im Sommer insgesamt leichter, weil sich mehr nach draußen verschiebt. Wir gehen auch davon aus, dass sich das Virus bei mehr UV-Licht eher inaktiviert. Das schöne Wetter hilft einfach.

Momentan geht man davon aus, dass über kurz oder lang neue Virusvarianten auftauchen, die sich anders verhalten und den Schutz, der durch die Impfungen entstanden ist, teilweise umgehen. Ob solche Varianten jetzt schon im Umlauf sind, das ist etwas, was man wissen muss. Wir sehen gerade in Tirol eine Entwicklung mit der Variante B117-E484K, die man im Auge behalten muss. Abhängig davon, ob man das Wachstum von solchen Varianten kontrollieren wird können, sollten wir schon sicherer in den Sommer reinkommen.

Komplexitätsforscher Peter Klimek
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Komplexitätsforscher Peter Klimek: „Je höher die Zahlen, desto mehr habe ich zu tun.“

„Besorgniserregende Variante in Tirol“

noe.ORF.at: Aus der Vergangenheit weiß man, dass wir diese Varianten meistens nicht in den Griff bekommen. Werden wir am Ende mit leeren Händen dastehen?

Klimek: Fakt ist, wenn wir eine hohe Zirkulation von Viren haben, sprich viele Infizierte haben und schon viele Leute geimpft wurden, dann ist das der ideale Nährboden für Varianten, die diese Impfung umgehen können. Denn diese Mischung lenkt die Evolution, die Entwicklung der Viren in diese Richtung. Wir haben es geschafft, die Entwicklung der südafrikanischen Variante frühzeitig abzufangen. Bei der britischen Variante ist es nicht gelungen.

Wir haben aber mit den Impfungen, den regionalen Maßnahmen und den breitflächigen Tests Werkzeuge, die man verwenden kann, bevor man wieder über regionale Lockdowns nachdenken muss. Sollte sich allerdings die Entwicklung mit dieser besorgniserregenden Variante in Tirol fortsetzen, dann muss man da die Schrauben wieder enger drehen. Denn sonst gefährdet man die Öffnungsschritte in Regionen Österreichs, die nicht von dieser Variante betroffen sind.

„Osten hat sich gute Ausgangslage erkauft“

noe.ORF.at: Apropos Öffnungsschritte. Halten Sie die Öffnungsschritte, die im Mai gesetzt werden, für vertretbar?

Klimek: Naja, die Lage ist ja sehr unterschiedlich. Im Osten haben wir uns mit dem Lockdown eine gute Ausgangslage erkauft. Es ist davon auszugehen, dass wir mit den Öffnungsschritten, mit der Rücknahme vom Lockdown, nicht sofort wieder in ein Wachstum gehen, aber die Zahlen werden dann nicht mehr sonderlich schnell zurückgehen. Davon wird man abhängig machen müssen, ob man größere oder kleinere Öffnungsschritte setzen kann.

noe.ORF.at: Aber bereitet man damit nicht den Boden für die nächste Welle? So war es ja in der Vergangenheit: zumachen, aufmachen, nächste Welle.

Klimek: Ich möchte daran erinnern, wie wir es letztes Jahr geschafft haben. Mit dem ersten Lockdown ist es uns gelungen, die Fallzahlen auf ein sehr niedriges Niveau zu drücken, um dann wohldosiert Öffnungsschritte zu setzen, ohne wieder in eine Wachstumsphase reinzukommen. Es war daher sehr sinnvoll, jetzt mit dem Lockdown im Osten die Zahlen runter zu bekommen. Denn dann kann man die Pandemie leichter managen, die Kontaktverfolgung funktioniert dann zum Beispiel besser. Es ist eher problematisch, wenn wir in den Westen schauen. Dort ist der Spielraum für Öffnungen nicht so groß. Man wird sehen, ob man die Situation dort noch drehen kann.

„Werden Herdenimmunität nicht schaffen“

noe.ORF.at: Erwarten Sie im Herbst also die vierte Welle?

Klimek: Dass wir das Virus im Herbst wiedersehen werden, und auch eine kleinere oder größere Welle haben werden, das ist so gut wie fix. Schauen wir uns ganz kurz das Konzept der Herdenimmunität an. Wenn sich genügend geimpft haben, wenn genügend erkrankt sind, dann gibt es nicht mehr genügend Leute in der Bevölkerung, die sich anstecken können, um eine neuerliche Welle entstehen lassen zu können. Wir bräuchten momentan einen Anteil von 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung, der immunisiert ist. Nur ohne einen Impfstoff für Kinder und dadurch, dass sich nicht alle in Österreich impfen lassen wollen, schaffen wir es nicht, diese Herdenimmunität zu erreichen.

Das heißt, das Virus wird dann spätestens im Herbst wiederkommen. Aber es sollte dann gewährleistet sein, dass das alles ein bis zwei Temperaturstufen niedriger gekocht wird. Denn wir haben dann einen größeren Schutz in der Bevölkerung. Es ist also davon auszugehen, dass diese Welle nicht so hoch und stark sein wird. Es wird aber nach wie vor Maßnahmen brauchen, wie die Kontaktverfolgung oder die Schutzmaßnahmen in Risikobereichen, die uns wohl noch länger begleiten werden.

noe.ORF.at: Was ist denn der größte Fehler, der in dem letzten Jahr Pandemie begangen wurde? Wo muss das Pandemiemanagement verbessert werden?

Klimek: Je länger man zuschaut und die Zahlen steigen lässt, desto länger muss man dann auch Gegenmaßnahmen anwenden, um die Zahlen wieder runterzubringen. Es ist besser, mit kürzeren und härteren Maßnahmen möglichst frühzeitig zu agieren. Da sind sich eigentlich alle in der Forschungswelt einig, dass das die beste Strategie ist. Wir sehen das auch im Vergleich mit Ländern, die am besten durch diese Pandemie kommen. Die dulden keine niedrigen Fallzahlen und steuern bereits früher mit schärferen Maßnahmen gegen. Damit können sie gewährleisten, dass viele Leute im Land, wo es keine Ausbrüche gibt, ein normales Leben haben.

Gezielte regionale Maßnahmen statt Lockdowns

noe.ORF.at: Umfragen zeigen, dass die Motivation, sich an die Coronamaßnahmen zu halten, sinkt. Was kann man dagegen tun?

Klimek: Wir müssen über kurz oder lange andere Wege finden als Lockdowns, um diese Pandemie zu managen. Nach mehr als einem Jahr beginnen wir diese Wege endlich zu beschreiten. Das eine ist eine niederschwellige Teststrategie. Das heißt, mehr testen und die Tests in die Wohnzimmer der Leute zu bringen. Es muss ganz normal werden, wenn ich bestimmte Kontakte haben möchte, wenn ich irgendwo hingehen möchte, dass man sich davor testen lässt. Der Gurgel-PCR-Test könnte ein echter Gamechanger werden. Wir haben natürlich die Impfung. Wenn es dann trotzdem zu einem Anstieg kommt, müssen wir mit gezielten regionalen Maßnahmen eingreifen: Stichwort Ausreisetests.

noe.ORF.at: Ist diese Coronavirus-Pandemie für Sie in beruflicher Hinsicht die größte Herausforderung?

Klimek: Fachlich nicht. Die Mathematik, wie sich die Infektionskrankheiten ausbreiten, ist sehr gut entwickelt. Die Herausforderung war natürlich in erster Linie, dass diese Arbeit sehr stark ins öffentliche Vergrößerungsglas gekommen ist. Also normalerweise ist es so, wenn Politiker zu Wissenschaftlern kommen, dann ist häufig die Entscheidung schon gefallen, und sie wollen eine rationale wissenschaftliche Begründung für die Entscheidung haben. Jetzt in der Pandemie wusste aber einfach niemand, was auf uns zukommt. Die Wissenschaft war in einer Art und Weise in den politischen Prozess eingebunden, der einfach nicht normal war, und damit umzugehen war eigentlich die größte Herausforderung.

Komplexitätsforscher Peter Klimek
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Peter Klimek im Gespräch mit ORF-NÖ-Redakteurin Eva Steinkellner-Klein

Erholung durch Handy ohne Internet

noe.ORF.at: Wie schaut Ihr Arbeitsalltag aus? Ich nehme an, Sie haben mehr zu tun?

Klimek: Die Arbeitslast korreliert stark mit den Infektionszahlen. Je höher die Zahlen, desto mehr habe ich zu tun. Dann muss man halt auch am Abend und an den Wochenenden arbeiten.

noe.ORF.at: Sie haben zwei Kinder, die sind im Kindergarten. Wie schaut denn Ihre Work-Life-Balance aus?

Klimek: Man versucht natürlich immer, Zeit freizuhalten. Was ich zum Beispiel gemacht habe ist, dass ich kein Smartphone mehr verwende, wenn ich zu Hause bin, sondern ein Handy, mit dem ich nicht im Internet surfen kann. Dann hat man gleich viel mehr Zeit für die Familie.

noe.ORF.at: Herr Klimek, wo werden wir denn in fünf Jahren stehen? Können Sie das berechnen?

Klimek: Berechnen kann man das nicht, nur darüber spekulieren. Die meisten Pandemien sind nach ein bis zwei Jahren ausgelaufen. Ob das jetzt bei der auch so sein wird, weiß in Wahrheit kein Mensch. Wir gehen nicht davon aus, dass man dieses Virus auslöschen kann. Wir müssen einen Weg finden, es so zu kontrollieren, wie wir andere endemische Krankheiten kontrollieren.

Es ist sehr gut möglich, dass sich das Coronavirus zu jenen Arten von Krankheiten dazugesellen wird, die wir überwachen müssen. Es ist möglich, dass es bessere und schlechtere Jahre gibt. Das wird davon abhängen, wie gerade der Impfstatus in der Bevölkerung ist oder was für eine Variante dominant ist. Aber insgesamt wird so ein großer Schutz in der Bevölkerung da sein, dass wir nicht mehr zu Lockdowns greifen müssen, um die Situation in den Griff zu bekommen.