Marktplatz
ORF NÖ/Steindl
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Kultur

Ein 500 Jahre alter Wehrturm „atmet“

Dem 500 Jahre alten Wehrturm der Burg in Perchtoldsdorf (Bezirk Mödling) ist zum Jubiläum mit einer Kunstinstallation neues Leben eingehaucht worden. Die Künstlerin Nilbar Güreş verpasste dem Wahrzeichen Airbags, die Schutz und Atem symbolisieren.

„Die Welt ist in Ordnung, wenn der Wehrturm noch steht“, so denken viele Perchtoldsdorfer und Perchtoldsdorferinnen, wenn sie nach einer Reise zurückkommen und die mächtige Burg am Marktplatz wieder sehen. Der 60 Meter hohe Wehrturm, dieses wuchtige spätmittelalterliche Bauwerk im Zentrum der Gemeinde, ist heute Wahrzeichen und wichtiges Symbol für die kommunale Identität. Dieser Turm hatte einst eine andere Funktion: Er sollte die Bürger vor Feinden beschützen.

Diese historische Funktion griff die Künstlerin Nilbar Güreş in ihren Assoziationen zur Kunstaktion in Perchtoldsdorf auf: „Der Turm bot der Bevölkerung zweimal Schutz während der osmanischen Belagerung. Gerade bei der zweiten Belagerung ist er dann arg beschädigt worden. Ich habe mich gefragt, wie ich den Turm schützen könnte, ohne dass jemand verletzt werden würde. Denn normalerweise würden aus diesen schmalen Turmfenstern Männer mit Waffen auf ihre Feinde zielen. Und so ist der Turm mit diesen Airbags auf ‚freundliche‘ Weise geschützt. Das ist mir als antimilitaristische Künstlerin sehr wichtig.“

Turm mit weißen  „Airbags“
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Zwei der drei Airbags ragen aufgeblasen aus den Wehrturmfenstern

Ein Turm „atmet“ mit den Menschen mit

Der zweite wichtige Aspekt dieser vielschichtigen Installation ist die Funktion des Atmens. „Atem“ heißt auch die Arbeit von Nilbar Güreş. Aus drei Fenstern des Turms füllen sich Atem-Blasen aus Ballonseide in einer Größe von vier Mal fünf Metern in regelmäßigen Abständen mit Luft und entleeren sich wieder. Der Turm scheint zu atmen. In einer begleitenden Broschüre der Abteilung Kunst im Öffentlichen Raum des Landes Niederösterreich heißt es: „Die textilen Objekte in Form von drei überdimensionalen Airbags verbinden auf poetische Weise zwei zentrale Aspekte des Turms. Zum einen bezieht sich der atmende Turm auf die animistische Annahme von der Beseeltheit der Dinge.“

Diese Gedanken ließen sich in Güreş eigener kurdisch-alevitischer Kultur finden, in der es einer in allen Dingen innewohnende, unsichtbare Kraft gibt, die Brücken herstellen kann zu Gefühlen, Wünschen und der eigenen Identität. Auf den Turm übertragen heißt es, dass die Künstlerin mit den Atembewegungen die lebhafte Bedeutung des Bauwerkes für die Menschen unterstreicht. Denn atmen heißt leben.

Künstlerin Nilbar Güres im Gespräch
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Künstlerin Nilbar Güreş am Fuße des Turms beim Interview.

Künstlerin mit vielen Auszeichnungen

Nilbar Güreş lebt in Wien und Istanbul. Sie hat an der Akademie der bildenden Künste in Wien und an der Marmara Universität in Istanbul studiert. Sie hat zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten. Ihre Arbeiten waren unter anderem in Amsterdam, Wien, Karlsruhe, Malmö, Paris und New York zu sehen. Aktuell sind von ihr Arbeiten im Kunsthaus Wien und im Kunsthaus Biel in der Schweiz zu sehen.

Das Atmen, und da insbesondere wieder das freie Atmen, gehört seit einem Jahr des – notwendigen – Maskentragens zu einem heftig herbeigesehnten ‚normalen‘ Leben. Das Atmen ist unter der FFP-2-Maske zu einem bewussteren Akt geworden, wenn die Maske sich mit jedem Atemzug mit bewegt. Auch so lässt sich vom Betrachtenden die künstlerische Intervention lesen: Der Turm „atmet“ mit uns mit.

Kunst in der Öffentlichkeit wirkt unmittelbar

Kunst im öffentlichen Raum hat eine lange und erfolgreiche Geschichte in Niederösterreich, denkt man an aufsehenerregende Projekte wie den „Schlürfbrunnen“ in Staatz (Bezirk Mistelbach) des Künstler-Kollektivs gelitin oder die „Wachauer Nase“ in Rossatz-Arnsdorf (Bezirk Krems). „Das ist ein kleines Universum, das sich da in Niederösterreich über die Jahrzehnte aufgebaut hat“, freut sich Katrina Petter, die Leiterin der Abteilung „Kunst im öffentlichen Raum“ der Kulturabteilung Niederösterreich. Bei der „Wachauer Nase“ zeige sich, dass sich die anfänglichen Diskussionen in der Region doch in eine Art Stolz auf die Skulptur gewandelt hat.

„Der öffentliche Raum ist ein umkämpfter Raum. Gerade zu den öffentlichen Räumen haben wir alle eine bestimmte Beziehung. Es ist unser alltäglicher Raum, unser Alltag, und wenn sich da etwas verändert, dann irritiert uns das natürlich im ersten Moment. Somit ist natürlich Kunst im öffentlichen Raum oft mit Auseinandersetzung verbunden. Kunst im Freien hat also hohes Potenzial. Im schlimmsten Fall gewöhnt man sich dran, aber es wird vielfach doch als Bereicherung empfunden“, führte Katrina Petter bei der Eröffnung am Dienstagabend weiter aus.