Ludwig Wittgenstein
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Kultur

Wittgenstein: Philosoph und Schullehrer

Vor 70 Jahren ist der weltberühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein in England verstorben. Zwischen seiner Studienzeit und seiner späteren Professur in Cambridge war er Volksschullehrer in der Buckligen Welt. Eine Spurensuche im Bezirk Neunkirchen.

„Die Welt ist alles, was der Fall ist“, so beginnt der weltberühmte „Tractatus Logico-Philosophicus“ von Wittgenstein. Und diese Welt ist in den Jahren 1920 bis 1926 für Wittgenstein eine bucklige Welt. Denn in Trattenbach und Otterthal bei Kirchberg am Wechsel (Bezirk Neunkirchen), in der „Buckligen Welt“ an der Grenze zwischen Niederösterreich und der Steiermark, arbeitete der später weltberühmte Philosoph als Grundschullehrer. Es war ein Auf und Ab für ihn als Pädagoge, die Kollegen und Kolleginnen, die Schülerinnen und Schüler und deren Eltern.

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Trattenbach in historischer Aufnahme
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Die Landbevölkerung, etwa in Trattenbach, kam kaum mit Wittgenstein zurecht
Kinder-Schulschreibbank
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Eine Schulschreibbank aus der damaligen Zeit
Ludwig Wittgenstein
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Das Katzenskelett des Lehrers Wittgenstein
Ausschnitt aus dem Wörterbuch für Volksschulen
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Auch dieses Wörterbuch fertigte Wittgenstein an
Ludwig Wittgenstein
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Kirchberg am Wechsel

„Ich bin jetzt endlich Volksschullehrer und zwar in einem sehr schönen und kleinen Nest, es heißt Trattenbach. Die Arbeit in der Schule macht mir Freude“, schrieb er am Anfang seiner Lehrtätigkeit in einem Brief. In den Schulen von Otterthal und Trattenbach ist auch hundert Jahre danach Ludwig Wittgenstein als Grundschullehrer im Namen der Schule in Gedenktafeln und im Unterricht präsent. 70 Schülerinnen und Schüler soll er damals in einer gemeinsamen Klasse in Trattenbach zu unterrichten gehabt haben. Auch heute wird die Schule einklassig geführt: „Ja, das funktioniert wunderbar, nur die Schüleranzahl hat sich seit damals stark verändert. Heute besuchen 19 Schülerinnen und Schüler die Wittgenstein-Volkschule“, erzählt Silvia Stögerer, die Direktorin, im Gespräch mit noe.ORF.at.

Von Watschen und Kopfnüssen

Die Schüler und Schülerinnen erlebten den 31-jährigen hochgebildeten Mann und Junglehrer sehr unterschiedlich. „Die schlechten Schülerinnen und Schüler hatten den Lehrer Wittgenstein in schlechter Erinnerung“, erinnert sich Ernst Schabauer. Er hatte als ehemaliger Bürgermeister betagte ehemalige Schüler Wittgensteins noch gekannt und befragt. „Sie berichteten von Kopfnüssen und Watschen und von gefürchteten Schlägen mit dem Rohrstaberl“, fährt er in seinen Erinnerungen fort.

Wittgenstein-Volksschule Trattenbach
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In Trattenbach erinnert der Name der Volksschule an den prominenten Lehrer

Die Innsbrucker Philosophie-Professorin Ilse Somavilla von der Wittgenstein-Gesellschaft beschreibt den Junglehrer Wittgenstein als emotionalen und leidenschaftlichen Menschen, sensibel und angespannt. Sehr oft sei ihm dann das Temperament mit ihm durchgegangen. Es gibt aber auch Zeitzeugenberichte von ehemaligen Schülern, die besagen, dass sie von ihm weniger Watschen erhalten hätten als von Lehrerkollegen.

Mit dem Gehstock den Breitengrad bestimmt

„Die guten Schüler haben den Lehrer Wittgenstein gelobt und sind Zeit ihres Lebens stolz darauf gewesen, von Ludwig Wittgenstein unterrichtet worden zu sein“, erzählte Ernst Schabauer weiter. Die begabten und wissbegierigen Kinder förderte er. Er fertigte selbst Unterrichtsmaterial an. So präparierte er ein Katzenskelett und unternahm mit den Kindern zahlreiche Ausflüge. „Einmal erwanderten er und die Kinder einen Berg und versuchte dann mithilfe seines Gehstock und dem Stand der Sonne den Breitengrad zu bestimmen. So war sein überraschender Unterricht“, ergänzt Ilse Somavilla.

Gedenktafel an der Schule in Ottenthal
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Auch die Schule in Otterthal würdigt den Philosophen

Mit den Interessierten unternahm er auch Ausflüge bis nach Wien. Bei der Rückreise musste die Gruppe spätabends von Gloggnitz bis Trattenbach einen zweistündigen Fußmarsch in Kauf nehmen. Es gab kein Nachsitzen sondern Förderunterricht am Nachmittag für die Begabten, oftmals sehr zum Unmut der Eltern, die die Kinder ja als Arbeitskraft am Hof einsetzten oder brauchten. Wittgenstein verfasste in Trattenbach ein Wörterbuch für Volksschulen. Neben dem Tractatus ist dies sein einziges abgeschlossenes Buch. Das Phänomen Sprache war ihm in beiden Werken wichtig.

Der schrullige, unnahbare Dorflehrer als Eremit

Bei den Dorfbewohnern galt er als schrullig, seltsam oder unnahbar. Wittgenstein verstand die Landbevölkerung so wenig wie sie ihn. Er aß nicht im Gasthaus, er redete nicht mit den Menschen, denen er trotz der selbst gewählten Armut wie ein reicher Baron erschien. Im Jahr 1923, während seiner Lehrtätigkeit in Puchberg am Schneeberg, überarbeitete er die englische Übersetzung des Tractatus. Warum ließ er sich überhaupt in der buckligen Welt nieder? Es waren die niederschmetternden Erfahrungen im Ersten Weltkrieg.

Er war stark vom Lebenskonzept Tolstois tief beeindruckt, dessen schmaler Band über das christliche Evangelium ihm die Grausamkeiten des Krieges überstehen half. „Er war, wie man heute sagen würde, in einer Lebenskrise und suchte verzweifelt nach Klarheit, Reinheit, Askese in einer bescheidenen aber sinnvollen Tätigkeit in ganz ländlichen Verhältnissen“, heißt es in einem Artikel des Deutschlandfunks. Wittgenstein verschenkte sein immenses Erbe an seine Geschwister und schloss eine Lehrerausbildung in Wien ab.

1926 beendete die blutende Wunde eines Schülers nach einer Ohrfeige die Lehrerlaufbahn Wittgensteins. Er kehrte für kurzer Zeit nach Wien zurück. Dann setzte er seine Studien in Cambridge fort. Sein Tractatus wurde als Doktorarbeit anerkannt und seine Karriere als berühmter Philosoph begann. „1930 oder 1931 kehrte Wittgenstein noch einmal nach Trattenbach und Otterthal zurück, um sich bei einigen Schülern für sein grobes Verhalten zu entschuldigen“, rückt Ilse Somavilla die Geschichte um den Pädagogen Wittgenstein wieder ein wenig zurecht. „Das Leben ist nirgends leicht.“ Diesen Satz schrieb Wittgenstein im Juli 1923 an seinen Freund, den Mittelschullehrer Ludwig Hänsel.